-
Par metanoia1 le 11 Février 2011 à 21:50
GÉRARD DE SÈDE
Die Templer sind
unter uns
ODER
DAS RÄTSEL VON GISORS
MIT 13 ABBILDUNGEN IM TEXT
UND 16 TAFELN
ULLSTEIN
Die französische Ausgabe dieses Buches erschien unter dem Titel
›LES TEMPLIERS SONT PARMI NOUS OU LENIGME DE GISORS«
im Verlag Rene Julliard, Paris. Deutsch von Liselotte Julius
Photos von Daniel Lefebvre. Zeichnungen von Pierre Plantard
Dokumentation von Margit Rowell und Sophie de Sède
VERLAG ULLSTEIN GMBH • BERLIN • FRANKFURT/M • WIEN
Umschlag und Einbandentwurf von Wolfgang Dohmen
© 1962 by Rene Julliard, Paris
Alle deutschen Rechte bei Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin
Printed in Germany, Berlin West 1965 • Gesamtherstellung Druckhaus Tempelhof
»Der Herr, dem das Orakel zu Delphi gehört,
sagt nichts – und birgt nichts, sondern er bedeutet.«
HERAKLIT
Erster Teil
DER ALTE MANN UND DIE ERDE
»Laßt uns suchen wie jene, die finden
müssen, und laßt uns finden wie jene,
die noch suchen müssen.«
AUGUSTINUS
Wenn ich nicht nach zehn Jahren journalistischer Tätigkeit beschlossen
hätte, mich eine Zeitlang mit Landwirtschaft zu beschäftigen,
wäre ich nie auf die Spur des Templerschatzes gestoßen.
Diese Feststellung mag seltsam klingen. Ich werde sie erklären
müssen. Zum Glück beginnt mit dieser Erklärung aber bereits die
weitaus seltsamere Geschichte, für die ich den Leser gewinnen
möchte.
Im Jahre 1959 züchtete ich also Schweine. Eines Morgens stellte
sich ein Knecht vor, der Arbeit suchte. Er kam zu Fuß aus der
Normandie. Ein Rucksack enthielt seine kümmerlichen Habseligkeiten.
Sein Alter sprach gegen ihn, seine offensichtliche Notlage
und jenes gewisse Etwas, das Vertrauen einflößt, jedoch für ihn.
Ich will nicht heucheln. Über seine Einstellung entschied weniger
mein Mitleid oder mein gutes Herz, sondern meine Neugier.
Ich sollte es nicht bereuen.
11
EIN EXORZIST IM STALL
Ich sehe Roger Lhomoy noch vor mir, wie er sich am Morgen
seiner Ankunft mit den Ellbogen auf den weißen Zaun stützte.
Der Tabak, den er mit den großen Händen zerkrümelte, dürfte
schon seit Tagen sein Hauptnahrungsmittel gewesen sein. Doch
er war wortkarg. Die Selbstachtung verbot es ihm, als lästiger
Bettler zu erscheinen.
Er war einundfünfzig, wirkte aber wie ein guter Sechziger.
Das weiße Haar, die hohe Stirn, das zerfurchte Gesicht, die spärlichen
Zähne, die durch ein fortgeschrittenes Emphysem hervorgerufene
Kurzatmigkeit – all das zeugte von einem selbst für
seine robuste Natur allzu harten Leben. Seine stahlgrauen Augen
allerdings blickten hart und offen: die Augen eines Mannes, der
seine Aufgabe zu Ende führt. Auf dem Land fehlt es nie an
Arbeit. Roger saß also noch am selben Tag an unserem gemeinsamen
Tisch. In der ersten Zeit brachte er die Zähne nicht auseinander.
Ich erkannte bald, daß der alte Mann seine Angst vor Schweinen
mühsam beherrschte. Eines Tages machte ich darüber eine
scherzhafte Bemerkung.
»Man kann nie wissen«, erwiderte Lhomoy ebenfalls lachend.
»Vielleicht sind es die Dämonen aus dem Evangelium, die Jesus
in Schweine verwandelt hat. Wissen Sie«, fuhr er fort, »in dem
Fall würde ich mir nichts daraus machen, sie wegzujagen.«
Und er begann zu meiner größten Verblüffung das Exorzistat
(1a) auf lateinisch zu zitieren.
»Woher haben Sie denn das, Roger?«
12
»Das ist ganz einfach«, erklärte er gelassen. »Heute bin ich
Stallknecht bei Ihnen, aber früher war ich Seminarist. Ich habe
sogar die niederen Weihen empfangen. Sie wissen doch sicher,
daß dazu das Exorzistat gehört.«
An jenem Tag wollte ich nicht näher darauf eingehen. Doch
das war der Beginn einer ungewöhnlichen Geschichte, die ich ihm
zunächst Stück für Stück entreißen mußte. Und selbst als Roger
Lhomoy sie beendet hatte, ahnte ich nicht im entferntesten, wohin
sie mich führen würde.
Nun kann niemand ein außergewöhnliches Abenteuer besser
erzählen als derjenige, der es erlebt hat. Und so hatte ich vor,
Lhomoy selber die ersten Seiten dieses Buches schreiben zu lassen.
Wenn er es nicht getan hat, so deshalb, weil er es nicht konnte.
Roger Lhomoy ist nämlich kein gescheiterter Intellektueller, sondern
im Gegenteil ein rauher, ungeschliffener Bauer. Es gelang
ihm zunächst, sich emporzuarbeiten. Dann aber stürzte er viel
tiefer hinab als zuvor. Er hat die positive Einstellung des ländlichen
Menschen und zeigt zumindest keinerlei Neigung für Abstraktionen.
Das Latein, das er zitiert, ohne es wirklich zu können,
gehört zu den vielfältigen unzusammenhängenden Kenntnissen,
die er dank seines wachen, jedoch völlig durchschnittlichen Verstandes
im Laufe seines bewegten Lebens aufzulesen vermochte.
Übrigens bedauert er selber seine mangelhafte Bildung. Dieser
knappe Umriß seiner Persönlichkeit wird später das Verständnis
dafür erleichtern, daß man ihm gewisse Motive und Kenntnisse
nicht unterschieben kann.
Damals, als er sich auf das friedliche Dasein eines bescheidenen
Landpfarrers vorbereitet, setzt sich in Roger Lhomoy ein Gedanke
fest, der den Verlauf seines Lebens von Grund auf verändern
soll: unter der mittelalterlichen Burg, die hoch über seiner Geburtsstadt
Gisors liegt, ist ein sagenumwobener Schatz vergraben.
Und den will er finden.
Ein verrückter Gedanke. Tatsächlich hat nur der Volksglaube
die Burg mit einem geheimnisvollen Nimbus umrankt. Eine uralte
Sage berichtet, daß Königin Blanka in Gisors belagert wurde,
die feindlichen Reihen durchbrach und sich in die benachbarte
13
Burg von Neaufles flüchtete. Diese wurde nun die ganze Nacht
hindurch umzingelt. Als man sie jedoch am Morgen stürmte, war
die Königin verschwunden. Bald darauf tauchte sie wieder in
Gisors auf und schlug die Angreifer in die Flucht. Es gab also
eine unterirdische Verbindung zwischen den Burgen von Neaufles
und Gisors. Die Sage berichtet ferner, daß in diesem längst verschütteten
unterirdischen Gang ein Schatz verborgen ist, der durch
hermetisch verschlossene Eisengitter geschützt wird. Nur einmal
im Jahr könne man an diesen Schatz gelangen: am Heiligen
Abend während der Mitternachtsmesse, und zwar, wenn der Priester
den Stammbaum Jesu vorliest. Dann öffnen sich die Eisengitter,
schließen sich aber sofort danach wieder.
Ein verrückter Gedanke also, und dennoch ist Lhomoy nicht
verrückt. Was hat nun den Fünfundzwanzigjährigen, der bereits
über die Hälfte seiner Vorbereitung auf den Priesterstand hinter
sich hatte, dazu veranlaßt, auf eine sorgenfreie Zukunft zu verzichten
und sich völlig einer Aufgabe zu widmen, die jeder nur
für das Hirngespinst eines Geisteskranken halten kann?
Es ist nicht leicht, diese Frage zu beantworten. Um so schwieriger,
als Lhomoy in diesem Punkt stets äußerste Zurückhaltung
gewahrt hat, auch nachdem ich sein volles Vertrauen gewonnen
hatte. Setzt man ihm mit diesem Thema zu, so antwortet er aus
Höflichkeit. Doch seine Erklärungen sind ausweichend und wechseln
ständig.
Wie dem auch sei, Lhomoy läßt niemandem gegenüber etwas
von seinem phantastischen Vorhaben verlauten. Er bereitet einen
reiflich durchdachten Plan vor, dessen Durchführung Zeit kosten
wird. Systematisch macht er sich daran, ihn etappenweise zu verwirklichen.
Er entsagt dem Priesterstand, ohne Skandal zu verursachen
oder sich die Sympathien des Klerus zu verscherzen, und läßt
eine angemessene Frist verstreichen, ehe er sich verheiratet. Die
Liebe zu seinen zwei Kindern überdauert alle späteren Belastungen.
Geduldig reicht er wiederholt Gesuche ein, um die einzige
Anstellung zu erhalten, die ihn völlig legal und sozusagen als
Herrscher an den Ort seiner Sehnsucht bringen kann. 1929 stellt
14
die Gemeinde von Gisors Roger Lhomoy, geboren am 17. April
1904, als Kastellan, Führer und Gärtner für die Burg ein, die
Eigentum der Stadt ist.
EIN RUHIGER GÄRTNER
Lhomoy liebt Gärten und weiß, was ihnen guttut. Für einen
Bauern, der schwere Arbeit gewohnt ist, bedeutet die Gärtnerei
ein Vergnügen. Man kann dabei nachdenken, der Körper ermüdet
nicht. Das kleine Beamtengehalt wird durch die Trinkgelder der
Fremden aufgebessert, so daß der Haushalt gut geführt werden
kann. Frau Lhomoy hat sogar eine Aufwartefrau. Die Wohnung
ist hübsch. Sie liegt in einem alten runden Turm. Lhomoy ist
beinahe zum Bürger geworden und führt die Besucher voller
Besitzerstolz herum.
Kurz, er hat einen festen Beruf und ein glückliches Familienleben.
Siebzehn Jahre geht alles geruhsam und unauffällig so
weiter. Und doch ist das nur Fassade. Wenn er zögert, seinen
Plan in die Tat umzusetzen, so deshalb, weil er sich noch im
unklaren darüber ist, wo er beginnen soll.
Erst Anfang 1944 nimmt Roger Lhomoy seinen großen Kampf
auf.
Für die Einwohner von Gisors ist die Burg ein angenehmer
Aufenthalt. Die Ringmauer umgibt die Gartenanlage mit ihren
Bänken, Rasenflächen, großen Bäumen. Tagsüber stricken hier
Frauen und spielen Kinder. In der Dämmerung kommen dann
die Liebespaare. Am Sonntag kann man den Wehrturm besteigen,
von dem aus man an klaren Tagen mit dem Fernglas Montmartre
sieht, denn Paris ist nur siebzig Kilometer entfernt. Aber bei
Kriegsbeginn wurde der Zutritt zur Burg für das Publikum verboten.
»Dieser Umstand begünstigte meine Pläne sehr«, erzählt Lhomoy
heute. »Ich konnte sicher sein, daß meine Arbeit nicht durch15
vorzeitige Neugier zunichte gemacht wurde. Und Mut brauchte
ich! Hundertmal war ich soweit, aufzugeben. Das gewaltige Ausmaß
meines Vorhabens erdrückte mich. Zum Glück glaubte ich
bedingungslos an den Erfolg.«
Der Glaube versetzt Berge, heißt es im Evangelium. Für den
ehemaligen Seminaristen war das nicht nur eine rhetorische Floskel.
Er war vielmehr dadurch imstande, tatsächlich Berge von
Erdreich zu versetzen. Roger vollbrachte im Innern der Erde eine
Heldentat, die jedes Fassungsvermögen übersteigt.
Von nun an kann ein gut verborgener Neugieriger den matten
Schein einer Laterne wie ein Irrlicht durch die Gänge der verschlafenen
Burg flattern sehen. Es ist Lhomoy, der sich nach dem
letzten hastig verschlungenen Löffel Suppe und nach einem immer
flüchtigeren Kuß auf die Stirn seiner Frau an die Arbeit begibt.
Drei Jahre lang geht er Nacht um Nacht zum Wehrturm und
gräbt dort. Seine ganze Ausrüstung besteht aus einem Spaten,
einer Spitzhacke, einer Kabellampe, einer alten Winde und einem
Korb, mit dem er Erde und Schutt wegschafft.
Auf dem Hügel hinter der Ringmauer des Wehrturms ist links
von der Tür ein uralter Brunnen. Von dort aus wird er die Wahrheit
ergründen, meint Lhomoy. Der Brunnen ist seit langem bis
zum Rand verschüttet. Er legt ihn frei, dringt zehn Meter tief
hinunter, dann zwanzig, dann dreißig. Jeden Abend gelangt er
mit dem geknoteten Seil etwas tiefer in den engen Schacht, der
ohne Grund zu sein scheint. Ein Schlag mit der Spitzhacke, eine
Schaufel voll Erdreich, der gefüllte Korb wird mit der verrosteten
Winde hochgezogen, Lhomoy klettert hinterher, leert den Korb
aus, steigt wieder hinunter. Abermals ein Schlag mit der Spitzhacke
... Das Loch ist jetzt so tief wie ein sechsstöckiges Haus.
Eines Abends wäre beinahe ein Unglück geschehen.
Ganz unten sind die Steine abgebröckelt und legen eine Art
Ausbuchtung frei. Ob wohl ein Vorgänger, vielleicht vor Jahrhunderten,
den Weg zu dem Schatz gefunden und ihn womöglich
geraubt hat? Voller Sorge tastet sich Roger weiter: die Ausbuchtung
endet in einer Sackgasse. Beruhigt will er umkehren. Da
stürzt das überhängende Erdreich über ihm zusammen. Um
16
Haaresbreite entgeht er dem Schicksal, hier begraben zu werden.
Aber es ist immer noch schlimm genug – er hat sich ein Bein
gebrochen. Wenn er um Hilfe ruft, würde man ihn nicht hören.
Außerdem will er sich nicht bemerkbar machen, denn das hieße,
sein Geheimnis verraten. Doch in diesem Loch langsam dahinzusterben,
diesem Symbol seiner jahrelangen, nunmehr sinnlos
gewordenen Arbeit, der bloße Gedanke daran hilft ihm, seine
letzten Kräfte zu sammeln. Zentimeter um Zentimeter arbeitet
er sich mit zusammengebissenen Zähnen an seinem geknoteten
Seil empor.
Kaum genesen, hat er alle Mühsal vergessen und macht sich
eilig wieder an sein Werk. Er hat zuviel gesunden Menschenverstand,
um gegenüber dieser Warnung des Schicksals taub zu
bleiben. Deshalb läßt er den Brunnen, wo ihm beim ersten falschen
Hackenschlag der sichere Tod droht, in Ruhe und beginnt
jetzt fünfzehn Meter vom Brunnenrand entfernt zu graben. Sein
Handwerkszeug ist dasselbe geblieben. Nach wie vor arbeitet er
nachts, denn bei Tag muß er weiterhin den pflichttreuen Kastellan
und Gärtner spielen.
Nach der bitteren Erfahrung wird Lhomoy vorsichtiger. Er
gräbt jetzt ein größeres, sich nach unten trichterförmig verengendes
Loch. Aber ohne Wetterschacht, sogar ohne Stützbalken, vor
allem aber ohne Wache und Hilfe im Notfall, bleibt ihm auch
so nur das Gefühl einer trügerischen Sicherheit. Doch er gibt sich
damit zufrieden, so sehr hat ihn der Ehrgeiz gepackt. Im Juni
1944 ist er sechzehn Meter unter der Erde. Hierher dringt der
Lärm der alliierten Invasion kaum. Der Abzug der Deutschen,
die so sehr hinter Buntmetallen her waren, veranlaßt ihn jedoch,
sein selbstauferlegtes Schweigen zu brechen. Er zieht einen Jugendfreund
ins Vertrauen, Lesenne, der später sein Nachfolger als
Kastellan wird. Einige Wochen lang hilft ihm Lesenne. Er wird
Zeuge von Lhomoys erster Entdeckung: einem kleinen unterirdischen
Raum von ungefähr vier mal vier Meter Größe. Ein
Archäologe wäre auf einen solchen Erfolg bereits stolz gewesen.
Aber für Roger, der einen Schatz sucht, ist das nur eine Kleinigkeit.
Der Raum ist völlig leer und führt auch nirgendwohin.
17
Nachdem er ihn seinem Freund unter dem Siegel der Verschwiegenheit
gezeigt hat, schüttet er ihn wieder zu und nimmt seine
Suche von neuem auf.
Roger beginnt nun aus wer weiß welchen Gründen, einen
waagerechten Stollen zu graben. Dieser führt vom Grund des
neuen Loches aus in Richtung auf den Brunnen, wo er zuvor
schon beinahe den Tod gefunden hätte. Es ist ein enger Gang
von fünfzig Zentimeter Durchmesser, den er nur flach auf dem
Bauch liegend weiter ausheben kann. Eimer um Eimer kratzt er
die Erde zusammen, schafft sie dann rückwärts kriechend bis zum
Grund des vertikalen Trichters und hißt sie mit Hilfe eines einfachen
Seilzuges sechzehn Meter empor. In diesem wahren Rattengang
kann er sich nur ganz langsam und vorsichtig bewegen,
weil kaum Luft hereinkommt. Außerdem droht bei der geringsten
falschen Bewegung die Gefahr eines elektrischen Schlages. Denn
das Kabel seiner Behelfsbeleuchtung ist von der Feuchtigkeit angefressen,
so daß der Draht größtenteils frei liegt, der leichtsinnigerweise
an die Starkstromleitung im Schloß angeschlossen
ist. Die geringste Ungeschicklichkeit bedeutet unausweichlich den
Einsturz. Dennoch erreicht der Stollen bald eine Länge von neun
Metern.
Zweimal habe ich diesen unwahrscheinlichen Teil von Roger
Lhomoys abenteuerlichem Unternehmen mit angehört. Zuerst
aus dem Mund des Helden selber, der sich die Füße an einem
hell flackernden Holzfeuer wärmte. Doch seine Worte besaßen
nicht die Kraft, seine Erlebnisse wirklich plastisch darzustellen.
Mein skeptisches Naturell vermutete, daß sich bei ihm in der
Erinnerung die Proportionen des Ganzen gewaltig verschoben
hatten. Das zweite Mal hörte ich einen Augenzeugen: Emile
Beyne, ehemaliger Pionieroffizier, war in bezug auf unterirdische
Stollen immerhin Fachmann und trug im Artilleriefeuer erworbene
Orden. Er verhehlte durchaus nicht, mit welcher Angst er
den Spuren Lhomoys in diesem Labyrinth gefolgt war.
Seit jenem Tag glaubte ich ihm auf s Wort. Denn ich kam selber
müde und erschöpft aus einem Teil der furchteinflößenden Unterwelt,
die Roger Lhomoy mit bloßen Händen geschaffen hatte.
18
DIE SAGENHAFTE KRYPTA
Hinter dem scheinbaren Wahnsinn trägt das Unternehmen Roger
Lhomoys immer die Merkmale eines durchaus vernünftigen Planes.
Zunächst verwischt er stets alle Spuren, die seine Arbeit vorzeitig
verraten könnten. Wenn als Preis eines solchen Kampfes ein
Schatz winkt und das ruchbar wird, kann man sich leicht ausmalen,
daß man nicht lange allein bleiben wird. Mit viel Mühe
tarnt er nach jeder Arbeitsnacht die Öffnung des Trichters. Die
ausgehobene Erde verteilt er sorgfältig. Das wird allmählich
schwierig, da er bisher bereits fünfzig Tonnen Erdreich gefördert
hat.
Allerdings treibt er die notwendige Geheimhaltung nie so weit,
daß er die rechtliche Seite außer acht läßt. Er hat bei der zuständigen
Behörde, dem Staatssekretariat der Schönen Künste,
eine schriftliche Genehmigung beantragt und erhalten, im Bereich
einer als historisches Denkmal klassifizierten Burg Ausgrabungen
zu machen. Doch diese Genehmigung allein genügt nicht. Er
braucht auch noch die der Stadt Gisors, der das Terrain gehört.
Bevor er also Höhlenforscher auf eigene Faust spielt, geht er
zum Bürgermeister, einem Bekannten. Dieser macht aus seiner
Skepsis kein Hehl, gibt Lhomoy aber trotzdem »grünes Licht«
und verspricht ihm, alles Nötige zu veranlassen, wenn seine
Arbeit doch zufällig eine Entdeckung bringen sollte.
Man muß zugeben, daß all das für einen einfachen Gärtner
nicht schlecht eingefädelt ist. Wohlverstanden hat Lhomoy weder
dem Staatssekretariat der Schönen Künste noch dem Bürgermeister
gegenüber auch nur das geringste von einem Schatz verlauten
lassen, sondern nur von archäologischen Ausgrabungen gesprochen.
Es ist mittlerweile März 1946 geworden. Der Stollen, an dem
er wie ein Galeerensträfling gearbeitet hat, enttäuscht Rogers
Hoffnungen: er führt nirgendwohin. Doch seine Hartnäckigkeit
ist nicht gebrochen. Er beginnt, diesen Stollen durch einen neuen
vertikalen Schacht zu verlängern. Er arbeitet jetzt mit nacktem
Oberkörper. Natürlich weiß er, daß er sich damit seine Gesund19
heit ruinieren wird, und bei dem Sauerstoffmangel hat er das
unerträgliche Gefühl, zu ersticken. Innerhalb einer Stunde muß
er mehrfach hinauf an die frische Luft. Entweder weil er beinahe
ohnmächtig wird, oder er muß seine Kabellampe reparieren. Er
kann sie keinen Augenblick entbehren, denn in dieser Tiefe brennen
die Kerzen, mit denen er ausgerüstet ist, nicht mehr. Seit
langem hat er Spaten und Spitzhacke weggetan. Der Schacht ist
zu eng, als daß sie ihm noch helfen könnten. Er gräbt mit bloßen
Händen und benutzt eine Brechstange. Sie ist handlicher, und er
kann damit Gesteinsbrocken lösen, die weiter unten immer zahlreicher
werden.
Dieser letzte Schacht wird nie mehr als vier Meter tief. Es
fehlen noch einundzwanzig Zentimeter daran, als eines Abends ...
Doch hier müssen wir Roger selbst das Wort erteilen, weil
niemand außer ihm das erblicken sollte, was er nun sah:
»Meine Brechstange stößt auf Stein. Ich achte nicht darauf,
denn ich arbeite bereits über zehn Stunden in einer Kieselschicht
und bewege mich nur mehr wie ein Automat. Mechanisch beseitige
ich den Lehm mit den Händen, um diesen großen Felsbrocken
freizulegen. Aber bei der Berührung zeigt sich, daß er
glatt ist: kein Zweifel, es handelt sich um einen behauenen Stein.
Daneben ist noch einer und dann ein weiterer. Ich bin auf eine
Mauer gestoßen. Wenn es mir gelingt, auch nur zwei dieser Steine
herauszubrechen, habe ich gewonnen. Das Loch wäre dann zum
Hindurchkriechen groß genug. Die Fugen sind nicht zementiert.
Das ist ganz normal, da es sich um eine alte Mauer handelt. Es
genügt, die Steine mit der Stange zu lockern und sie dann herauszustemmen.
Das kostet Zeit, aber ich spüre keinerlei Müdigkeit
mehr. Ich lege den ersten Stein frei wie einen großen Zahn und
kann jetzt den danebenliegenden mit der Hand wegnehmen.
Mein Kopf geht durch, die Schultern ebenfalls – die Lücke reicht.
Doch ich sehe überhaupt nichts. Das Kabel meiner Lampe liegt
aufgerollt zwei Meter hinter mir. Ich habe nicht die Geduld,
zurückzukriechen. Also stoße ich einen lauten Schrei aus, um mir
Gewißheit zu verschaffen. Das Echo, das ihn zurückwirft, ist so
stark, daß ich vor Schreck zusammenfahre. Dann erfaßt mich
Freude – hier ist ein Raum, ein sehr großer Raum. Man kann
sich vorstellen, daß ich meine Kabellampe im Handumdrehen
holte und schleunigst über die Mauer kletterte.
Nie werde ich vergessen, was ich dann gesehen habe. Es war
ein phantastischer Anblick. Ich bin in einer romanischen Kapelle
aus Louveciennes-Steinen. Sie ist dreißig Meter lang, neun Meter
breit und etwa viereinhalb Meter hoch bis zum Schlußstein des
Gewölbes. Gleich links vor mir neben dem Loch, durch das ich
gekommen bin, ist der Altar. Zu meiner Rechten liegt der übrige
Teil des Baues. In halber Höhe der Wände sind lebensgroße
Statuen von Christus und den zwölf Aposteln auf Steinkonsolen.
Auf dem Boden an den Wänden stehen Steinsarkophage von
zwei Meter Länge und sechzig Zentimeter Breite: neunzehn im
ganzen. Und im Schiff fällt der Schein meiner Lampe auf etwas
Unglaubliches: dreißig Truhen aus kostbarem Metall, die in
Zehnerreihen aufgestellt sind. Das Wort Truhen genügt nicht -
man müßte vielmehr von liegenden Schränken sprechen. Jeder
dieser Schränke ist zweieinhalb Meter lang, einen Meter achtzig
hoch und einen Meter sechzig breit.« (Tafel VI, oben.)
Lhomoy ist zweifellos ein vorsorglicher Mensch. Aber wenn er
hundert Fuß unter der Erde durch enge Gänge, die einer Katze
Angst einflößen würden, kriecht, belastet er sich nicht mit Vermessungsgeräten.
Deshalb mißt er jetzt die märchenhafte Krypta
mit großen Schritten aus. Doch ein Mensch vom Lande, der noch
dazu Gärtner ist, hat ein untrügliches Augenmaß. Für ihn sind
fünfundzwanzig Zentimeter mehr oder weniger keine Kleinigkeit.
Roger läuft nicht Gefahr, daß ihn sein Gedächtnis im Stich
läßt. Was er einmal mit eigenen Augen gesehen hat, vergißt er
auch nicht. Außerdem kann er sich auf sein Augenmaß verlassen.
Jetzt kann er ruhig wieder hinauf an die frische Luft. Heute ist
die Nacht noch nicht zu Ende. Zum erstenmal seit langem kann
er schlafen.
21
WEHE DEN SIEGERN!
Am nächsten Morgen erwacht Roger als neuer Mensch. Ohne
Übergang ist er aus einem Alptraum in eine Märchenwelt versetzt
worden. Er glaubt fest daran, daß die Truhen in der unterirdischen
Kapelle mit Gold vollgepfropft sind. Und da er nicht zu denen
gehört, die von großen Autos, Kasinos und Kreuzfahrten träumen,
sieht er sich bereits als Besitzer eines schönen Hofes in der
Normandie mit gut hundert Hektar Land, vollen Scheunen und
Ställen. Vor allem kann er jetzt seinen beiden Kindern eine Ausbildung
und Mitgift geben, die seinem Ehrgeiz entspricht.
Das alles ist durchaus nicht abwegig. Seiner Meinung nach hat
er ja sämtliche Vorsichtsmaßnahmen ergriffen und sich restlos gedeckt.
Er besitzt Genehmigungen und hat zu keinem Menschen
von dem Schatz gesprochen. Über diesen Punkt hat er sich bereits
seit langem bei einem Rechtsanwalt informiert. Er weiß, daß der
Finder eines Schatzes auf einem Gebiet, das einem anderen gehört,
seinen Anteil daran nur beanspruchen kann, wenn er ihn
durch reinen Zufall entdeckt hat. Das erklärt auch das Mißtrauen,
mit dem er heute noch Fragen begegnet, wieso er zu seinen Ausgrabungsarbeiten
gekommen ist. Er ist der festen Überzeugung,
daß sein gesetzmäßiger Anteil an dem Fund ein Drittel beträgt.
In erster Linie aber fühlt er sich befreit. Seit Jahren hat er
unter einer Erstickungspsychose gelitten. Sein Körper war in die
beklemmenden unterirdischen Gänge eingezwängt, auf seiner Seele
lastet sein Geheimnis. Und so entgeht ihm selbst die einfache
Freude, die auch der ärmste Vagabund genießt: im hellen Tageslicht
zu leben. Doch von jetzt an hat dieser Zustand ein Ende.
Roger verläßt sein Haus leichten Herzens und von Gewißheit
erfüllt. Er geht die ersten Schritte eines Weges, der ihn bis zu
den Markthallen von Paris führen wird, als einsamen, elenden
Clochard.
Sein erster Besuch gilt der Bürgermeisterei. Mit falscher Bescheidenheit,
deren Wirkung er wohl berechnet, erstattet er den
Gemeindevätern Bericht über seinen Fund. Er ist im richtigen
22
Augenblick gekommen, am großen Sitzungstag. Sogar ein
Departementsrat ist anwesend. Alle hören Roger mit einer Aufmerksamkeit
zu, in der er keinerlei Bosheit entdeckt.
»Sie machen keine Witze?« fragt man ihn. »Bestimmt nicht?
Dann wollen wir gleich zum Wehrturm gehen.«
Gesagt, getan. Roger frohlockt. Vor dem Erdloch erläutert er
den Herren, die ernst die Köpfe schütteln, sein Vorgehen. Er
spricht von seinen behelfsmäßigen Mitteln, von den überstandenen
Gefahren, den schlaflosen Nächten und schließlich von
seinem Erfolg. Bis in die kleinsten Einzelheiten beschreibt er die
phantastische Krypta, die jahrhundertelang verborgen lag, und
die er mit einem Schlag aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt hat.
Ein Stadtrat löst sich von der Gruppe, weist mit ernster Miene
auf den gähnenden Abgrund und sagt zu den anderen:
»Ich stelle Ihnen hiermit das Werk eines Narren vor.«
»In diesem Augenblick habe ich den Kopf abgewandt und die
Zähne zusammengebissen, damit sie mich nicht weinen sehen«,
erzählt Roger.
Doch er fängt sich rasch wieder. Sie werden schon sehen, ob er
verrückt ist! Vor allem muß er sich die Wahrheit seiner Behauptungen
bestätigen lassen. Das ist wichtig für die Wahrung seiner
Rechte. Er geht also in Gisors herum und erzählt jedem, der es
hören will, von seinem Abenteuer. Aber die Normannen sind
von Natur aus mißtrauisch. Was ist denn in den sonst so verschlossenen,
schweigsamen Kastellan gefahren? Woher nimmt er
nur diese unglaubliche Ausgrabungsgeschichte, ausgerechnet er, der
in den ganzen siebzehn Jahren noch nie zu jemand über dergleichen
gesprochen hat? Er ist amüsant, und man möchte ihm
gern ein Glas anbieten, aber wenn er mit seiner Erzählung zu
Ende ist, kommt meist dieselbe Frage:
»Du bist nicht zufällig Blaiseau begegnet?«
Blaiseau dArdent ist eine Sagengestalt der Gegend: der Mann
ohne Kopf, der in den keltischen Steindenkmälern wohnt und
sich bei Nacht damit vergnügt, Reisende irrezuführen. Im Scherz
gibt man ihm die Schuld, wenn Männer wegen eines Mädchens
oder eines Kruges Calvados die Nacht außer Haus verbringen.
23
Lhomoy ist keineswegs um Antwort verlegen. Was er gesehen
hat, kann jeder andere auch sehen, wenn er nur will. Die Ungläubigen
brauchen nur in sein Erdloch hinunterzusteigen, und
zwar am liebsten sofort. Er begleitet sie gern.
Als sie vor dem schwindelerregenden Krater, den Roger gegraben
hat, stehen, vergeht ihnen die Lust zu lachen. Doch haben
sie ebensowenig Lust zum Selbstmord. Wer will sich schon in
einem Korb an einem morschen Seil in diesen gefährlich tiefen
Schacht hinunterlassen, wo man nicht weiß, ob man lebend
wieder herauskommt?
Trotzdem finden sich zwei Freiwillige. Der eine ist Marcel, der
Bruder Rogers. Ein bedächtiger Mann, der seinen Weg im Leben
gemacht hat. Er ist Gemeinderat in einer großen Ortschaft an der
Bannmeile von Paris, Hausbesitzer und Geschäftsmann. Nicht
ohne Schwierigkeiten zwängt er sich in den senkrechten Schacht.
Doch als er dreizehn Seilknoten vor dem Grund ankommt, muß
er aufgeben. Die Einsturzgefahr ist zu groß. Als er mir später
von seinem Versuch berichtet, betont er nachdrücklich, daß er
Rogers Entdeckung keinen Augenblick angezweifelt hat.
Der zweite Freiwillige ist Emile Beyne. Der ehemalige Pionieroffizier,
von dem bereits die Rede war, ist jetzt Kommandant
der Feuerwehr von Gisors. Ein turnerisch gewandter Mann und
zudem ein gewissenhafter Zeuge. Er gelangt bis auf den Grund
des senkrechten Schachtes und riskiert bei jeder Bewegung sein
Leben, als er die neun endlosen Meter des Querstollens hindurchkriecht.
Es verbleiben noch die letzten vier Meter des zweiten
Schachtes. Aber er kommt nicht bis zum Ende, sondern muß sich
damit zufriedengeben, Steine dorthin zu werfen. Er stellt fest,
daß ein Echo erschallt. Er erklärt Lhomoys Behauptung zwar
nicht für falsch, aber er kann auch nicht sagen: »Ich habe es ebenfalls
gesehen«; denn die Luft wird zu knapp, und es wäre zu
gefährlich, um jeden Preis weiterzumachen.
Innerhalb weniger Stunden ist Lhomoy merklich im Kurs gestiegen.
Eines braucht er bestimmt nicht zu befürchten: totgeschwiegen
zu werden. Die ganze Stadt erörtert bald das Für
und Wider der Angelegenheit.
24
Er macht sich das zunutze, geht abermals in die Bürgermeisterei,
zeigt die Genehmigung vom Staatssekretariat der Schönen Künste
vor und erinnert an die früheren Versprechungen. Dabei vergißt
er, daß sich in den letzten drei Jahren einiges ereignet hat. Gisors
hat einen neuen Magistrat, der sich keineswegs an die Zusicherungen
seiner Vorgänger gebunden fühlt. Lhomoy erhält die
einigermaßen überraschende Antwort:
»Wer hat Ihnen überhaupt erlaubt zu graben? Sie hatten keine
schriftliche Genehmigung der Stadt. Sie haben sich einer Denkmalsbeschädigung
schuldig gemacht. Das bedeutet Ihre sofortige
Entlassung. Das Erdloch wird umgehend wieder zugeschüttet,
mag ein Schatz unten sein oder nicht. Doch Sie sollen sehen, daß
wir gute Stadtväter sind. Wir erlassen Ihnen die Kosten.«
Nun sitzt Roger Lhomoy auf der Straße. Aber es geschieht
noch Schlimmeres: seine Frau, die Nacht für Nacht wegen des
Schatzes vernachlässigt worden ist, hat genug von ihm. Sie verläßt
ihn und nimmt die beiden Kinder mit.
Und am selben Tag schüttet eine Gruppe von deutschen Kriegsgefangenen
auf Befehl der Gemeinde das in tausendundeiner
Nacht gegrabene Erdloch in ein paar Stunden wieder zu.
Von jetzt an teilt Roger das Schicksal von Hemingways altem
Fischer, der sein ganzes Leben lang einem großen Fisch nachjagt,
am Schluß nur ein Skelett fängt und langsam darüber stirbt.
ZWEI MÄZENE UND EIN MAULWURF
Eine Zeitlang beugt sich Lhomoy unter den wiederholten
Schicksalsschlägen, doch nach einem weiteren richtet er sich
wieder auf.
Was er einmal aufs Geratewohl getan hat, kann er ohne
weiteres wiederholen. Er weiß ja jetzt, wo dieser dunkle Weg
mündet. Was fehlt ihm eigentlich? Die formelle Genehmigung
der Stadt. Also reicht er schriftlich darum ein.
25
Der Sekretär des Bürgermeisters läßt ihn nicht lange warten.
Seine Antwort ist in einem Ton abgefaßt, wie man ihn selten in
behördlichen Mitteilungen findet:
»Ich verbiete Ihnen ausdrücklich, Ihre verrückte Nachtarbeit
fortzusetzen. Sie können sich glücklich schätzen, daß noch keine
Maßnahmen für Ihre Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt
ergriffen worden sind. Dies könnte Ihnen jedoch in Zukunft
sehr wohl geschehen.«
Die Prophezeiung trifft nicht ein. Lhomoy ist geistig völlig
gesund und bleibt in Freiheit. Aber er verläßt nach dieser Demütigung
bedrückt seine Geburtsstadt.
Mit seiner »verrückten Nachtarbeit« jedoch befaßt sich der
Stadtrat eigenartigerweise zur gleichen Zeit in zahlreichen Sitzungen,
deren Protokolle sich noch in den Archiven befinden.
Davon kann Roger nicht leben. Er ergreift hundert Berufe und
lernt tausendfältiges Elend kennen. In seinem mittlerweile so
wildbewegten Leben bleibt nur ein fester Punkt: der unerschütterliche
Glaube an seinen Enderfolg.
Ohne Geld, ohne Hilfsmittel, ohne alles vermag der Umherirrende
immer noch zu überzeugen. Er gewinnt zwei Geschäftsleute
in Versailles dafür, einen Hotelbesitzer und einen reichen
Industriellen. Mit Hilfe des Kredits, den sie ihm gewähren, wird
1952 eine Forschungsgesellschaft gegründet. Roger füngiert darin
sozusagen als Erfinder, der Hotelier als technischer Berater und
der Industrielle als geschäftsführender Unternehmer.
Es werden Aktenstücke mit Gesuchen und den dazugehörigen
Dokumenten angelegt. Ein technischer Zeichner wird beauftragt,
einen genauen Plan der unterirdischen Kapelle anzufertigen. Da
er nie den Fuß dorthin gesetzt hat, hat er nur die mündlichen
Angaben von Lhomoy zur Verfügung. Diese sind allerdings sehr
genau. Während er mit dem Zeigefinger auf unsichtbare Truhen
weist, mit den Augen die imaginären Sarkophage und mit großen
Schritten die Wände ausmißt, erlebt Roger vor seinen faszinierten
Mitarbeitern noch einmal jene phantastische Nacht.
Nach Erhalt der Unterlagen schickt das Staatssekretariat der
Schönen Künste unverzüglich eine neue Ausgrabungsgenehmigung.
26
Diesmal tut die Stadt Gisors dasselbe, knüpft jedoch mehrere
Bedingungen daran.
Die meisten sind durchaus berechtigt. In Gisors denkt man mit
Schrecken an die Maulwurfsgräben Lhomoys, denen die elementarsten
Sicherheitsvorkehrungen fehlten. Man fordert also, daß
die Risiken künftiger Arbeiten durch eine Versicherung gedeckt
werden und daß ferner eine Kaution von einer Million Francs
gestellt wird. Außerdem verlangt die Stadt vier Fünftel von
jedem eventuellen Fund. Langwierige Verhandlungen werden geführt,
die an der Frage der Teilung scheitern. Die beiden Mäzene
Lhomoys rechnen sich aus, daß unter diesen Bedingungen für sie
keinerlei Gewinn herausspringen würde, ja, daß sie dabei sogar
zusetzen müßten, da die vorgesehenen Arbeiten aus ihrer Tasche
bezahlt werden sollen. »Wenn man uns absichtlich entmutigen
wollte, hätte man nicht anders handeln können«, erklären sie.
Wird diese Entmutigung etwa nur vorgetäuscht, um Lhomoy
auszuschalten, nachdem er jetzt seine ganzen Angaben gemacht
hat? Das läßt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Tatsache ist
jedoch, daß sich in dem Augenblick, da die Stadt Gisors ihre
Forderungen senkt, eine ziemlich unklare Episode abspielt, die
mit dem Weggang von Roger endet.
»Ich erwarte nicht, daß man mir aufs Wort glaubt«, sagt
Lhomoy eines Tages zu mir. »Sie sind durchaus imstande, selber
zu urteilen. Sie sollen nur wissen, daß ich nichts zu verbergen
habe. Nicht einmal die Adresse, wo Sie zehn handschriftliche
Zeilen von mir finden werden, für die Sie mich hängen lassen
können. Ich könnte Ihnen alles erklären. Aber es wäre mir lieber,
wenn Sie alles von anderer Seite hören würden, und nicht von mir.«
Später fuhr ich zu der angegebenen Adresse in Begleitung eines
Bildreporters, dem es die Geheimnisse von Gisors ebenso angetan
hatten wie mir. Unser Gastgeber zog, ohne sich bitten zu lassen,
ein altes Stück Papier aus der Schublade. Es war ein von Lhomoy
unterzeichneter Brief, in dem er »freiwillig und ohne jeden
Zwang« bekannte, er habe das Vorhandensein der Kapelle in
allen Einzelheiten zu betrügerischen Zwecken erfunden. Unser
Gastgeber erklärte unbeirrt:
27
»Ich habe nach wie vor volles Vertrauen zu Lhomoy. Das
wundert Sie? Dieser Brief wurde in doppelter Ausfertigung geschrieben.
Das zweite Exemplar befindet sich noch immer in den
Händen desjenigen, der es von Roger erpreßt hat, nachdem er
ihn mit Hilfe eines Komplicen in einen Keller eingesperrt und
geschlagen hat. Ich kann Ihnen die Namen der beiden geben.«
Wir statteten nun dem Mann, den man so schwer beschuldigt
hatte, einen Besuch ab. Was hielt er von dem Fall Gisors? Vielleicht
würde er uns als Journalisten, die nach der Wahrheit suchen,
die Geständnisse des besessenen Schwindlers zeigen. Er erwähnte
den Brief mit keinem Wort, sondern versicherte uns im Gegenteil,
zu angemessenen Bedingungen würde er gern die Ausgrabungsarbeiten
übernehmen. Und das stimmte völlig. Denn lange nach
dem Datum, das Lhomoys »Geständnis« trug, reichte er mehrfach
Gesuche ein, um die Genehmigung zur Wiederauffindung der
»imaginären« Kapelle zu bekommen .. .
Wir wollen aus dieser Episode zumindest im Augenblick keine
Schlußfolgerungen ziehen, sondern sie zu den Akten nehmen.
Lhomoy glaubt sich also dem Ziel nahe, und wiederum schwanden
seine Hoffnungen dahin. Sein materielles Dasein gleicht einem
langsamen Ertrinken. Manchmal erreicht er den Grund: er schnitzelt
Kartoffeln auf Jahrmärkten und schläft auf den Bänken der
Markthallen neben den Clochards.
Doch dieser Mann weiß zu kämpfen, wenn er ganz am Boden
liegt. Er findet wieder Arbeit, zieht von Bauernhof zu Bauernhof
und nähert sich dabei allmählich Gisors.
Weit davon entfernt, sich geschlagen zu geben, hat er einen
neuen Plan entworfen, um den ersehnten Erfolg zu erringen. Der
senkrechte Zugang zu der Kapelle ist zugeschüttet worden, doch
was macht das! Jetzt wird er den Wehrturm seitwärts angehen.
Er wird schräge Stollen graben, die ihn ebenso sicher ans Ziel
führen werden. Da er keinen Pfennig für eine Kaution besitzt,
kann er auch nicht mehr auf die Zustimmung der Stadt rechnen.
Also kehrt er regelmäßig nach jeder Arbeitswoche heimlich zu
dem alten Wehrturm zurück.
Die paar Scheine, die er verdient, gehen für den Kauf arm28
seliger Werkzeuge drauf. Eine einfache Kerze ersetzt jetzt die
einstige Kabelbirne. Nachts klettert er – ohne daß es jemand
weiß – über die Ringmauer und schleicht zu dem Erdwall, wo er
jeden Strauch, jeden Stein kennt. Wie ein unermüdlicher Maulwurf
fördert er Bruchstücke von unterirdischen Gängen zutage,
die den Archäologen unbekannt sind. Wenn sie verschüttet sind,
legt er sie frei. Wieder ergreift ihn das Schatzfieber. Er gräbt und
gräbt, und diese neuerliche Arbeit ist noch gewaltiger als die vorige.
Im Oktober kommen die ersten Ringeltauben. Drei werden
bereits am ersten Abend geschossen und brutzeln am Rost. Die
Flammen lassen das Gesicht des alten Roger noch brauner erscheinen.
Mit offenen Mündern lauschen die Kinder der Geschichte,
die hundertmal unterbrochen und hundertmal wiederholt
wird. Der Mann, der sie erzählt, ist ihr Freund geworden. Doch
heute ist die Geschichte zu Ende. Roger hebt sein Glas und sagt
zu mir:
»Das alles ist wahr. Sie können hingehen und sich überzeugen.«
EINE »ARIADNE«, EIN LABYRINTH …
UND EIN ARIADNEFADEN
Es mir anzusehen, war wirklich das mindeste, was ich tun konnte.
Der Mann, der seit einem Jahr bei mir lebte, war maßvoll in
seinen Bewegungen und Urteilen, diskret, fleißig und pünktlich
bei der Arbeit und in keiner Weise außergewöhnlich. Derselbe
Mann aber gab mir auf die geringste Ermunterung hin Stoff für
ein neues aufregendes Feuilleton. Wenn seine Geschichte von
Anfang bis Ende nur seiner Phantasie entsprang, war Roger
Lhomoy ein psychologischer Fall, wie man ihn nicht zweimal im
Leben trifft, und dieser Fall verdiente es, geschildert zu werden.
Falls er aus dem Nichts heraus den Mythos von der Krypta mit
dem Schatz erfunden und tatsächlich die Arbeit, deren er sich
rühmte, ganz oder teilweise vollbracht hatte, so war sein Leben
29
ein gewaltiges Epos des Wahnsinns. Wie sollte man da der Versuchung
widerstehen, den Dingen auf den Grund zu gehen?
Pierre Branche und Daniel Lefebvre waren genau die Männer,
die ich brauchte. Der Große und der Kleine, der Impulsive und
der Vernünftige, der Dichter und der ehemalige Ingenieur im
Straßenbau, und beide hervorragende Bildreporter. Überdies begeisterte
sie der Fall.
So kamen wir an einem schönen Junimorgen 1960 in Gisors
an. Unterwegs hatten wir, trotz allem leicht amüsiert, das Für
und Wider erörtert. Und der Name dieser unbekannten Stadt
klang in unseren Ohren beinahe lyrisch.
Der erste Eindruck war fraglos enttäuschend. Die Hauptstadt
des normannischen Vexin wurde 1940 durch Phosphorbomben
zerstört. Die Burg blieb verschont, aber die Stiftskirche brannte
bis auf die Grundmauern nieder. Sie wurde mit Liebe wiederaufgebaut.
Zunächst schien sie uns hinter ihrer neuen Fassade keineswegs
die Geheimnisse zu bergen, die wir später erlebten.
»Es ist nicht mehr wie früher«, hatte uns Lhomoy gesagt. »Der
Zugang zum Wehrturm ist durch einen Zaun versperrt. Der neue
Kastellan hat den Schlüssel zu dem Vorhängeschloß. Aber wenn
Sie Ihr Glück unbedingt in meinen Gängen versuchen wollen,
sage ich Ihnen, wo Sie anfangen müssen. Vor allem müssen Sie
bei Tagesanbruch da sein. Sonst wird man gleich auf Sie aufmerksam.
Um neun Uhr ist der Garten bereits voll.«
Sobald sie keine Nylonseile, keine Taschenlampen, keine Verbandskästen,
keine Kameras – und die unseren waren gut getarnt
- haben, sind Soldaten auf Urlaub vor einer alten Burg nichts
Ungewöhnliches. Und als Soldaten auf Urlaub hatten wir uns
angezogen. Unsere Aufmachung bewies im übrigen, daß wir doch
etwas Vertrauen zu Lhomoy hatten. Mit unseren Overalls und
Stiefeln waren wir nicht für einen Marsch auf der Landstraße
eingerichtet. Was wir jedoch zu sehen bekamen, übertraf alle
unsere Erwartungen.
Der Anfang war viel versprechend: ein unterirdischer Gang, in
dem man sich bequem aufrecht bewegen konnte. Die Stufen, die
wir dann herabklettern mußten, waren zwar kaum ausgehauen,
30
ließen sich aber auch noch bewältigen. Doch nach dreißig Metern
war es kein Spaß mehr. Die erste Schwierigkeit bestand darin,
zwischen den zahllosen engen Stollen zu wählen, von denen einer
abschreckender als der andere wirkte. Die zweite war, sich hineinzuzwängen.
Dem Himmel sei Dank, daß uns dieser Versuch
keine Zeit ließ, an die dritte zu denken, nämlich wieder herauszukommen,
was wir ja hofften.
Heimliche Höhlenforschung hat ihre Reize, aber auch ihre
Nachteile. Vor allem kann man sich nicht für mehrere Tage
verproviantieren. Nach dieser materialistischen Feststellung beschlossen
wir, es bei dem Besuch von drei Stollen bewenden zu
lassen. Dank unserer verhältnismäßig guten körperlichen Verfassung
kostete uns das nur den ganzen Tag. Danach war uns
klar: Roger Lhomoy schnitt nicht auf, wenn er von seiner Arbeit
erzählte. Er blieb sogar hinter der Wirklichkeit zurück.
Wir suchten die Zeugen seiner Demütigung, die Honoratioren
von Gisors, auf und freundeten uns schnell mit ihnen an. Dann
forschten wir in Versailles nach, und damit war unsere Untersuchung
beendet.
Sie kann wohlgemerkt nur mit einem großen Fragezeichen
abschließen. Niemand außer Lhomoy hat die unterirdische Kapelle
gesehen, so daß man mit Recht skeptisch bleibt. Dennoch
hat ein Mann die Arbeit, die Hoffnungen eines ganzen Lebens
auf eben dieses Fragezeichen konzentriert.
Das war schon eine Reportage wert. Eine Wochenzeitschrift
mit großer Auflage veröffentlichte sie, illustriert mit einem Plan
der Kapelle, den der Zeichner nach der Beschreibung Rogers
angefertigt hatte.
So weit standen die Dinge, als eines Morgens mein Telefon
läutete.
»Ihre Reportage hat viel Erfolg gehabt«, sagte eine etwas
ironische Stimme. »Ich kann verstehen, daß Sie sich von einem
solchen Thema bestechen ließen. Doch ich fürchte, Sie haben
ungewollt Ihre Nase in eine Angelegenheit gesteckt, die nicht
an die Öffentlichkeit gehört. Sie wissen ja, es gibt manchmal
merkwürdige Zufälle. Wenn Sie Interesse daran haben, mehr
31
zu erfahren, besudien Sie mich. Ich gebe Ihnen jedenfalls Namen
und Adresse.«
Der geheimnisvolle Anrufer wohnte in einer hinter Bäumen
versteckten Villa eine Viertelstunde von Paris entfernt. Er entsprach
dem Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte: ein großer,
interessanter Mann. Sein Arbeitszimmer glich einer Benediktinerzelle
– wenig Möbel und viel Bücher. Er kam sofort zur Sache.
»Etwas in Ihrer Reportage macht mich stutzig«, sagte er.
»Und zwar der Plan, den Sie veröffentlicht haben. Niemand
hat die Kapelle gesehen. Sie zweifeln ja sogar ihre Existenz an.
Wie konnte dann dieser Plan entstehen?«
Ich erzählte es ihm.
»Das ist mehr als seltsam«, meinte er und entrollte ein altes
Papier, das er aus einer Schublade gezogen hatte. »Dieser Plan
hier ist seit mehreren Jahren in meinem Besitz. Seitdem bemühe
ich mich vergebens, festzustellen, wohin er wohl gehören könnte.
Das möchte ich zu gern erfahren. Die zu dem Plan gehörenden
Dokumente bezeugen nämlich, daß er einen Ort angibt, an dem
im 14. Jahrhundert die wichtigsten Geheimnisse des Templerordens
in Sicherheit gebracht wurden. Ich kann Ihnen die Dokumente
nicht zeigen, weil ich dazu nicht befugt bin. Aber sehen
Sie sich den Plan an. Ich glaube, er wird Sie interessieren.«
Der Plan entsprach so genau demjenigen, der nach den Angaben
Lhomoys von der unterirdischen Kapelle gemacht worden
war, daß mir zunächst der Gedanke an eine geschickte Mystifikation
durch den Kopf schoß. Mein Gastgeber konnte ja sehr
wohl den Plan nach der Veröffentlichung kopiert haben.
Bei näherer Überlegung mußte ich jedoch einsehen, daß diese
Erklärung zu einfach war. Die Reportage war gerade erschienen.
Ein Fälscher hatte demnach keine Zeit, eine auf den ersten Blick
derart gelungene Kopie herzustellen. Überdies war dieser Plan
ohne Zweifel alt. Und schließlich erhob sich die Frage, weshalb
der Urheber einer möglichen Fälschung in manchen Punkten vom
Original abgewichen war. Denn eine aufmerksame Prüfung ergab
unterschiedliche Einzelheiten: auf dem nach Lhomoys Angaben
gefertigten Plan maß die Kapelle dreißig auf neun Meter;
32
auf diesem hier aber waren es einunddreißig Meter achtzig auf
zehn Meter sechzig. Lhomoys Plan verzeichnete ein Kuppelgewölbe,
das auf dem anderen fehlte.
Vor allem eines fesselte meine Aufmerksamkeit: unten auf
dem Plan entdeckte ich eine eigenartige Zeichnung – ein schraffiertes
Kreuz in einem Kreis, der wiederum in ein Viereck eingezeichnet
war. Das berühmte Templerkreuz? Vielleicht, doch
das bewies nicht viel. Weit erstaunlicher war, daß ich dieses
unverwechselbare Emblem bereits irgendwo gesehen hatte. Aber
wo und wann?
Es fiel mir rasch wieder ein. Das seltsame Steinkreuz, das seit
1188 vergessen inmitten eines Feldes steht, war mir erst vor
acht Tagen aufgefallen, und zwar auf der Straße von Neaufles
nach Gisors. Die Generalstabskarte verzeichnet sie als »Straße
der Königin Bianca«.
»Kennen Sie die Schweiz?« fragte mich mein Gastgeber auf
dem Weg zum Bahnhof. »Ich auch. Ich bin von Beruf Archäologe.
Die schweizerische Regierung hatte mich mit der Suche nach
verlorengegangenen mittelalterlichen Urkunden beauftragt, und
ich habe Glück dabei gehabt. In Genf können Sie Näheres darüber
erfahren.«
Doch ich hörte nicht mehr zu. Die Geschichte, die damit begonnen
hatte, daß ein abgerissener Vagabund auftauchte und
sich als Stallknecht verdingte, wurde immer ungewöhnlicher. Ich
wußte genau – wenn ich das Geheimnis ergründen wollte, mußte
ich jetzt in Archiven und Bibliotheken herumstöbern. Das erwies
sich in diesem Fall als ebenso schwierig wie Lhomoys Grabungsarbeiten.
Zu meiner Verblüffung mußte ich nämlich bei meinen
Nachforschungen in öffentlichen Bibliotheken und Archiven feststellen,
daß die Gisors betreffenden Unterlagen entweder größtenteils
verschwunden waren oder daß gerade die Seiten fehlten,
auf denen sich ein Hinweis finden könnte. (Eine komplette Liste
findet sich im Anhang.)
Es bleibt nun dem Leser überlassen, sich in den Fall zu vertiefen,
den verschlungenen Fäden zu folgen und seine Rückschlüsse
zu ziehen.
Tafel I: Der achteckige Wehrturm. Die Templer hatten auf die oktogonale
Bauweise besonderen Wert gelegt
Tafel II: Neaufles; der Turm der Königin Blanka
Später werden wir die außergewöhnliche Geschichte von Roger
Lhomoy fortsetzen. Als Abschluß dieses ersten Abschnittes möge
eine Bibelstelle dienen:
Er hat meinen Weg verzäunt,
daß ich nicht kann hinübergehen,
und hat Finsternis auf meinen
Steig gestellt.
Er hat meine Ehre mir ausgezogen ...
Er hat mich zerbrochen um und um
und läßt mich gehen
und hat ausgerissen meine Hoffnungen wie einen Baum…
Meine Nächsten haben sich entzogen,
und meine Freunde haben mein vergessen ...
Mein Odem ist zuwider meinem Weibe,
und ich bin ein Ekel den Kindern meines Leibes.
Auch die jungen Kinder geben nichts auf mich,
wenn ich ihnen widerstehe, so geben sie mir böse Worte...
Ach, daß meine Reden geschrieben würden!
Ach, daß sie in ein Buch gestellt würden!...
Wenn ihr sprecht: Wie wollen wir ihn verfolgen? ...
so fürchtet euch vor dem Schwert; denn das Schwert
ist der "Zorn über die Missetaten, auf daß ihr wisset,
daß ein Gericht sei.
(Buch Hiob, 19, 8-29)
Zweiter Teil
DAS DOPPELLEBEN DER TEMPLER
Von unserem Leben seht ihr nur die Borke,
die draußen ist, doch ihr seht nicht die mächtigen
Gebote im Innern.
REGEL DES TEMPLERORDENS
37
Mitten im Herzen von Paris erwacht jeden Morgen ein malerischer
Platz zum Leben. Es ist zwar nur ein Markt wie viele
andere, aber hier herrscht von Tagesanbruch an ein Gewimmel
wie in einem Ameisenhaufen. Eine bunte Menge von Trödlern
schreit und schwatzt in allen Sprachen durcheinander. Mit langen
Hakenstangen werden die eisernen Rolläden heraufgeschoben und
enthüllen ein seltsames Bild: eine große Balltoilette hängt neben
einem Konfektionskleid, ein Maskenkostüm neben einer Soutane,
alte deutsche Uniformen neben neuen blauen Arbeitsanzügen, die
noch den faden Geruch nach Appretur ausströmen.
Dieses Hauptquartier der Trödler heißt »Carreau du Temple«.
Doch kaum ein Besucher wüßte noch den Grund dafür zu nennen.
Im 12. Jahrhundert war hier eine Stadt innerhalb der Stadt.
König Philipp II. August von Frankreich machte den Platz dem
mächtigsten geistlichen und militärischen Orden Europas und des
Heiligen Landes zum Geschenk: den Tempelrittern. In der gewaltigen
Festung, die sie sofort errichten ließen, befand sich das
geistige Zentrum des gesamten Ordens. Der Hauptturm war
von kleinen Türmen und steinernen Schilderhäuschen flankiert.
Er überragte die Stadt. Der kunstvolle Rundbau der Kapelle gab
den Bauherren Rätsel auf. Der weite Innenhof war ganz mit
Marmorfliesen mit allegorischen Figuren ausgelegt und wirkte
dadurch wie ein riesiges Schachbrett. Das war der Temple von
Paris, von dem nichts als ein alter Stich erhalten geblieben ist,
eine Erinnerung an die Französische Revolution, als der letzte
König im Turm des Temple gefangengehalten wurde. Außerdem
38
erinnert noch ein Straßenname an die Templer: die »rue des
Blancs-Manteaux« (Straße der Weißen Mäntel).
Wenn man lange auf ein Fliesenmuster blickt, zeigt sich ein
eigentümliches optisches Phänomen: man entdeckt plötzlich
andere Figuren als diejenigen, die man eben noch gesehen hat.
Das betrachtende Auge hat unmerklich die Perspektive geändert.
Die Geschichte der Templer gleicht dem mit Symbolen verzierten
Fliesenboden in ihren Wohnstätten. Das Gesamtbild aller
Tatsachen kann jeweils unter zwei Gesichtspunkten betrachtet
werden, die zwar voneinander abweichen, jedoch erst den eigentlichen
Zusammenhang ausmachen. Diese Geschichte fasziniert,
weil sie so doppelbödig ist. Deshalb hat sie auch in sechs Jahrhunderten
nichts von ihrer Anziehungskraft verloren.
Ein Güterwagen würde nicht für die Bücher ausreichen, die
sich mit ihr befassen. Vor etwa dreißig Jahren hat ein Gelehrter
namens Dessubré in einem dicken Band nur deren sämtliche Titel
aufgeführt und dabei noch viele vergessen.
Die positiven Werke dieser Liste kann man an fünf Fingern
abzählen, die unendliche Menge der übrigen ist durch Haß oder
übertriebene Verehrung entstellt. Das Ganze wird noch dadurch
kompliziert, daß bei den einen wie bei den anderen zu der maßlosen
Parteilichkeit häufig ein Übermaß an Phantasie kommt.
Die mythische Gewalt des Themas ist unvorstellbar. Erst kürzlich
hat ein französischer Großindustrieller behauptet, eine Serie
von gewaltsamen Todesfällen in seiner Familie sei auf den Fluch
der Templer zurückzuführen.
Es ist merkwürdig, daß eine über sechshundert Jahre alte
historische Frage, den Gesetzen der Vergänglichkeit zum Trotz,
heute noch dieselbe leidenschaftliche Anteilnahme wie bei den
Zeitgenossen erweckt. Und was für Leidenschaften! Zur selben
Zeit, als Wolfram von Eschenbach im »Parzival« die Tempelritter
zu den Hütern des Grals machte, gaben seine Landsleute
den Freudenhäusern den Spitznamen »Templerhäuser«. So wurden
die Templer schon zu ihren Lebzeiten entweder ganz weiß
oder ganz schwarz gesehen.
Auch wenn man sich nur flüchtig mit dem Schicksal der Templer
beschäftigt, erscheint es zugleich profan und fromm, kurz und
dauerhaft, tragisch und siegreich. Schwarz und weiß wie ihre
Fahne leuchtet es einmal grell auf und wird dann wieder in
geheimnisvolles Dunkel gehüllt. Es hat zwei Gesichter. Und eines
verdeckt das andere. Man muß die beiden Gesichter Zug um Zug
heraufbeschwören, um festzustellen, was ihnen gemeinsam ist.
Ihr Geschick scheint durch das Siegel der Ordensgroßmeister geprägt
zu sein: zwei Templer, die hintereinander ein Pferd besteigen.
Ob gewollt oder ungewollt – eine tiefe Symbolik.
40
NEUN RITTER BEWACHTEN EIN FELD...
Es waren einmal zwei Brüder, die gemeinsam ihr Kornfeld bestellten.
Der ältere hatte für eine zahlreiche Familie zu sorgen, der
jüngere war unverheiratet. Nach der Ernte teilten sie diese in
zwei gleiche Teile. Doch zu Hause begannen beide nachzudenken.
Es wäre ungerecht, überlegte der Junggeselle, wenn mein Bruder,
der seine Familie ernähren muß, nicht mehr bekäme als ich. Und
er ging bei Nacht wieder aufs Feld und legte einen Teil seiner
Korngarben auf die seines Bruders. Doch dieser hatte sich gesagt:
es wäre nur gerecht, wenn mein Bruder mehr bekäme als ich, da
er allein ebensoviel Arbeit geleistet hat wie ich mit Hilfe der
Meinen. Und so kehrte auch er auf das Feld zurück, um den Anteil
des Jüngeren zu vermehren. Bei Tag wollten sie ihre Ernte
einbringen – und beide Teile waren gleich, wie am Abend zuvor.
Dieses Feld liegt auf dem Gipfel des Berges Morija. Nach der
Bibel wählte ihn der Baumeister Hiram aus dem Libanon aus,
um dort auf Wunsch König Salomos den Tempel von Jerusalem
zu erbauen.
Als die ersten Kreuzfahrer 1099 in Palästina landen, um das
Heilige Grab zu befreien, ist von dem Tempel nur noch ein Rest
der Klagemauer und ein herrlicher, fast intakter Fliesenboden
vorhanden. Innerhalb von zwanzig Jahrhunderten wurde er von
Sisak, König von Ägypten, geplündert, von Ahas, König von
Juda, geschlossen, von dem Götzendiener Manasse entweiht, von
Nebukadnezar zerstört, unter Cyrus wiederaufgebaut, abermals
von Antiochus und Crassus geplündert und zerstört, von Herodes
wieder auf gebaut und endgültig von Titus im Jahre 70 n. Chr.
41
eingeäschert. An seiner Stelle erhebt sich die herrliche Moschee
El Aksa, die Kalif Omar I., ein Vetter und Stellvertreter Mohammeds,
637 erbauen ließ. Denn Omar war nicht nur ein Vandale,
der sechs Monate lang die öffentlichen Bäder von Alexandrien,
den Aufenthaltsort der Dirnen, mit den Originalhandschriften
der Bibel, einer Abhandlung des Euklid und tonnenweise aus der
alten Bibliothek geraubten ähnlich wertvollen Schätzen heizen
ließ. Das geschah unter dem töricht anmutenden Vorwand, sie
stünden entweder im Gegensatz zum Koran und seien daher
schädlich, oder sie stimmten mit ihm überein und seien daher überflüssig.
Später übten die Christen ihre traurige Rache: im 12. Jahrhundert
ließ Kardinal Ximenez die achttausend arabischen Handschriften
der Bibliothek von Granada verbrennen.
In jener Epoche ist nichts mehr von dem selbstlosen Denken der
beiden erntenden Brüder erhalten. Jede der heiligen Stätten, ob
sie nun von den Juden oder den Christen des Orients oder von
den Muselmanen verehrt wird, ist ein Zentrum des religiösen
Tourismus, ein Ort einträglicher Pilgerfahrten. Die Kuppeln von
El Aksa und dem Heiligen Grab wölben sich hoch über Jerusalem.
Das alles stellt eine Einkommensquelle dar, die ganz Palästina
reich gemacht hat. Die Schirmherrschaft darüber bringt reichen
Gewinn. Nach den Ungläubigen scheuen sich später auch die
Kreuzfahrer nicht, davon zu profitieren. Doch noch ist es nicht
soweit. Sie sind zunächst entsetzt über die Geschäftemacherei und
glauben, durch die Besetzung der heiligen Stätten ihrem Glauben
zum Sieg verholfen zu haben.
Der Berg Morija fällt französischen Rittern zu. Im Jahre 1118
bildet sich zu seiner Bewachung eine Gruppe von neun Mann.
Diese Zahl und die Namen muß man sich gut merken. Befehlshaber
ist Hugues de Payen, sein Stellvertreter Bisol de Saint-
Omer. Die anderen sind Hugues I., Graf der Champagne, Andre
de Montbard, Archambaud de Saint-Aignan, Nivard de Montdidier,
Gondemar und Rossal. Damit sind die Templer geboren,
die »armen Ritter Christi«. Selbst ihre Kleider stammen von
Almosen. Wenn einer von ihnen stirbt, bleibt der Tisch vierzig
Tage für ihn gedeckt, und ein Bettler darf den Platz einnehmen.
42
Ein mit militärischen Mitteln durchgeführtes religiöses Unternehmen
oder, wenn man so will, eine militärische Expedition
unter religiösen Vorzeichen muß eine vielschichtige, widersprüchliche
Lebens- und Denkweise zeitigen. Fröhliches Garnisonleben
und fromme Meditation prallen aufeinander und verschmelzen
alsbald. Um diese noch nie dagewesene Situation zu meistern
und die ursprüngliche Reinheit der Ziele den gegebenen Tatsachen
anzugleichen, kommt Hugues de Payen auf eine erstaunliche neue
Idee: seine Ritter sollen Soldaten und Mönche in einem sein.
Der ideale Schirmherr für eine solche seltsame Synthese war
Sankt Johannes. Der Verfasser der Apokalypse, deren mystische
Visionen von Posaunenklängen begleitet werden, der Künder der
bewaffneten Engel und der apokalyptischen Reiter schmeichelte
dem Selbstgefühl der Templer. Übrigens wurde Payen von dem
siebenundsechzigsten Nachfolger des Johannes, dem Patriarchen
Theoklet, in sein Amt eingesetzt.
Die Verehrung des Evangelisten unterschied die Templer auf
ihren Wunsch von dem rivalisierenden Orden der Hospitaliter,
der seinerseits unter dem Patronat von Johannes dem Täufer
stand. Alles wurde jedoch von dem Marienkult der Templer weit
übertreffen. »Die Mutter Gottes war zu Beginn unserer Religion,
und mit ihr und zu ihren Ehren wird unsere Religion enden,
wenn es Gott gefällt«, besagt die Ordensregel.
Zehn Jahre später gibt es dreihundert Tempelritter. Sie befehligen
dreitausend Mann. Jetzt ist der Augenblick für die offizielle
Anerkennung durch die katholische Kirche gekommen.
Sankt Bernhard ist sehr angetan von den Mönchsoldaten. Auf
ihre Bitte verfaßt er eine Propagandaschrift, in der er einigermaßen
naiv ihre einfachen Sitten mit dem dekadenten Luxus der
anderen Ritter vergleicht: »Man sieht sie niemals gekämmt, selten
gewaschen, ihr Bart ist struppig, sie riechen nach Schmutz und
Staub.« Der Heilige findet das »nicht nur wunderbar, sondern
auch all unseres Lobes würdig«. Dieses Bild entspricht nicht mehr
ganz der Wahrheit. Zu jener Zeit haben die Templer bereits eine
Geldwechselstelle für Pilger gegründet und unter dem Tempel
Salomos unterirdische Ställe für zweitausend Pferde bauen las43
sen, die alle Besucher erstaunen. Doch Sankt Bernhard kann den
Templern diesen Dienst ruhig erweisen: ist er nicht der Neffe
von Andre de Montbard, und verdankt er nicht Hugues de Champagne
die Erlaubnis, das Kloster Clairvaux zu erbauen? Hugues
de Payen kann nun nach Rom ziehen und dann nach Frankreich.
Im Jahre 1128 verleiht das Konzil von Troyes den Templern
ihre offiziellen Statuten.
Diese Statuten enthalten zwar das dreifache Gelübde der
Armut, der Keuschheit und des Gehorsams. In manchen Punkten
aber werden bereits Widerspräche deutlich. Als Mönche versagen
sie sich die Jagd. Doch als große Herren, die vornehm leben
wollen, nehmen sie die Löwenjagd aus. Vom religiösen Standpunkt
aus müssen sie sich jeder Schlemmerei enthalten, als Soldaten
jedoch ist ihnen »übertriebene Abstinenz« untersagt. Ein
Verbot, das manche offenbar mehr als genau befolgen, denn
der Ausdruck »saufen wie ein Templer« wird bald sprichwörtlich.
Und ebenso rasch heißt es »fluchen wie ein Templer«. Daraus
kann man folgern, daß sie auch nach der Bestätigung als Ordensritter
die raube Kriegersprache nicht verleugnen.
Vor allem aber sind dem Templerorden nun eine Reihe von
außergewöhnlichen Privilegien gesichert. Er ist von Steuern, Abgaben
und Zöllen befreit und darf seinerseits sogar welche erheben.
Er ist weder der weltlichen noch der kirchlichen Justiz
unterstellt, sondern nur dem Papst. Dagegen übt er in seinem
Herrschaftsbereich sämtliche Rechte der Lehnsjustiz aus. Seine
Geheimnisse bleiben gewahrt, da er Kaplane und Beichtväter aus
den eigenen Reihen rekrutiert. Schließlich bedarf er für die Wahl
des Großmeisters keinerlei Genehmigung. Desgleichen existiert
seine Abhängigkeit vom Heiligen Stuhl vorwiegend auf dem
Papier. Der Keim für die Souveränität des Templerordens liegt
bereits in seinen Statuten.
Mehrfach haben sich Anhänger des Ordens bemüht, die Templer
als Pioniere demokratischer Institutionen hinzustellen. Aber
ein knappes halbes Jahrhundert nach der Gründung bietet sich
bereits das Bild einer straff organisierten Republik von Standesherren.
44
Ihre schlichte Demut mag in ihrem Wahlspruch weiterleben:
Non nobis, Domine, non nobis sed nomine tuo da gloriam –
Nicht uns, Herr, nicht uns den Ruhm, sondern Deinem Namen.
Das Siegel des Großmeisters mit den beiden Reitern auf einem
Pferd wirkt auf den ersten Blick wie ein Sinnbild der Armut. Es
hindert jedoch nicht, daß ebenderselbe Großmeister mit dem
schwarzweißen Banner und dem Befehlsstab ein großes Zelt, zahlreiche
Pferde, Diener und Ehrenbezeigungen erhält. Man muß
den Adelsnachweis erbringen, wenn man den weißen Mantel mit
dem Kreuz tragen will. Wer nicht als Ritter geboren ist, kann nur
die schwarze oder braune Kutte der dienenden Brüder beanspruchen.
Sie sind den Rittern zahlenmäßig um das Zehnfache überlegen
und bilden den Großteil der Truppe.
DAS SCHWERT UND DER SCHILD
In weniger als einem Jahrhundert erstreckt sich die Machtfülle
der Templer über zwei Kontinente. Kein geistlicher Orden nach
ihnen hat dasselbe jemals erreicht, und auch die heutigen internationalen
Gesellschaften könnten sie darum mit Recht beneiden.
Diese Macht, die auch ihren Untergang herbeiführt, entsteht in
Kleinasien und breitet sich dann in Europa aus. Sie geht bald vom
militärischen Gebiet auf Politik und Finanzwesen über. Denn die
Mönchsoldaten sind vor des Begriffes wörtlicher Bedeutung zu
Jesuiten geworden und entwickeln rasch eine Vorliebe für Diplomatie
und Geschäfte.
Es ist verlockend, die Kreuzzüge als Generalprobe für die kolonisatorischen
Unternehmungen des 19. Jahrhunderts zu betrachten.
In vieler Hinsicht stellten sie das Abendland tatsächlich vor
Probleme, die sich später wiederholen sollten: militärische Eroberung,
Ansiedlung von Menschen, wirtschaftliche Niederlassungen,
Koexistenz mit den Eingeborenen, Wahrung der Machtinteressen,
Belastung und Verantwortung. Doch hinter dieser Analogie ver45
birgt sich ein Gegensatz, der nicht weniger frappierend ist. Die
Kolonialmächte des vorigen Jahrhunderts hatten eine hohe Entwicklungsstufe
erreicht und eigneten sich für eine verhältnismäßig
kurze Zeitspanne, die heute zu Ende geht, Länder ohne oder mit
einer nur noch aus Trümmern bestehenden Zivilisation an. Die
abendländischen Eroberer des Mittelalters dagegen sahen sich
einer Zivilisation gegenüber, die der ihren fraglos überlegen war.
Jeder Kreuzfahrer hatte vor dem Aufbruch in den Orient eine
höchst naive Vorstellung von dem Gegner und mußte diese an
Ort und Stelle revidieren.
Denn diese Ungläubigen, diese Götzendiener, diese Barbaren,
die man erwartete, repräsentierten in Wahrheit den Islam auf
dem Höhepunkt seiner Macht und Kultur. Die europäischen Ritter
schwitzten unter ihren schweren eisernen Rüstungen. Sie saßen
auf klobigen Pferden, waren leicht aus dem Sattel zu heben und
konnten sich zu Fuß nur unbeholfen bewegen. Der gewaltige
Schwärm von orientalischen Reitern dagegen war dem Klima
entsprechend leicht ausgerüstet und handhabte den Krummsäbel
so geschickt, daß er Seidentücher mit einem Schnitt durchtrennte.
Und dann waren da AI Chwarasmi, der die arabischen Ziffern einführte,
Averroes, der Aristoteles kommentierte, Avicenna, dem
die Medizin enorme Fortschritte verdankte, und die Abhandlung
»Khitab Al Firist«, in der die gesamten Erkenntnisse der zeitgenössischen
Chemie zusammengefaßt waren. Angesichts der Gedichte
von Omar Chaijam wirkte das Rolandslied plump und
ungefüge. Und verglichen mit dem glanzvollen Hof Saladins hatten
die Versammlungen der christlichen Barone etwas bäuerlich
Schwerfälliges. Den muselmanischen Chronisten machten die im
Morgenland landenden Kreuzfahrer offensichtlich denselben Eindruck
wie einst den Römern die Gallier, als sie in die Ewige Stadt
kamen und die alten Senatoren am Bart zogen, weil sie sie für
Statuen hielten.
Der hohe Zivilisationsstand des Islams erklärt, warum die
Kreuzzüge zwar mit einer militärischen Schlappe, jedoch mit
einem erfolgreichen Austausch auf allen übrigen Gebieten enden
mußten. Die beiden Welten waren einander bisher nur in Spanien
46
begegnet, und natürlich zeigte sich die weniger fortgeschrittene
europäische für die islamische sehr aufnahmebereit. Über den Umfang
dieses Verschmelzungsprozesses sagt das Werk eines Dichters
weit mehr aus als die kurzsichtige Akribie eines Chronisten. »Das
befreite Jerusalem« Torquato Tassos steht hoch über dem Gesamtopus
von Jean de Joinville.
Die Stärke der Templer bestand darin, daß sie rascher und
tiefergehend als die anderen die ungeahnt komplexe Situation
begriffen und meisterten.
Zu Anfang, als nur die Waffen sprechen, kämpfen sie in den
vordersten Reihen. Ihre Hierarchie ist streng und ihre Disziplin
sehr straff. Auf militärischem Gebiet spielt das eine erhebliche
Rolle, zumal die Schlachten zu jener Zeit häufig in ein wildes
Durcheinander ausarteten. Die Burgen, die sie an den ihrem Schutz
unterstellten Straßen des Orients errichten, tragen poetische Namen:
Kerak, Bohnenburg, Furt Jakobs, Stein der Wüste, Rote
Erde, Weiße Garde, Pilgerburg, Burg zum Ei, Salzburg. Die
meisten sind noch erhalten.
Überall kämpfen die Templer leidenschaftlich, manchmal mit
schweren Verlusten. Die Großmeister halten sich nicht im Hintergrund
– dreizehn von ihnen fallen. König Ludwig VII. von
Frankreich schrieb an Suger: »Wir wissen nicht und können es
uns nicht einmal vorstellen, wie wir auch nur einen Augenblick
in jenen Ländern hätten bestehen können ohne die Hilfe und Unterstützung
der Templer.«
Nach der Eroberung setzen sich die Kreuzfahrer fest. Das
christliche Königreich von Jerusalem wird gegründet. Kaplan
Foucher de Chartres schildert die innere Situation mit Worten,
die heute geschrieben sein könnten: »Wer in seinem Land arm
war, den hat Gott hier reich gemacht. Wer wenig Geld hatte, besitzt
es hier in unvorstellbarem Maße. Wer nur ein kleines Lehen
sein eigen nannte, dem gibt Gott hier eine ganze Stadt. Weshalb
sollte er ins Abendland zurückkehren, wenn ihm der Orient
so wohlgesonnen ist?«
Es ist nun ebenso notwendig geworden, miteinander zu leben
wie gegeneinander zu kämpfen. Die Siedler sind stets bereit, die
47
neuerworbenen Vorteile zu verteidigen, jedoch nicht, sie durch
eine unnötige Herausforderung des Gegners zu gefährden. Dieser
ist ja mittlerweile vielfach zum Verbündeten, mitunter sogar zum
Verwandten geworden. Der Ausgleich zwischen den zwei Welten
vollzieht sich. »Wir, die einstigen Abendländer, werden zu Orientalen
«, fährt Foucher fort, »viele von uns kennen bereits ihren
Geburtsort nicht mehr. Manch einer hat eine Einheimische zur
Frau genommen, eine Syrerin, eine Armenierin oder auch eine
Sarazenin, welche die Gnade der Taufe empfangen hat.«
Die entstandenen Bindungen und Interessen erfordern Weitblick
und Klugheit. Eine Einstellung, die von den folgenden
Wellen neuer Kreuzfahrer offensichtlich nicht begriffen wird. Sie
kennen nur ein Ziel: Kampf gegen die Ungläubigen. Die Templer
dagegen sind sich klar darüber, daß ein bewaffneter Friede wichtiger
für sie ist als verlustreiche Schlachten.
Sie stellen eine Truppe auf, in der die Mannschaften und selbst
die niederen Offiziere Sarazenen sind. Mehrere Großmeister nehmen
sich Muselmanen als Sekretäre. Manchmal schlagen sie sogar
Edelleute aus dem gegnerischen Lager zu Rittern. Diese liberalen
Neuerungen zeugen zwar von guter Politik, erregen jedoch Ärgernis,
besonders die letztere. Ein Zeitgenosse entrüstet sich: »Ich
weiß aus zuverlässiger Quelle, daß mehrere Sultane freudig und
mit großem Pomp in den Orden aufgenommen wurden. Die
Templer selber haben ihnen gestattet, ihrem Irrglauben zu frönen
und Mohammed anzurufen.«
Die Templer, die ja mittlerweile mit Land und Leuten vertraut
sind, raten den neuangekommenen Kreuzfahrern oft von unüberlegten
Angriffen ab. Werden ihre Warnungen nicht beachtet,
kämpfen und fallen sie nach wie vor mit den anderen, die ihnen
trotz der erlittenen Verluste die kalte Schulter zeigen.
So entstehen manche Konflikte unter den Europäern. Insbesondere
die Rivalität zwischen Templern und Hospitalitern
spitzt sich zu, artet mitunter in offene Feldschlachten aus, in denen
die Ritter beider Orden sich gegenseitig töten Wie Zwillinge, die
einander im Mutterschoß erwürgen«. Bei diesen Kämpfen lockt
oft Gewinn. 1153 schlagen sich die Templer vor Askalon mit
48
Türken und Kreuzfahrern zugleich, um die Beute für sich allein
zu erringen.
Auf diplomatischem Gebiet schließlich läßt sich der Orden
keine Gelegenheit entgehen, mit dem Gegner zu verhandeln. Seit
ihrer Gründung vermitteln die Templer zwischen dem christlichen
König von Jerusalem und den mohammedanischen Ismaeliten
über den Austausch von Tyrus gegen Damaskus. Danach
verbünden sie sich achtzig Jahre lang mit den Ismaeliten. Später
sind sie die einzigen Kreuzfahrer, die den mit Saladin geschlossenen
Waffenstillstand einhalten. »In ihren Augen erforderte das
Königreich Jerusalem Politik und Diplomatie ebenso wie Krieg«,
schrieb Albert Ollivier. »Sie wollten die ursprüngliche Integration
wiederherstellen und sich nicht in Gewaltakten verzetteln, die
keineswegs Gewinn brachten, sondern nur Opfer kosteten. Lediglich
die Umstände zwangen sie, den Muselmanen gegenüber abwechselnd
eine kriegerische und freundschaftliche Haltung einzunehmen.
« Eine liberale Konzeption, die auch nach sechs Jahrhunderten
nicht überholt ist.
In einer Epoche, in der sich der Templerorden in ganz Europa,
von Spanien und Portugal bis Deutschland, von Frankreich bis
Ungarn, von England bis Italien, verbreitet hat und zu einer
echten Internationale geworden ist, drohen ihm durch seine
Politik im Orient schwerwiegende Folgen.
DER BRUCH
In den Jahren 1178 bis 1188 vollzieht sich eine entscheidende
Wendung in der Geschichte der Kreuzzüge. König Balduin IV.
von Jerusalem erkrankt an Lepra und muß abdanken. Er kann
die Hand nicht mehr bewegen, ohne daß ein Finger abfällt. Balduin
hat keine männlichen Nachkommen. Sein einziger Erbe ist
der junge Balduin V., ein Sohn aus der ersten Ehe seiner Tochter
Sibylle. Wen soll er mit der Regentschaft betrauen? Den KandiTafel
III: Der Illustrator scheint den Weg anzudeuten
Tafel IV: Gisors. Eglise Saint-Gervais: Die Grabfigur in der Kapelle Saint-
Clair (oben). – Der Wehrturm der Burg von Gisors (unten)..
49
daten der Hospitaliter, Raymond von Zypern, oder den zweiten
Mann von Sibylle, den Südfranzosen Guy de Lusignan, der von
den Templern unterstützt wird? Diese setzen sich ohne Zögern
zugunsten Lusignans über das Veto der Zisterzienser, des Ordens
von St. Bernhard, hinweg.
Der lepröse König wählt schließlich Raymond von Zypern.
Doch Balduin V., ein schwächliches Kind, stirbt, und Lusignan
besteigt den Thron. Das Volk jubelt ihm zu und singt:
Trotz der Polen [1b]
haben wir einen König aus Poitiers.
Der neue Großmeister der Templer, Gérard de Ridford, wird
sein Berater.
Über Ridford haben die Templer jetzt entscheidenden Einfluß
auf das gesamte christliche Königreich Jerusalem, allerdings begünstigt
durch eine Krise, die dem Königreich Jerusalem zum
Verhängnis wird.
Saladin ergreift erneut die Offensive. Er macht sich die allgemeine
Verwirrung zunutze und nimmt einen Zwischenfall zum
Vorwand, nämlich die Plünderung einer Karawane durch Renaud
de Châtillon. Saladin steht auf dem Gipfel seiner Macht: Sein
Reich erstreckt sich von Tripolis bis zum Tigris, vom Indischen
Ozean bis nach Armenien. Er hat Mekka zurückerobert und
brennt darauf, die Aksa-Moschee in Jerusalem zu befreien. Es ist
der Kreuzzug der Gegenseite. Auch Saladin ist Verkünder des
Heiligen Krieges und brutaler Eroberer in einem. »Mein Banner
ist das aller, die den Islam verehren und die Christen hassen«,
proklamiert er offen, »aber auch derer, die Reichtümer, Land
oder Paläste begehren.«
Die erste Schlacht findet auf dem Berg Tabor [2] statt. Die
Hospitaliter verlieren dabei ihren Großmeister Roger des Moulins.
Von den Templern kommen nur Gérard de Ridford und
zwei Ritter mit dem Leben davon. Die zweite Schlacht wird auf
dem Hattin [3] bei Sepphoris [4] geschlagen. Sie endet mit einer
neuerlichen Katastrophe. Unter den zahlreichen Gefangenen sind
Lusignan und Ridford. Saladin zeigt sich den Gefangenen gegen50
über großmütig, nur Renaud de Châtillon enthauptet er eigenhändig.
Da er die Templer und Hospitaliter jedoch für Erzfeinde
des Islams hält, läßt er ihnen nur eine Alternative: ihrem Glauben
abzuschwören oder zu sterben. Es ist anzunehmen, daß keiner
das Kreuz verleugnet hat, denn es wurden alle mit dorn Krummsäbel
enthauptet. Als einziger bleibt Gérard de Ridford, Großmeister
des Templerordens, übrig ...
Lusignan und Ridford sind in einer ungünstigen Position für
Verhandlungen. Sie werden zwar befreit, aber von jetzt ab beginnt
das militärische und religiöse Ansehen der Templer überall
zu sinken. Nach dem letzten gemeinsamen Blutvergießen befehden
sich Templer und Hospitaliter heftiger als je zuvor. Im Laufe
desselben Jahres 1187 hält Saladin seinen Einzug in Jerusalem
und nimmt damit dem christlichen Königreich seine Hauptstadt.
Der Wind hat sich gedreht. Im Abendland überlegt man, wie
man sich dem Islam gegenüber verhalten soll. Kampf bis zum
letzten oder Kompromiß? Der Klerus und die Mehrzahl der Ritter
neigen zur ersten Lösung, Bürger und Kaufleute zur zweiten.
Und als man sich zum dritten Kreuzzug entschließt, sind durchaus
gegensätzliche Hintergedanken im Spiel.
König Philipp II. August von Frankreich und der deutsche
Kaiser Friedrich Barbarossa haben eine Wiedereroberung im
Sinn. König Heinrich II. Plantagenet von England und sein Sohn
Richard Löwenherz dagegen erwägen, sich mit Saladin in die
Herrschaft über das Heilige Land zu teilen.
Dieser Plan findet starke Unterstützung bei dem Grafen von
Toulouse, Raymond V., dem »König des Südens«.
Raymond hat dafür zwei gute Gründe. Unter dem Vorwand,
einen Kreuzzug gegen die ketzerischen Albigenser, Raymonds
Schützlinge, zu führen, hat der König von Frankreich gegen sein
Land einen Vernichtungskrieg entfesselt, der ein halbes Jahrhundert
dauern soll. Bei der Verteidigung seiner bedrohten Unabhängigkeit
kann der Graf einen Trumpf ausspielen – seine
Verbindungen mit dem Orient. Von Marseille bis Narbonne gehört
ihm die ganze Mittelmeerküste. Tripolis, die »Tochter von
Toulouse«, ist seine Kolonie. Die südfranzösische Wirtschaft lebt
51
primär vom Handel mit den Muselmanen. Und schließlich ist das
Schicksal seiner Schwester Inde vom diplomatischen Gesichtspunkt
aus höchst bemerkenswert. Sie wurde als Sklavin an den
seldschukischen Sultan Nureddin verkauft und dann dessen Frau.
Nach ihrer Verwitwung heiratete sie Saladin. Da sich romantische
Liebe mit hoher Politik verbindet, werben die musischen Fürsten
Richard Löwenherz und Raymond ihre sämtlichen Troubadoure
für den Kreuzzug an.
Die anglo-meridionalen Pläne wiederum entsprechen durchaus
der Politik der Templer im Orient. Während sich der Orden von
Frankreich und Deutschland distanziert, nähert er sich England
und Südfrankreich immer mehr an. Jenseits des Kanals steht er
von Anfang an unter dem wohlwollenden Schutz der Könige.
Seit der Heirat der Eleonore von Aquitanien mit Heinrich II.
Plantagenet erhält er sogar noch weiterreichende Privilegien als
zuvor. In Palästina hat der Templerorden Guy de Lusignan,
einen Freund von Richard Löwenherz, gegen Raymond von Zypern,
den Kandidaten der Franzosen und Deutschen, unterstützt.
Seine Beziehungen zu den Grafen von Toulouse sind ebenfalls
gut. Im Orient hat er dieselben Stützpunkte wie diese: Syrien und
den Libanon. Graf Alphonse, der Vater von Inde, hat sich in
der »Pilgerburg« der Templer beisetzen lassen. Schließlich wahrt
der Templerorden in der albigensischen Frage Südfrankreich
gegenüber eine wohlwollende Neutralität.
So sind die Templer die Hauptstütze des Unternehmens, das
unter dem Banner des dritten Kreuzzuges eine dauerhafte Brücke
zwischen Okzident und Orient schlagen will. Da sie seit zwanzig
Jahren die besten Beziehungen zu Saladin haben, fördern sie die
Eheschließung seines Bruders Abd El Malek mit der Schwester
Richards.
Diese Mittlerrolle bringt ihnen praktischen Gewinn. Richard
Löwenherz überläßt ihnen Zypern zur Empörung der Hospitaliter.
Der Troubadour Robert de Sablé wird als erster einer langen
Folge von Südfranzosen zum Großmeister gewählt: Gilbert
Errail, Pierre de Montaigu, Armand de Périgord, Guillaume
de Sonnac. Ihre Haltung birgt jedoch auch Risiken. Dadurch, daß
52
sie gegen die französische Politik opponieren, untergraben die
Templer ihre Stellung in dem Land, das ihre Wiege, ihr Hauptsitz
in Europa und die älteste Tochter der Kirche zugleich ist.
Ehe sie noch zur Zielscheibe Philipps des Schönen werden, geraten
sie in Konflikt mit Ludwig dem Heiligen. Die Könige von Frankreich
spielen die Hospitaliter gegen sie aus und die deutschen
Kaiser die Deutschen Ordensritter. 1229 schließlich gibt ihnen
Kaiser Friedrich II. einen Vorgeschmack dessen, was sie riskieren:
er verjagt sie aus Sizilien und konfisziert ihre Besitzungen.
So wird in dem Augenblick, da der Ehrgeiz des Templerordens
am größten ist, da er nach und nach die Zwistigkeiten zwischen
orientalischen und aus Europa stammenden Christen, zwischen
sämtlichen Christen und Muselmanen, zwischen orthodoxen und
häretischen Muselmanen beseitigt hat und sich als Schiedsrichter
über alle beteiligten Parteien stellen will, seine Zukunft fragwürdig
und völlig abhängig vom Heiligen Stuhl, der bisher für
ihn nur eine rein theoretische Autorität darstellte. Dem großen,
weitblickenden Papst Innozenz III. widerstrebt zwar der Ehrgeiz
der Templer. Trotzdem unterstützt er sie und festigt ihre
bevorzugte Stellung innerhalb der geistlichen und militärischen
Orden. Doch sobald einer seiner Nachfolger den Templerorden
fallenläßt, wird dieser Koloß auf tönernen Füßen zusammenstürzen.
Den Templern bleibt keine Wahl hinsichtlich ihrer Politik.
Ihre freundschaftlichen Beziehungen zum Orient werden durch
Klugheit wie durch Interessen bestimmt. Zweifellos sind sie sich
als Soldaten klarer darüber als jeder andere, wie unsicher und
fragwürdig militärische Eroberungen sind. Andererseits aber sind
die Kreuzzüge hinter ihrer religiösen Fassade ein gewaltiges
kaufmännisches Unternehmen. Die Templer nun stehen an der
Spitze dieses Unternehmens. Ihre wachsende wirtschaftliche Macht
gründet sich größtenteils auf den kleinasiatischen Markt. Als
Reeder stehen sie an vorderster Stelle. Ihre gewaltige Flotte lebt
von den orientalischen Häfen. Jedes ihrer Schiffe faßt 1500 Passagiere.
Verständl:dierweise hätten sie lieber Waren befördert als
die Truppen Ludwigs des Heiligen, zumal sie lange mit der
53
Stadtverwaltung von Marseille um das Recht gekämpft hatten,
hier Fracht aufzunehmen.
Der Siebte Kreuzzug wird eine einzige Niederlage. Der Mongole
Baibars, ein einstiger Sklave, nimmt Ludwig IX. gefangen
und ließ sich zum Sultan ausrufen. All das hatten die Templer vorausgesehen.
Sie sträubten sich gegen die Finanzierung des Kreuzzuges
und gaben erst nach, als Joinville theatralisch drohte, ihre
Schatztruhen aufzubrechen. Dabei schwang er ein Beil und schrie:
»Dieses Beil ist der Schlüssel des Königs!« Bevor sie ihr Blut vergossen,
rieten sie von dem wahnwitzigen Angriff auf Mansurah
ab. Trotzdem gibt der König von Frankreich ihnen die Schuld
an den Folgen seiner eigenen Unbesonnenheit. Als er, durch Umstände
gezwungen, die rechtzeitig einzusehen er abgelehnt hatte,
Verhandlungen mit Baibars aufnimmt, wirft er den Templern
Defaitismus vor. Seit den Lobeshymnen Ludwigs VII. ist viel
Zeit verstrichen. Diesmal verkündet der Graf von Artois: »Wenn
die Templer gewollt hätten, wäre das Heilige Land seit langem
erobert.« Man sieht, politische Ablenkungsmanöver sind keine
Erfindung unseres Jahrhunderts...
Und 1291 verliert das Abendland in der Katastrophe von
Akkon endgültig den Rest seiner Gebiete. Tapfer decken die
Templer den Rückzug, begründen auf Zypern eine Zwischenlandestation
und ziehen sich nach Europa zurück.
Ihre hiesige Macht ist mit jedem Jahr gewachsen. In siebzehn
Ländern haben sie ihre Komtureien und sind überall zu einem
Staat im Staate geworden. Wie bereits erwähnt, genießt der
Templerorden in England hohes Ansehen. Sein Einfluß in Spanien
ist so groß, daß König Alfons I. von Aragonien ihm testamentarisch
die Regentschaft überträgt. Doch das Volk will sein
Schicksal nicht in den Händen einer reichen, internationalen
Macht sehen. In Aragonien wird der König vom Volk gewählt,
und so scheitert Alfons Plan. Überall gehört die Überwachung
von Maßen und Gewichten zu den Aufgaben des Templerordens.
Das verleiht ihm in jenen Zeiten ein fast mystisches Ansehen.
Denn in der Bibel steht: »Falsche Waage ist dem Herrn ein
Greuel; aber völliges Gewicht ist sein Wohlgefallen.« [5]
54
Doch der Orden vergißt nicht, daß seine Wiege in Frankreich
stand. Ohne zu ahnen, daß er dort bald sein Grab finden wird,
wählt er es als seinen Hauptsitz. Nach dem Verlust des Heiligen
Landes wird der Temple von Paris das neue »Mutterhaus«. Von
hier aus spinnen die Großmeister überallhin ihre Fäden.
DAS FÜLLHORN
Der Temple war ursprünglich ein bescheidener, umfriedeter
Platz bei der Kirche Saint-Gervais et Saint-Protais neben dem
Rathaus. König Ludwig VI. hatte ihn auf ausdrücklichen Wunsch
Sankt Bernhards im Jahre 1137 zweien von den neun Begründern
des Ordens geschenkt: Andre de Montbard und Gondemar.
Die beiden ließen dort eine runde Kapelle erbauen, deren Plan
in stark verkleinertem Maßstab dem des Heiligen Grabes entsprach.
Den Templern wurde es hier bald zu eng. Sie errichteten weiter
im Norden der Stadt die bereits erwähnte gewaltige Festung.
Durch ein erhalten gebliebenes Register erfährt man, daß im
Jahre 1247 ihr beiderseits der Seine liegender Grundbesitz ein
Drittel von Paris ausmacht, von der Sorbonne bis zum heutigen
Platz der Republik.
Die Pariser Besitzungen bilden jedoch nur einen bescheidenen
Bruchteil der angesammelten Reichtümer. Dem Orden gehören
zehntausend in ganz Europa verstreute Burgen, und der Wert
seiner beweglichen Habe kann auf einhundertzwölf Milliarden
Francs geschätzt werden. Diese Zahl wirkt um so erstaunlicher,
wenn man bedenkt, daß es im Mittelalter fast gar keine Industrie
gab und das Volkseinkommen jedes europäischen Landes
etwa tausendmal geringer war als heute.
Seit seiner Gründung hatte der Templerorden zahlreiche Stiftungen
erhalten. 1222 schenkte Philipp II. August ihm 2000 Goldmark,
zwei Jahre später weitere 50 000. Andere Herrscher und
55
der Heilige Stuhl zeigten sich ebenso großzügig. Außerdem profitierte
der Orden von der adligen Herkunft seiner Mitglieder.
Wenn sie starben, beerbte er sie. Da er ja von Steuern und Abgaben
befreit war, wuchs sein Reichtum rasch. Aber selbst all dies
zusammengenommen erklärt noch keineswegs das riesige Vermögen
der Templer.
Die Könige von England, Johann ohne Land und später Heinrich
III., vertrauen ihnen bald die Verwaltung ihrer persönlichen
Einkünfte an. Und in Frankreich übertragen ihnen die Herrscher
von Philipp II. August bis zu Philipp dem Schönen sogar die Verwaltung
des Staatsschatzes.
Darüber hinaus leihen Könige und Fürsten den Templern Geld,
und mehrere Päpste, zum Beispiel Alexander III., ebenfalls.
Der sagenhafte Reichtum der Templer beschäftigt die Zeitgenossen
um so mehr, als über seine Herkunft strengstes Stillschweigen
gewahrt wird. Er erregt Neid, der sich mit Bewunderung
paart. Die häufigste Erklärung entspricht durchaus dem
Zeitgeist: die Templer betreiben Alchimie und haben den Stein
der Weisen gefunden, das heißt das Geheimnis, Blei in Gold zu
verwandeln. Dieses Gerücht bleibt nicht ohne Folgen, wie sich
noch zeigen wird. Der Stein der Weisen, den die Tempelritter
angeblich gefunden haben, entstammt allerdings keiner Retorte,
sondern einer geschickten, für die damalige Zeit umwälzend
neuen Finanzgebarung.
Die Templer sind nämlich Bankiers. Genaugenommen hat es
bereits in der Antike Banken gegeben, eine Einrichtung, die in den
Handelsstädten Italiens gerade wieder ins Leben gerufen wird.
Doch die Banken der Antike haben mit den modernen nur den
Namen gemeinsam. Sie waren lediglich »Speisekammern«, in
denen das Geld, ohne Nutzen zu tragen, aufbewahrt wurde. Da
es zu jener Zeit nur handwerkliche Erzeugnisse gab und die
Kirche jede Art von Zinsdarlehen als Wucher ausdrücklich untersagte,
war das auch gar nicht anders möglich.
Nun ist das Banksystem der Templer von bisher unbekannter
Kühnheit. Sämtliche modernen Manipulationen sind vertreten:
Eröffnung von laufenden Konten, Aussetzung von Renten und
56
Pensionen, Darlehen, Bürgschaften, Konsignationen, Pfandleihe,
Inkasso, Führung von Sonderkonten, internationaler Geldtransfer,
Wechselgeschäfte.
Durch diese Einrichtungen wird der Orden unentbehrlich. Die
Unsicherheit der Straßen und die häufigen Schiffbrüche machten
Geldtransporte damals gefährlich. Ein von einer Ordenskomturei
auf die andere gezogener Wechsel ermöglichte es nun den reichen
Kaufleuten, ohne großes Gepäck und Gefolge zu reisen und nach
der Ankunft ihre Gelder in Empfang zu nehmen. Manche dieser
Wechsel sind erhalten geblieben. Sie erregen heute noch die Bewunderung
der Volkswirtschaftler. Es gibt darauf zehn Spalten:
Datum, Herkunftsort, Bestimmungsort, Höhe des Betrages, Art
der Devisen, Verfalltag, Name der Aussteller, Name der
Wechselnehmer, Bemerkungen und Kurs. Die letzte Spalte ist am
interessantesten. Sie zeigt, wie die Templer das kirchliche Verbot,
Zinsdarlehen zu geben, dadurch umgingen, daß sie auf den von
Ort zu Ort schwankenden Wechselkurs spekulierten. Außerdem
erhoben sie Aufgeld und Maklergebühr im voraus. Mit Hilfe
dieser beiden Maßnahmen wuchs ihr Kapital schnell an. Ein Jahrhundert
später begründet Jacques Coeur, ebenfalls Alchimist,
Reeder und Bankier, mit denselben Mitteln sein außerordentliches
Vermögen. Um der Wahrheit willen muß betont werden, daß zwar
der Templerorden ungeheuer reich geworden ist, daß aber manche
seiner Mitglieder trotzdem arm blieben. Einem Großmeister bot
Saladin die Freilassung an und erhielt die stolze Antwort: »Ein
Templer kann als Lösegeld nur seinen Gürtel und sein Schwert
bieten.« Die große Geste vergangener Zeiten – und dabei hätte es
ihn nur ein Wort gekostet, mit einem Goldregen sofort die Tore
seines Gefängnisses zu öffnen.
Anfang 1300 haben die Templer fast zwei Jahrhunderte unaufhörlichen
Aufstiegs hinter sich. Ihre weltliche Macht hat sich
allerdings durch den Verlust des Orients verringert, bleibt aber
immer noch gewaltig. Nach weiteren sieben Jahren jedoch erfolgt
der völlige Zusammenbruch. Bevor wir auf ihren Sturz kommen,
wollen wir noch einmal ihr Werk betrachten.
Für dieses Werk, das völlig im Mittelalter wurzelt, gibt es nur
57
eine Kennzeichnung: reiner Renaissancestil. Als Mönchsoldaten
sind sie Jesuiten vor Ignatius von Loyola; Kreuz- und Seefahrer
vor Kolumbus; Konquistadoren vor Cortez und Pizarro; Verhandlungstaktiker
vor den Dogen; Stifter des Religionsfriedens
vor Heinrich IV; Föderalisten vor Karl V.; Finanziers und
Bankiers vor den Medici. Doch die Geschichte duldet weder Vorläufer
noch Epigonen. Wer die Früchte zu grün pflückt, für den
bleiben sie stets giftig. Philipp der Schöne war ein großer König.
Er wußte sie stets zum rechten Zeitpunkt zu pflücken.
DER STURZ
Philipp besteigt den Thron von Frankreich im Jahre 1285. Der
Enkel Ludwigs des Heiligen ist siebzehn Jahre alt. Ein unzugänglicher
Jüngling, der nicht antwortet, wenn man ihn anspricht, und
den ein Besucher als »Gespenst« in Erinnerung behält. Er hat sich
eine zweifache Aufgabe gestellt: das Land zu einen und einen
zentralistischen Staat aufzubauen. An der Erfüllung dieser Ziele
arbeitete er unermüdlich und ohne jeden Skrupel, gegen die Engländer,
gegen die Feudalherren und den Klerus im Innern und in
mancher Hinsicht gegen die Wünsche des Papstes.
Von Kindheit an hat ihn sein ghibellinischer Hofmeister Gilles
Colonna, Erzbischof von Bourges, gelehrt, daß der König von
Frankreich seine Machtvollkommenheit allein von Gott empfängt
und daß Jesus Christus seiner Kirche niemals irgendwelchen
weltlichen Besitz gegeben hat.
Als er mit König Eduard I. von England in Konflikt gerät,
läßt er sich nicht einmal soweit herab, ihm den Krieg wie einem
Souverän zu erklären, sondern behandelt ihn als aufrührerischen
Vasallen. Und als Papst Bonifatius VIII. sich als Vermittler anbietet,
verlangt er von ihm, er solle es als Privatmann unter
seinem Taufnamen Benedikt Cajetan tun. Später kämpft der
ultramontane Papst mit allen Mitteln darum, daß der franzö58
sische Klerus keine Abgaben an den Staat entrichten muß.
Daraufhin schickt ihm der junge König folgenden Brief: »Philipp,
König der Franzosen von Gottes Gnaden, grüßt Bonifatius, den
vorgeblichen Pontifex maximus, kaum oder auch gar nicht. Euer
Allerhöchster Wahnwitz möge zur Kenntnis nehmen, daß Wir im
weltlichen Bereich keinem untenan sind.«
Bonifatius erwidert in derselben Tonart: »Ich werde Euch absetzen
wie einen kleinen Jungen«, und läßt dem Wort die Tat
folgen. Er exkommuniziert Philipp und bietet Albert von Österreich
die Krone Frankreichs an. Nun läßt Philipp ihn durch
seinen Großsiegelbewahrer und Generalsekretär Guillaume de
Nogaret verhaften und durch einen seiner ergebenen Colonna mit
einem Eisenhandschuh ohrfeigen. Der Papst wird befreit, stirbt
aber wenige Tage später an dem erlittenen Schock.
Darf man an große Herrscher die Maßstäbe der allgemeingültigen
Moral anlegen? Die Macht des »Eisernen Königs« stützt
sich im wesentlichen auf das Bürgertum der Städte, dessen wachsende
Bedeutung er erkannt hat. Wenn er auf Widerstand trifft,
bricht er ihn dadurch, daß er die Generalstände einberuft, mit
denen er die kommunale Revolution legalisiert und eine Vertretung
des dritten Standes geschaffen hat. Läßt es sich gar nicht umgehen,
scheut er auch vor Unpopularität nicht zurück. Aber – und
das ist zu seiner Zeit etwas völlig Neues – er erkennt die Bedeutung
der öffentlichen Meinung und beherrscht die Kunst, die
Massen zu mobilisieren. Bei seinem Tod sind die Wunden geheilt,
die der Kreuzzug gegen den Süden des Landes geschlagen hat. Er
hat Guyenne, Quercy und die Stadt Lyon der Krone angegliedert
und dieses neugeschaffene einheitliche Staatsgebilde einer zentralisierten
Verwaltung unterstellt. Aus allen diesen Gründen kann
man seine Regierung trotz ihrer Doppelbödigkeit positiv beurteilen.
Zwanzig Jahre hindurch stehen Philipp und die Templer in
guten Beziehungen zueinander. In politischer Hinsicht sind beide
gleichermaßen über die Willkür von Bonifatius beunruhigt, der
ihre Souveränität zu zerstören droht. Der Orden verkündet, er
werde das Königreich selbst gegen den Papst verteidigen, wäh59
rend der König wiederum den Orden »seiner besonderen Gunst
und seiner aufrichtigen Zuneigung« versichert und ihm neue
Privilegien bewilligt. Im Finanzwesen plant Philipp vorübergehend,
dem Louvre, dem von ihm geschaffenen ersten Vorläufer
einer Art Staatsbank, die vom Temple innegehabten Verwaltungsaufgaben
teilweise zu übertragen. Schnell sieht er jedoch
ein, daß er den Temple nicht ausschalten kann, und gibt diesem
daher alle seine Vollmachten zurück. Anscheinend ist sogar der
Ansatz zu einer menschlichen Beziehung vorhanden: der neue
Großmeister des Ordens, Jacques de Molay, wird Taufpate der
Tochter des Königs. So laufen die Dinge bis zum Jahre 1304.
Die Anhänger der Templer stellen den Keulenschlag, den ihnen
Philipp der Schöne versetzt hat, stets als schandbares Verbrechen
eines Mannes dar, der seinen Wohltäter umbringt, um ihn zu
bestehlen. Doch das ist Schwarzweißmanier. Es hat vielmehr
durchaus den Anschein, als sei unter der Maske ungetrübter Beziehungen
von beiden Seiten sehr bald ein doppeltes Spiel getrieben
worden.
Der Reichtum des Templerordens hat seit langem Neid und
Eifersucht erregt. Bistümer und Abteien fühlen sich betrogen bei
jedem Testament, das ein reicher Ritter zu seinen Gunsten macht.
Bereits um die Mitte des 12. Jahrhunderts wird vorgeschlagen,
alle vom Orden innerhalb der vergangenen zehn Jahre erworbenen
Vermögenswerte zu konfiszieren. In den ersten Reihen
dieser Neider befinden sich die ständigen Rivalen der Templer,
die Hospitaliter. Sie intrigieren unaufhörlich bei den Päpsten,
um eine Verschmelzung der beiden Orden zu erlangen. Dabei
weisen sie auf die schädliche Wirkung des andauernden Konfliktes
hin. Eine solche Verschmelzung hätte die Hospitaliter
beträchtlich bereichert. Ihr Besitz, vor allem an Grund und
Boden, hat sich keineswegs im selben Tempo an Wert erhöht wie
die bewegliche Habe der Templer. Diese lehnen allerdings bis
zum Schluß eine Zusammenlegung beider Orden ab.
Es stimmt, daß einer der Ratgeber Philipps, der einfallsreiche
Pierre Dubois, diesen Plan genau ausgearbeitet hat. Nach einer
Verschmelzung sollen Templer und Hospitaliter höflich, aber
60
bestimmt in den Orient zurückgeschickt werden und die verschiedenen
Staaten sich ihrer europäischen Besitzungen bemächtigen.
Dubois schätzt die dabei zu gewinnenden Einkünfte auf 800 000
tourische Livres im Jahr.
Es stimmt ferner, daß Philipp Etatsdiwierigkeiten hat und
mehrfacher Schuldner der Templer ist. 1297 läßt er sich von
ihnen 2500 Livres vorstrecken. Ein Jahr später entleiht er ohne
Wissen des Großmeisters abermals 200 000 Florin. Der Großmeister
setzt daraufhin seinen leichtsinnigen Schatzmeister ab.
1300 borgt der König für die Mitgift seiner Schwester wiederum
500 000 Francs. Außerdem ist er dem Orden moralisch verpflichtet,
was seinen Stolz bestimmt viel schwerer trifft als alles andere.
1306 steigen die Preise infolge einer Geldabwertung um 65 Prozent
– der dritten – sprunghaft an. Das löst einen Volksaufruhr
aus, so daß der König Hals über Kopf im Temple von Paris
Zuflucht suchen muß. Die Erinnerung daran ist in zweifacher
Hinsicht demütigend für Philipp. Einige Zeit vorher verlangte er
seine Aufnahme in den Orden und das Amt des Großmeisters in
der Hoffnung, dadurch viel Geld zu gewinnen. Er erfährt kalte
Ablehnung. Außerdem weiß er, daß die Templer unterderhand
den Volksaufstand gefördert haben. Nun ist aber durch die Finanzgeschäfte
des Temple der Münzenumlauf verringert worden, was
dazu beigetragen hat, die Geldabwertung unvermeidlich zu
machen.
Es sind also bei Philipps Aktion gegen den Orden sehr wohl
wirtschaftliche Beweggründe vorhanden, doch sie beruhen nicht
auf reiner Habsucht.
Aber es gibt noch andere Motive. Wie hätte Philipp im selben
Augenblick, da er die Münzrechte des Adels und die Rechtsprechung
des Klerus einschränkt, einen geistlichen Ritterorden weiterhin
dulden können, der von Steuern und Abgaben befreit ist
und seine eigene Jurisdiktion hat? Den seit langem Interessen und
Sympathien mit England verbinden, während Philipp gegen England
Krieg führt. Der in Frankreich über ein Heer von 30 000
Mann verfügt und dessen Großmeister ebenso wie er behaupten,
ihr Amt nur »von Gottes Gnaden« empfangen zu haben, wäh61
rend Philipp einen Staat mit absolutem Monarchen geschaffen hat.
Der die verschiedenen Nationen, die im Schutz gewähren, offiziell
als »Provinzen« bezeichnet, während Philipp sein Land eint.
Seit dem Verlust von Jerusalem sind die Ziele der Templer
immer undurchsichtiger geworden. Ihre finanzielle Unterstützung
kann sich als ebenso zweischneidig erweisen wie ihre politische.
Gestern haben sie den König gegen einen Papst ausgespielt, aber
morgen schon können sie einen anderen Papst gegen den König
ausspielen.
Denn es folgen einander sehr ungleiche Päpste. Nach dem ultramontanen
Bonifatius kommt der Sonderling Benedikt XI. Er
stirbt bezeichnenderweise am übermäßigen Genuß von frischen
Feigen. Und der unter dem Namen Clemens V. gewählte ist wieder
von anderer Art.
Bertrand de Got [6] stammt aus dem alten vornehmen gascognischen
Geschlecht der Vicomtes de Lomagne, das der Kirche
bereits mehrere Häretiker und einige Kardinale beschert hat und
das – getreu der Tradition seiner Provinz – mehr Ahnen und
Nachkommen besitzt als Geld. Sein Vater war ein bedeutender
Mann, aber arm wie Hiob. Die Biographen berichten, daß Bertrand
als Kind die Schafe seiner Familie hütete und von einem
armen Schuhmacher aus Bazas das erste Paar Schuhe und den
ersten Unterricht im Lesen bekam.
Der glänzend begabte Junge besucht nach der Schule mehrere
Universitäten – Agen, Paris, Bologna. Über das Studium der
Rechtswissenschaften hinaus eignet er sich eine umfassende Bildung
an, die sich immer wieder während seiner raschen geistlichen
Karriere zeigt. Bald steht er an der Spitze des Bistums Comminges.
Er wird »der Bischof mit dem Einhorn« genannt, da das
Hörn dieses Fabeltieres als Bischofsstab dient. [7] Er hat eine
Vorliebe für Architektur und läßt Saint-Bertrand-de-Comminges
bauen, ein eigenartiges gotisches Kleinod, halb Kathedrale, halb
Festung. Vom Orient fasziniert, gründet er Lehrstühle für Hebräisch,
Syrisch und Arabisch an mehreren Universitäten. Als begeisterter
Leser von Albertus Magnus zieht er den berühmten Arzt
und Alchimisten Arnold von Villanova heran. So gleichen seine
62
geistige Richtung und seine Interessen denen der Templer in erstaunlicher
Weise.
Viele Schriftsteller haben ihn als Schwächling, als Marionette
Philipps des Schönen geschildert, was jedoch keineswegs zutrifft.
Er nimmt für Bonifatius gegen den König Stellung. Deshalb wird
sein gesamter Besitz beschlagnahmt. Trotz des königlichen Verbots
geht er im kritischen Augenblick nach Rom. Das geschieht
nicht aus Mut, sondern aus Berechnung. Denn Bertrand treibt
trotz des stolzen Wahlspruchs seiner Familie par infimis – Den
Ärmsten gleich – großen Aufwand und ist vor allem ein Karrieremacher.
Er geht nirgendwohin ohne seine Geliebte, die schöne
Brunissende, eine Nachfahrin von Bernard Aton, Vicomte dAlbi,
Gemahlin von Hélie, Graf de la Marche. »Sie kostet ihn mehr als
das Heilige Land«, sagt man von ihr. Er schreibt für sie provenzalische
Verse, die weniger leidenschaftlich – was nicht seiner Art
entspricht – als vielmehr preziös sind:
Schöner bist du als der Tag;
Und weißer noch als der Schnee.
Keine andre Barke ich wünschen mag,
Um den Quell unsrer Liebe zu finden.
Mit zweiunddreißig Jahren ist er Bischof, mit sechsunddreißig
Kardinal. Da dieser Mann von Stendhalscher Prägung mit Vierzig
die Tiara begehrt, muß er seinen Frieden mit dem König von
Frankreich machen.
Nun ist das Konklave in die Anhänger der Colonna, die für
Philipp sind, und die der Orsini, die das Andenken von Bonifatius
hochhalten, gespalten. Es tagt seit zehn Monaten ohne Ergebnis.
Um aus der Sackgasse herauszukommen, wird beschlossen,
daß die Colonna den Orsini eine Liste mit drei Kandidaten zur
Abstimmung unterbreiten. Die Stunde des Diplomaten Bertrand
hat geschlagen. Bisher hat er eindeutig für Rom Stellung bezogen.
Wenn er sich ebenso eindeutig für den König entscheidet, wird
man sich auf seine Wahl einigen.
Der Kirchenfürst und der König treffen sich in Saint-Jeand
Angély. Nach dem Bericht des Chronisten Villani ist die Begeg63
nung streng geheim. Philipp weiß, was von Versprechungen zu
halten ist. Deshalb läßt er Bertrand auf die Hostie schwören, daß
er nach seiner Wahl ein Programm von sechs Punkten erfüllen
werde. Die ersten fünf entscheiden rückwirkend alle Zwistigkeiten
mit Bonifatius zugunsten des Königs. Der sechste ist ein
Blankoscheck: Philipp behält sich vor, dessen Inhalt zu dem von
ihm gewünschten Zeitpunkt bekanntzugeben. Historiker behaupten
später, es habe sich dabei um die Auflösung des Templerordens
gehandelt.
Die Inthronisation Bertrands findet in Lyon statt. Der König
persönlich hält ihm die Steigbügel. Das ist mehr als ein Symbol.
Aber ein Unfall beschattet die Zeremonie: eine Mauer stürzt unter
dem Gewicht der Zuschauer ein. Zwölf Mitglieder des Gefolges
werden getötet, darunter der Herzog der Bretagne, ein souveräner
Fürst. Der neue Papst selber fällt aus dem Sattel. Er verliert dabei
den schönsten Stein aus seiner Tiara, einen Karfunkel im Wert
von 6000 Florin. Während des abendlichen Festmahls bricht ein
Streit zwischen den Angehörigen des Papstes und denen der Kardinale
aus. Man hat reichlich getrunken, man zieht vom Leder,
und einer der Brüder Bertrands wird getötet. All das läßt Unheil
ahnen – ein Pontifikat, das unter einem Unglücksstern beginnt.
Clemens V. erfüllt nacheinander die fünf Punkte, jedoch auf
seine Weise. Er operiert nämlich mit sämtlichen ihm als Rechtsgelehrten
vertrauten Kniffen. Von den versprochenen neun französischen
Kardinalen ernennt er vier aus seiner Familie, um nicht
von der Gnade des Königs abzuhängen. Wie Philipp ihn gebeten
hat, setzt er eine päpstliche Kommission ein, die eine Untersuchung
über das Pontifikat Bonifatius VIII. führen soll. Diese
Kommission stellt nun fest, daß der selbstherrliche Papst nicht
nur seinen Vorgänger, den Mystiker Zölestin V., vergiftet hat,
sondern außerdem noch homosexuell, Magiker und obendrein
Atheist gewesen ist. Clemens V. war Hauskaplan Zölestins und
hat sich zu Bonifatius Zeiten lange in Rom aufgehalten. Damit
ist er wohl in der Lage, diese Anschuldigungen zu beurteilen. Sofern
er daran glaubt, muß er einen solchen Teufelspapst noch
postum in Grund und Boden verdammen. Sofern nicht, muß er
64
Philipp als Verleumder brandmarken. Doch nein, er schafft es,
weder die Tiara, die er sich gerade aufgesetzt hat, zu verunglimpfen
noch den, dem er sie verdankt. Er spricht Philipp frei, ohne
Bonif atius zu verurteilen.
Während darüber ein Jahr hingeht, bereitet der König systematisch
seine Offensive gegen den Templerorden vor. Er überläßt
nichts dem Zufall, denn es handelt sich hier um einen schwerverdaulichen
Brocken. Zunächst werden Polizeiberichte gesammelt.
Ein zweifelhaftes Individuum namens Esquieu de Floyran, einstiger
Mitprior des Temple von Montfaucon, hat in Béziers eine
zivilrechtliche Strafe verbüßt und dabei die Geständnisse eines
Mithäftlings gehört, ebenfalls eines ehemaligen Templers, der aus
dem Orden ausgestoßen worden ist. Zunächst versucht Floyran,
seine Informationen dem König von Aragonien zu verkaufen,
wird jedoch abgewiesen. Dann wendet er sich an Philipp und findet
williges Gehör. Doch ein paar Redereien ergeben noch keine
fundierte Unterlage. Man sucht also weitere Denunzianten, bringt
Spione im Orden unter und verhaftet schließlich hier und dort
einige Templer, die man in Einzelhaft nach Corbeil bringt. Diesmal
macht sich Nogaret, der Großsiegelbewahrer, persönlich die
Mühe, sie zum Sprechen zu bringen. Allmählich steigt die Temperatur.
Es findet sich ein Templer aus vornehmer Familie, der dem
Papst direkt zuträgt, der ganze Orden sei abtrünnig geworden.
Philipp hält nun den Augenblick für gekommen, Clemens V.,
der ja als einziger das Recht dazu hat, aufzufordern, er möge
Schritte gegen den Orden unternehmen, gegen den so schwere Anschuldigungen
erhoben werden. Doch der schlaue Gascogner läßt
sich nicht zum Narren machen. Er weist zunächst einmal die Anschuldigungen
zurück. Sie seien »unwahrscheinlich und beinahe
unglaublich«, schreibt er. Dann versucht er, auf seine Weise den
Schlag zu parieren. Mit vorheriger Zustimmung des Großmeisters
Molay ordnet er eine Untersuchung gegen den Templerorden an,
und zwar in der Absicht, diesen von Gerüchten freizusprechen,
die sich seit dem Verlust von Jerusalem fraglos immer mehr verdichtet
haben. Aber der König ist ebenso gerissen. Er erkennt
sofort, daß seine Pläne aufs schwerste gefährdet sind, falls die
65
Beauftragten des Heiligen Stuhles die Unschuld der Templer
feststellen. Daher beschließt er, die Dinge gewaltsam voranzutreiben.
Am Freitag, dem 13. Oktober 1307, werden bei Morgengrauen
sämtliche Templer des Königreiches durch eine vorbildlich aufeinander
abgestimmte Polizeiaktion verhaftet. In Paris dringt Nogaret
persönlich in den Temple ein, nimmt hundertfünfzig Ritter
fest, darunter den Großmeister Jacques de Molay, der noch am
Vorabend gemeinsam mit dem König das Bahrtuch beim Leichenbegängnis
einer Prinzessin gehalten hat.
Doch warum nur bleiben die Opfer sowie die Sieger dieses Gewaltstreiches
nicht gelassener? Als sie gefangengenommen werden
sollen, stürzen sich acht Templer von den Zinnen auf den Innenhof
des Temple und bleiben zerschmettert liegen. König Philipp
folgt seinen bewaffneten Leuten auf dem Fuß. Das »Gespenst«
hat seine legendäre Kaltblütigkeit verloren. Er eilt geradewegs zu
einem Grab, läßt es öffnen und schleudert bleich vor Wut eine
Handvoll Gebeine in den Herbstwind. Sie stammen von Bruder
Hubert, dem Architekten, der einst den Turm des Temple erbaut
hat.
DER PROZESS
Vom 14. September ab hatte der König Rundschreiben an alle
seine Statthalter und Seneschalle gesandt. Sie durften erst im
letzten Augenblick geöffnet werden und enthielten den genauen
Zeitplan für die Aktion. Der Großsiegelbewahrer Gilles Aiscelin,
Erzbischof von Narbonne, weigerte sich nach bestem Wissen und
Gewissen, diesen Beschluß zu unterzeichnen, da er die rechtliche
Souveränität der Templer verletze und somit gegen das Gesetz
verstoße. Er wurde daraufhin sofort abberufen und durch Nogaret
ersetzt. Dieser klärte zunächst die Rechtsseite. Um der Kirche
gegenüber formal den Schein zu wahren, handelte der Staat auf
66
Verlangen des Großinquisitors von Paris, Guillaume Humbert.
Der Großinquisitor war zwar ein Werkzeug des Königs, erließ
jedoch seinerseits den Verhaftungsbefehl erst mehrere Wochen später
als Philipp. Der Betrug war also offenkundig.
Übrigens war diese Blitzrazzia nicht die erste ihrer Art. Im
Jahre 1291 war man mit den lombardischen Bankiers genauso
verfahren und 1306 mit den Rabbinern. Abgesehen von jeder
moralischen Erwägung, muß man zugeben, daß der Erfolg dieser
Aktionen für das administrative Genie Philipps des Schönen
spricht. Vor ihm war der Begriff zentralistischer Staat ein leeres
Wort. Jetzt setzt sich auf einen einzigen Wink von oben das
Räderwerk in Bewegung.
Doch Philipps agitatorische Begabung ist nicht geringer. Am
14. Oktober, dem Tag nach der Aktion, beginnt er die öffentliche
Meinung in sämtlichen Volksschichten zu mobilisieren. Während
Nogaret in Notre-Dame eine informative Sitzung für die Staatsbeamten
abhält, wird in den Gärten des königlichen Schlosses
unter Trompetengeschmetter eine Volksversammlung einberufen.
Die Teilnehmer sind nach Berufsgruppen geordnet. Erst ergreifen
Dominikaner, dann die Leute des Königs das Wort, um die abscheulichen
Verbrechen der Templer zu verkünden, die bisher
noch nicht einmal verhört wurden. Kuriere verbreiten Schmähschriften
im ganzen Land, mit denen die öffentliche Meinung
vollends gewonnen werden soll. Eine richtige Pressekampagne,
lange vor der Geburt Gutenbergs. Zur weiteren Sicherung seines
Erfolges betätigt sich der König selbst als Journalist. Er findet
aufreizende Worte: »Eine schmerzliche, beklagenswerte, unausdenkbare,
unanhörbare, verabscheuungswürdige Angelegenheit,
ein widerwärtiger, scheußlicher Frevel, eine grauenvolle Tat, eine
unvorstellbare, völlig unmenschliche, ja, schlimmer noch, eine
teuflische Infamie ist Uns durch den Bericht vertrauenswürdiger
Personen zu Ohren gekommen und hat Uns mit tiefster Bestürzung
erfüllt, hat Uns vor unsagbarem Entsetzen schaudern lassen.
Als Wölfe im Schafspelz und im Ordensgewand, eine schwere
Beleidigung Unseres Glaubens, kreuzigen die Templer in Unseren
Tagen Unseren Herrn Jesus Christus aufs neue...«
67
Die Massen sind leicht zu gewinnen, da der große Reichtum der
Ritter beim Volk keineswegs in Gunst steht.
Gold und Silbers reicher Segen
liegen auf der Templer Wegen
heißt es in einem zeitgenössischen Werk, das ihren schlechten Ruf
bezeugt.
Doch in den besser unterrichteten Kreisen der Chronisten, der
Journalisten jener Zeit, läßt man Skeptizismus durchblicken. Die
einen wahren weise Zurückhaltung:
... Die Templer wurden allesamt
gefangen durch des Königs Hand;
Weiß nicht, obs Recht, obs Unrecht war...
Die anderen aber erheben laut ihre Stimme gegen den Anschlag:
Wißt, daß im Jahre eintausenddreihundertundsieben
die mächtgen Templer wurden ins Gefängnis getrieben;
Die Tapfren behandelt gar schnöde man:
Die Ungläubgen, mein ich, sind schuld daran.
Philipp der Schöne ein Ungläubiger? Das ist wenig wahrscheinlich.
Hierzu äußert sich Sismondi recht geschickt: »Bei seinen Angriffen
gegen die Päpste hätte man ihn für einen Freigeist gehalten;
allein seine Intoleranz bewies seine Orthodoxie.«
In jedem Fall beweist die absolut moderne Taktik des Königs
und Nogarets, daß sie die Volksmeinung zunächst zum Sieden
bringen und dann damit argumentieren wollen, um dem, was man
heute als »sofortige diplomatische Schritte« bezeichnen würde, zuvorzukommen.
Diese lassen auch nicht auf sich warten.
Vom Rechtsstandpunkt aus konnte nur der Papst die Anweisung
zur Verhaftung der Templer geben. Und er allein kann sie
verurteilen. Wenn man nun zu der vollendeten Tatsache der Verhaftung
noch eine zweite schafft, nämlich das Eingeständnis der
Ketzerei, hätte man zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
Einerseits wird es sich Clemens V. zweimal überlegen, bevor er
den Großinquisitor von Paris desavouiert und Männer verteidigt,
68
die ihre Verbrechen gestanden haben. Und wenn andererseits die
Templer erwiesenermaßen Ketzer sind, gilt ihr Besitz nicht mehr
als kirchliches Eigentum und fällt somit auch nicht an den Papst,
sondern an den König zurück. Diese sehr realistischen Erwägungen
erklären sowohl den Inhalt der Anklageschrift wie die Eile,
Geständnisse zu erhalten, wie schließlich auch die dabei zumeist
angewandten Mittel.
Man legt den Templern vier schwerwiegende Vergehen zur
Last. Sie stehen im Vordergrund des ganzen Verfahrens und lösen
eine Kontroverse aus, die sich in sechs Jahrhunderten noch nicht
erschöpft hat:
1. Geheime Aufnahmezeremonien, begleitet von Verunglimpfung
des Kreuzes, der Verleugnung Christi und verräterischen
Küssen.
2. Auslassung des Segens bei der Messe.
3. Verehrung eines Götzenbildes, für sie das Abbild des wahren
Gottes, an den allein man glauben soll.
4. Erlaubnis, sogar Empfehlung, »widernatürliche Verbrechen«
zu begehen, das heißt Homosexualität.
Seltsam genug für Mönche – nicht etwa die Anklagen wegen
Ketzerei, die direkt zum Scheiterhaufen führen, sondern die vergleichsweise
milderen, fleischliche Sünden begangen zu haben,
werden von der überwiegenden Mehrzahl der Templer am schärfsten
abgeleugnet. Dennoch üben sie gerade in diesem Punkt die
größte Zurückhaltung. Ein zeitgenössischer Kirchenhistoriker
schreibt tatsächlich, ohne mit der Wimper zu zucken: »Alle Kinder
sagen frei und unumwunden zueinander: Hütet euch vor den
Küssen der Templer.«
Trotzdem bekennen sich unter Hunderten von Angeklagten
nur zwei, nämlich Guillaume de Varnage und Raoul de Taverney,
zu dieser »Lieblingssünde«. Der erste erklärt einigermaßen naiv,
man habe ihm die jüngsten der Novizen überlassen, »damit der
Orden im Hinblick auf Frauen nicht entehrt werde«. Der zweite
sagt vernünftiger: »Man muß das wegen des heißen überseeischen
Klimas dulden.«
69
In der Frage der sittlichen Verfehlungen geht die Anklageschrift
übrigens noch weiter. Man überlegt, ob die Verfasser sich
von ihrem grimmigen Humor oder von krankhafter Phantasie
hinreißen ließen, wenn man zum Beispiel den Artikel 10 liest:
»Ein von einem Templer und einer Jungfrau (denn die Ritter
waren zweifellos Eklektiker) gezeugtes neugeborenes Kind wird
am Feuer gesotten und gebraten, sein ganzes Fett ausgelassen, und
mit ebendemselben wird ihr Götzenbild gesalbt und geweiht.«
Das sei wirklich zuviel? Man muß diese Frage wohl verneinen.
Denn noch im letzten Jahrhundert ging der Metropolit von Moskau
gegen andersgläubige religiöse Sekten mit denselben Mitteln
vor. Das hat einen Historiker der Templer, Loiseleur, zu der
Schlußfolgerung geführt, nicht das zaristische Rußland sei mittelalterlich,
sondern die Anklageschrift des Inquisitors Guillaume
Humbert wohlbegründet...
Wie immer dem sei, knapp zehn Tage nach dem Fischzug hat
Humbert eine wahre Flut von Geständnissen zur Verfügung; darunter
das des Großmeisters Jacques de Molay. Dieser hat öffentlich
vor einer Versammlung von Professoren und Studenten der
Sorbonne bekannt, man habe ihn bei seiner Aufnahme in den
Orden dazu veranlaßt, Christus zu verleugnen und auf das Kreuz
zu spucken. Er selber habe zahlreiche Novizen in ähnlicher Weise
aufgenommen. Mehrere hohe Würdenträger des Temple erklärten
dasselbe, und weder die einen noch die anderen scheinen zu
bereuen.
Dennoch erschüttern diese Geständnisse Clemens V. nicht. Am
27. Oktober schreibt er an den König: »Während Wir fern von
Euch weilten, habt Ihr Hand auf die Brüder und Habe der
Templer gelegt. Ihr seid soweit gegangen, sie ins Gefängnis zu
werfen, und – dies ist der Gipfel der Bekümmernis – Ihr habt
sie nicht wieder freigelassen. Man sagt sogar, Ihr hättet zu der
Trübsal der Gefangenschaft noch ein weiteres Herzeleid gefügt.
Wir glauben, Wir sollten letzteres, aus Schamgefühl für die Kirche,
im derzeitigen Augenblick besser mit Stillschweigen übergehen.«
Eine deutliche Anspielung auf die Folter, der viele Ritter unterworfen
wurden.
70
Einige Tage später erhebt König Eduard II. von England Protest.
Die Templer hätten in England einen ausgezeichneten Ruf,
sagt er, und die Freveltaten, deren man sie bezichtige, seien unglaubhaft.
Eduard fordert Gerechtigkeit für die Templer beim
Papst, der ja in Aquitanien geboren und damit englischer Untertan
ist.
Clemens V. läßt es nicht bei seinem entschiedenen Protest bewenden.
Er entzieht den französischen Inquisitoren ihre Vollmachten,
verlangt die Auslieferung sämtlicher Protokolle und
beschließt, die Angelegenheit selber in die Hand zu nehmen. Für
den König von Frankreich und seine Ratgeber kommt dieser
Widerstand völlig überraschend. Er zwingt sie, ihre gesamten
Pläne umzustoßen.
Als Clemens V. Ende November 1307 anordnet, die Templer
in ganz Europa zu verhaften, weiß er genau, was er tut. Dieser
Befehl ist nur die logische Folge davon, daß der Heilige Stuhl
die Angelegenheit in die Hand genommen hat. Er bedingt ja die
Auslieferung der einzigen gefährdeten Ritter an den Papst –
jener nämlich, die Philipp der Schöne gefangenhält. Übrigens handeln
die Herrscher Europas nach Gutdünken. In England und
Portugal zum Beispiel bleiben die Templer unbehelligt. Der Orden
versteht sich bekanntlich ausgezeichnet auf die Winkelzüge
der Politik. Er ist sich keine Minute im unklaren über den eigentlichen
Sinn der päpstlichen Verfügung. Überall tauchen die Ritter
alsbald wieder auf. In Spanien verschanzen sie sich bewaffnet in
der Festung Monzon. In Deutschland fordert Wallgenfer, der
wilde Graf«, an der Spitze einer Gruppe von entschlossenen
Templern von einem Provinzialkonzil die Freilassung der Ordensmitglieder
und erhält sie auch. In Frankreich schließlich
widerrufen Jacques de Molay und seine Gefährten ihre Geständnisse.
Doch Philipp der Schöne ist nicht gewillt, auf ein Vorhaben zu
verzichten, das er von langer Hand vorbereitet und beschlossen
hat und das in seinen Augen die Staatsräson gebietet. Seine Gefangenen
dem Papst überantworten? Unmöglich, es sind ihrer zu
viele, und der Papst hat nicht genügend Gefängnisse. Ein trotz
71
seiner Kaltschnäuzigkeit unwiderlegbares Argument. Tatsächlich
sind allein in Paris 666 Templer verhört worden. Da ihm geeignete
Unterbringungsmöglichkeiten fehlen, muß der Papst bald
auf seine Forderung verzichten. Die Templer sind zwar von jetzt
an Gefangene der Kirche, verbleiben aber trotzdem in der Obhut
des Königs. Gleichzeitig entfesselt Philipp eine »Pressekampagne«
gegen Clemens V. Im ganzen Land werden Schmähschriften verbreitet,
die den Nepotismus des Papstes aufs schärfste brandmarken.
Das ist durchaus berechtigt. Clemens hat tatsächlich seinen
sämtlichen Angehörigen, ob nah oder weitläufig verwandt, zahllose
kirchliche Pf runden zuteil werden lassen. Und schließlich wendet
sich der König, wie immer bei wichtigen Anlässen, an das
Volk. Im Mai 1308 beruft er die Generalstände in Tours ein. Die
meisten Adligen erscheinen nicht. Doch der eindeutig gallikanisch
eingestellte Klerus und der dritte Stand, der sich über den Reichtum
des Templerordens empört, fordern eine exemplarische
Strafe.
Mit diesen verschiedenen Druckmitteln ausgerüstet, begibt sich
der König nun nach Poitiers, wo Clemens V. residiert. Es folgen
zahllose Sitzungen und Beratungen. Einen Monat lang bringen
Philipp und seine Ratgeber abwechselnd Versprechungen und
Drohungen vor: »Wenn Ihr Euch darauf versteift, Ausflüchte zu
machen«, erklären sie dem Papst, Werden Wir in einer anderen
Sprache mit Euch reden müssen.« Zudem sind neben dem Widerruf
der Würdenträger des Ordens Hunderte von aufrechterhaltenen
Geständnissen vorhanden.
Doch Clemens gibt wider alles Erwarten nicht nach. Auf Grund
des ihm vorliegenden Materials kann er den Templerorden nicht
übereilt verurteilen. Was die Geständnisse angeht, »ist er des
öfteren zu der Auffassung gelangt, sie seien nicht zutreffend«.
Also wird er persönlich zweiundsiebzig Templer verhören. Und
was die Würdenträger des Ordens betrifft – den Großmeister
Jacques de Molay, den Generalvisitator Hugues de Pairaud, die
Befehlshaber von Zypern, Aquitanien und der Normandie, Raimbaud
de Caron, Godefroy de Gonneville und Geoffroy de Charnay
–, da der König erklärt, er habe sie wegen ihres schlechten
72
Gesundheitszustandes nicht nach Poitiers bringen lassen, wird der
Papst sofort Kardinale entsenden, die sie in ihrem Gefängnis, dem
Wachturm von Chinon, verhören sollen.
Von nun ab – es ist Sommer 1308 – beginnt das in unseren
Augen größte Rätsel dieses unbegreiflichen Prozesses. Was haben
die zweiundsiebzig Templer, die Clemens V. persönlich in Poitiers
vernimmt, ihm enthüllt? Man weiß es nicht – die Originalprotokolle
dieser Verhöre liegen in den Geheimarchiven des Vatikans.
Tatsache ist jedoch, daß der Papst, nachdem er sie gehört hat,
seine Haltung völlig ändert. Er gibt den französischen Inquisitoren
die entzogenen Vollmachten zurück, überstellt dem König von
Frankreich wieder die paar Gefangenen, die in den Verliesen der
Kirche waren, und beschließt, in Vienne, in der Dauphiné, ein
Konzil einzuberufen, das über den Templerorden zu Gericht sitzen
soll.
Das Verhalten der Templer ist nicht minder seltsam. Molay,
Pairaud und ihre Gefährten, die ihre Geständnisse in dem Augenblick
widerrufen hatten, als sie erfuhren, daß die Kirche sich des
Falles annähme, wählen genau den Moment, in dem die drei Kardinale
nach Chinon kamen, um sich erneut schuldig zu erklären.
Entsetzt lesen ihnen die Legaten die Aussagen nochmals vor und
ermahnen sie, wohl zu überlegen, ehe sie diese unterzeichnen – sie
unterzeichnen.
Philipp wiederum macht sich die Kehrtwendung des Papstes
zunutze und ergreift erneut die Initiative. Sorgfältig wählt er die
Inquisitoren aus und läßt die Gefangenen foltern, wobei sechsunddreißig
sterben. Nun erklären sich immer mehr Templer für
nichtschuldig und treten für den Orden ein: 122 im März 1309,
546 im April, 573 im Mai... Diese Haltung spricht durchaus für
ihren Mut, denn die Strafprozeßordnung der Inquisition ist mehr
als verschlungen. Sie berechtigt die Untersuchungskommissionen,
die Aussagen der Angeklagten abzuändern, »um sie besser mit der
Wahrheit in Einklang zu bringen«. Doch sie verbietet den Angeklagten,
unter der Folter so viel einzugestehen, daß man sie für
»rückfällig« halten könnte, also für Ketzer, die in ihre Irrtümer
zurückverfallen sind und somit den Scheiterhaufen verwirkt
73
haben. Kraft dieser durchsichtigen Schlußfolgerung werden am
13. Mai 1308 vierundfünfzig Templer bei lebendigem Leibe in
Paris verbrannt.
Während eines weiteren Jahres folgen Geständnisse, Widerrufe,
erneute Geständnisse in unbeschreiblichem Durcheinander.
Im Juni 1311 wird die Untersuchung für abgeschlossen erklärt.
Die Protokolle werden dem Papst übermittelt, der jetzt in Avignon
residiert.
Endlich, am 10. Oktober 1311, wird in Vienne das geplante
Konzil eröffnet. Man verspricht sich viel von der öffentlichen Verhandlung,
die endlich Licht in den mysteriösen Fall der Templer
bringen soll. Manche unvermutete Wendung ist zu erwarten.
Die kommt nun allerdings, aber keineswegs wie erwartet. Clemens
V. erhebt sich bereits in der ersten Sitzung und verliest die
Bulle »Vox Clamantis«, die er verfaßt hat. Ist der Titel ein
Wortspiel, so ist der Text eine Pirouette: »Nicht ohne Gram und
tiefen Schmerz, nicht durch Gerichtsbeschluß, sondern kraft
apostolischer Verfügung heben Wir den Orden der Templer und
alle seine Einrichtungen auf.« Eine öffentliche Verhandlung ist
damit hinfällig geworden. Das Konzil wendet sich anderen Fragen
zu: Schaffung weiterer Freudenhäuser im Vatikan, Ernennung
eines Erzbischofs in Peking...
Wenn der Templerorden unschuldig ist und die ihm zur Last
gelegten Verbrechen nicht begangen hat, warum verzichtet dann
Clemens, der zunächst dem Orden so wohlgesinnt war, darauf,
ihn zu verteidigen? Ist der Orden aber schuldig, warum löst er
ihn auf, ohne ihn zu verurteilen? Unschuldig oder schuldig –
warum weicht das Oberhaupt der Kirche der versprochenen Verhandlung
aus?
Die meisten Historiker deuten diese schwankende Haltung nur
als Beweis der Schwäche, wenn nicht Feigheit des Papstes angesichts
der wiederholten Anwendung von Druckmitteln durch
Philipp den Schönen. Nun haben wir gesehen, daß Clemens zwar
ein Taktiker, jedoch weder schwach noch feige ist. Und seine
Widerstandskraft dem König von Frankreich gegenüber ist keineswegs
erschöpft. So verhindert er nach Erledigung des Templer74
falles zum Beispiel, daß der Kandidat, den Philipp mit allen Mitteln
durchsetzen will, deutscher Kaiser wird.
Im Gegenteil – die Haltung von Clemens V. wirkt durchaus
unbeeinflußt. Einesteils läßt er neun Templer, die auf dem Konzil
erschienen sind, um den Orden vor der Öffentlichkeit zu verteidigen,
ins Gefängnis werfen. Andererseits behält er sich im
gleichen Augenblick, entgegen der Forderung des Königs, vor,
selber das Urteil über die Würdenträger des Templerordens zu
sprechen.
Grundsätzlich erscheint aber jede Zwischenlösung unmöglich,
denn die Templer sind der klaren, eindeutigen Ketzerei angeklagt.
Wären es nur einige gewesen, hätte man ohne weiteres die
Schuldigen bestrafen können, ohne den ganzen Orden aufzulösen.
Wenn sich aber der gesamte Orden der Ketzerei schuldig gemacht
hat, wie es die Anklage behauptet, ist seine Verurteilung unumgänglich.
Nun läßt es sich Clemens V. angelegen sein, eine Verhandlung
über den eigentlichen Kern des Falles unbedingt zu vermeiden.
Der Grund für seine Handlungsweise kann nur der sein, daß er
einer öffentlichen Enthüllung gewisser Geheimnisse des Templerordens,
die er in Poitiers erfahren hat, ausweichen will.
Diese Geheimnisse machen es ihm zwar unmöglich, weiterhin
offen für den Orden einzutreten. Sie hindern ihn jedoch nicht,
diesem eine Verurteilung wegen Ketzerei zu ersparen. Ihm bleibt
die Chance, den Sturm zu überstehen und ein mehr oder minder
verborgenes Dasein fortzuführen.
Am Montag, dem 18. März 1314, stand Philipp, die Ellbogen
aufgestützt, an seinem Fenster im Louvre und wartete gelassen
auf das Nachspiel zu der größten politischen Aktion seiner Regierungszeit.
Seinem Palast gegenüber, auf der Ile du Bouvier – dem heutigen
Square du Vert-Galant – errichteten seine Soldaten einen
Scheiterhaufen. Er war für drei hochstehende Persönlichkeiten bestimmt:
Jacques Bernard de Molay, zweiundzwanzigsten Großmeister
des Tempelritterordens, einst der mächtigste in Europa
75
und dem Heiligen Land, Geoffrey de Charnay, Großpräzeptor
der Normandie, und vermutlich einen dritten Würdenträger, über
dessen Identität aus unbekannten Gründen stets Ungewißheit
geherrscht hat. [8]
Die drei Männer schienen das Feuer direkt heraufbeschworen
zu haben. Am selben Morgen hatte Clemens V. drei Legaten entsandt,
die das Urteil sprechen sollten. Sie hatten die Templer mit
dem Leben davonkommen lassen. Bei der Verlesung des Urteils
widerriefen die drei Angeklagten ihr vorheriges Geständnis und
bekannten sich dann abermals schuldig. Ein klägliches Schauspiel.
Plötzlich kam eine nochmalige Kehrtwendung, und sie beteuerten
wiederum ihre Unschuld. Der Kardinal dAlbano konnte daraufhin
nur noch die Achseln zucken. Er begriff überhaupt nichts mehr,
nur daß ihn jetzt das Gesetz verpflichtete, die Angeklagten der
weltlichen Rechtsprechung zu überantworten, vor der er sie gerade
bewahren wollte. Als rückfällige Ketzer hatten sie selber ihr
Todesurteil gesprochen. Allein der Generalvisitator Hugues de
Pairaud, der – wie mehrere Zeugen bekundeten – »den Geheimriten
am leidenschaftlichsten ergeben war«, bewahrte Schweigen
und schien sich an die Hoffnung zu klammern, man werde ihn
eines Tages freilassen. Er mußte sein Leben im Gefängnis beschließen.
Bei bedeutenden Anlässen findet sich immer ein Reporter. An
jenem Abend war es der Dichter und Chronist Geoffroy von
Paris.
»Als der Großmeister den aufgeschichteten Scheiterhaufen sah«,
berichtet er, »entkleidete er sich ohne Zögern. Ich erzähle es, wie
ich es gesehen habe. Er ging ganz nackt weiter, schnell und gefaßt,
ohne im geringsten zu zittern, obwohl man ihn heftig stieß und
zerrte. Man packte ihn, um ihn an den Pfahl zu binden, und man
band ihm die Hände mit einer Schnur, aber er sagte zu seinen
Henkern: ›Laßt mich doch wenigstens die Hände falten, denn das
ist wohl der rechte Augenblick dafür. Ich werde bald sterben.
Gott weiß, daß es zu Unrecht geschieht. Bald wird Unglück über
die kommen, die uns ungerecht verurteilen. Mit dieser Gewißheit
sterbe ich. Ich bitte euch, dreht mein Gesicht Notre-Dame zu.‹
76
Seine Bitte wurde erfüllt, und der Tod ereilte ihn in dieser Stellung
so sanft, daß jeder sich darüber höchlichst verwunderte.«
Einen Monat später, am 20. April, starb Clemens V. in Rochemaure
in der Provence. Wenn man den alten Chroniken glaubt,
so stimmt es, daß er seit langem ein Steinleiden hatte und daß
Arnold von Villanova, den man eiligst herbeirief, Schiffbruch erlitt,
bevor er an sein Krankenlager gelangen konnte. Das Standbild
Clemens V. ist heute noch im Vorhof der Kathedrale von
Bordeaux zu sehen. Vor langer Zeit haben unbekannte Täter die
rechte Hand abgeschlagen, wie es einst Vatermördern geschah.
Im selben Jahr beschieß Philipp der Schöne seine Tage in Fontainebleau.
Auf der Jagd stürzte er durch ein Wildschwein vom
Pferd. Dem alten Brauch gemäß trugen die Salzhändler den Sarg
des Königs bis zur Grabstätte. Philipp hatte das sechsundvierzigste
Lebensjahr noch nicht vollendet.
DER SCHATTEN EINES ZWEIFELS
Bisher ist von Geschichte die Rede gewesen. Jetzt wäre das Kapitel
der Legende aufzuschlagen.
Es handelt sich dabei zwar immer noch um Geschichte, jedoch
diesmal um die geheime. Der Volksglaube, »alles spiele sich hinter
den Kulissen ab«, ist ebenso kindlich, wie es naiv wäre zu leugnen,
daß viele der großen historischen Unternehmungen sich im verborgenen
vorbereitet haben und mitunter, nach ihrem Scheitern,
auch dorthin zurückgekehrt sind. Unsere Zeit liefert dafür genügend
Beispiele.
Man geht von den bekannten Tatsachen aus und stellt sich vor,
was dabei verborgen geblieben sein mag. Auf die Templer angewandt,
hat uns diese Methode ebenso verführerische wie willkürliche
Thesen beschert. Wir wollen uns nicht auf diesem Geleis
festfahren. Die geheime Geschichte der Templer ist in sich so
faszinierend, daß man auf die Würze der Fabel verzichten kann.
77
Man ist zu der Mutmaßung genötigt, daß eine solche Geschidite
existiert, da uns die offiziellen Unterlagen die gesuchten Erklärungen
versagen. Der Tempelritterorden, ein seit über sechshundert
Jahren erloschenes Gestirn, sendet uns nur noch ein bleiches
Licht. Um zu erfahren, woraus er bestand, muß man die
Strahlen dieses Gestirns mittels einer Spektralanalyse untersuchen.
Allerdings darf man sich dann nicht wundern, wenn diese etwas
anderes enthüllt als das, was wir mit bloßem Auge wahrgenommen
haben.
Wurden die Templer Opfer eines Anschlags, oder waren sie
wirklich schuldig? Je genauer man die Einzelheiten des Prozesses
kennt, desto schwieriger wird es, diese Frage zu beantworten.
Und wenn man – wie der Verfasser – einige hundert der zahllosen
Abhandlungen liest, die sich mit diesem historischen Rätsel
befassen, wird es nur noch unergründlicher.
Wir haben gesehen, welche gewichtigen finanziellen und politischen
Beweggründe beim Sturz des Templerordens mitsprachen,
und wie hartnäckig Philipp der Schöne intrigierte, um sein Ziel zu
erreichen. Bei der Lektüre der Anklageschrift sträubt sich der gesunde
Menschenverstand. Wie kann man annehmen, ein geistlicher
Orden habe jedes seiner neuen Mitglieder gezwungen, bei
Ablegung des Gelübdes auf das Kreuz zu spucken, Christus zu
verleugnen und ein Götzenbild zu verehren?
Um so mehr, als diese Praktiken nicht die Ausnahme, sondern
die Regel darstellten und aus einer weit zurückliegenden Zeit
stammten, wenn man dem Prozeß glauben will. Und ist es, selbst
im zutreffenden Fall, vorstellbar, daß sich unter Tausenden von
Novizen kein einziger gefunden haben sollte, der nach der Zeremonie
seine Empörung öffentlich hinausschrie? Zweifellos bekräftigten
Hunderte von Geständnissen die Anklage. Doch die
häufige Anwendung der Folter ist ebenfalls erwiesen. »Ich bin
so viel gefoltert, so viel verhört und so viel ans Feuer gehalten
worden, daß das Fleisch an meinen Fersen völlig verbrannt ist
und die Knochen bald darauf abgefallen sind«, sagt zum Beispiel
der albigensische Templer Bernard du Gué. »Ja, ich habe einige
dieser Verfehlungen bekannt, ich gestehe es«, überbietet ihn der
78
Burgunder Aimery de Villiers-le-Duc. »Doch das geschah unter
der Folter. Ach! Ich habe zuviel Angst vor dem Tod. Bevor ich
mich verbrennen ließe, würde ich nachgeben.« Man könnte noch
viele solcher Aussprüche anführen. Aufschreie des Herzens, alle
von gleichermaßen erschütternder Aufrichtigkeit, mit denen die
Templer ihre Geständnisse begründeten. Sie verleihen den Widerrufen
volles Gewicht.
Erschien überdies die Anklage glaubhaft und die Geständnisse
aufrichtig, so fragt man sich, warum der Papst, der dem König
von Frankreich viel verdankte, ihnen so lange nicht im mindesten
Gehör schenkte. Und schließlich ist allgemein bekannt, daß die
Affäre der Templer im 18. und 19. Jahrhundert zu den wirksamsten
Waffen einer antiklerikalen Bewegung gehörte, welche die
katholische Kirche damals heftig befehdete. Wenn der Tempelritterorden
schuldig war, hätte der Vatikan leicht und schnell
parieren können, indem er aus seinen Archiven die Beweise für
diese Schuld hervorholte. Er hat jedoch nichts dergleichen getan.
Alle diese Argumente wurden hundertmal wiederholt. Sie sind
sehr einleuchtend und trotzdem nicht unwiderlegbar.
Die Inquisition beschränkte sich nicht darauf, die Folter zu
dulden. Sie befürwortete sie sogar. So schrieb beispielsweise der
Verfasser eines Handbuches für Inquisitoren: »Der Notar muß
nicht nur alle Antworten und alle Worte, die der Angeklagte
unter der Folter ausspricht, niederschreiben, sondern auch alle
seine Seufzer, alle seine Schreie, all sein Ächzen und alle seine
Tränen.« [9] Um Geständnisse zu erhalten, empfiehlt derselbe
Verfasser, den Angeklagten mit einem Seil an die Decke zu ziehen,
ihn dann wieder herunterfallen zu lassen, ihm die Gliedmaßen zu
verbrennen, nachdem man sie zuvor mit öl eingerieben hat, seine
Fersen in einen eisernen Schraubstock zu spannen, ihm mit »kleinen
Spießruten in Pfeifenform« die Fingerknochen zu brechen.
Die Bräuche der Zeit – haben sie sich dermaßen verändert? –
waren hart. Doch das galt nicht nur für die Henker. Ihrer Erbarmungslosigkeit
entsprach – und auch das hat sich nicht geändert
– die Seelengröße vieler ihrer Opfer. Sechzig Jahre vor
der Verhaftung der Templer stiegen dreihundert provenzalische
79
Ketzer in Monségur auf den Scheiterhaufen. Sie hielten sich an
den Händen und sangen fromme Lieder, statt ihrem Glauben
abzuschwören. Die Folter erklärt also nur teilweise die Geständnisse,
mit denen die Templer so freigebig waren. Zudem wurden
sie in Frankreich zwar häufig gefoltert, jedoch keineswegs immer.
So erklärte der Großmeister Molay selbst bei seinem ersten
Widerruf, er habe seine früheren Geständnisse nicht wegen der
erduldeten Folter abgelegt, sondern nur aus Angst davor. Und
schließlich wurden die Templer in England überhaupt nicht gefoltert,
sondern erschienen freiwillig vor den päpstlichen Kommissionen.
Allerdings waren die Geständnisse auch weniger zahlreich.
Trotzdem gaben etliche Ritter zu, das gotteslästerliche Aufnahmezeremoniell
entspräche der Wahrheit.
Wenn andererseits nur die Folter alle Geständnisse erzwungen
hatte, wie erklären sich dann die Vorbehalte, unter denen die
meisten abgegeben wurden, und vor allem das bereits erwähnte
leidenschaftliche, fast einstimmige Abstreiten homosexueller Verfehlungen?
Und wieso dann nach den Widerrufen die neuerlichen
Geständnisse – unter Voraussetzungen, die sich zugunsten der
Angeklagten gewandelt hatten?
Die Anklageschrift war vorgefertigt und stützte sich auf höchst
suspekte Quellen – das stimmt. Aber heißt das nun, sie war völlig
aus der Luft gegriffen? Unseres Wissens hat sich noch niemand der
Aufgabe unterzogen, zu erklären, warum im Jahre 1208, das
heißt ein Jahrhundert vor dem Prozeß, Papst Innozenz III., der
den Templern immerhin wohlgesinnt war, an den Generalvisitator
des Temple schrieb: »Die Verbrechen Deiner Brüder bereiten
Uns tiefen Schmerz durch den Skandal, den sie innerhalb
der Kirche verursachen. Die Ritter des Temple betreiben Teufelskult.
Ihr Gewand ist nichts als Heuchelei.« Einige Jahre später
nahm Papst Clemens IV. diese Beschuldigung auf: »Die Templer
mögen sich hüten, Meine Geduld zu erschöpfen, auf daß die
Kirche sich nicht gezwungen sieht, die strafwürdigen Taten, die
bis zum heutigen Tage mit allzu viel Nachsicht geduldet wurden,
einer genauen Prüfung zu unterziehen; denn dann gäbe es keine
Barmherzigkeit mehr.«
80
Wie man sieht, halten sich in diesem geheimnisumwitterten
Fall die gegensätzlichen Argumente die Waage. Was man auch
sagen mag, es bleibt immer der Schatten eines Zweifels.
Man ist nun versucht, die unfruchtbare Frage »unschuldig oder
schuldig« aufzugeben und sie in neuer Form zu stellen. Einerseits
verbietet die Folter, alle Geständnisse für wahr zu halten; andererseits
aber sind nicht alle Geständnisse auf die Folter zurückzuführen.
Weist das nicht darauf hin, daß hinter dem sichtbaren
Wirken des Templerordens ein geheimes Leben existierte, dessen
Regeln und dessen Sinn nur bestimmte, sorgfältig ausgewählte
Mitglieder kannten? Und hatten diese Regeln, die dem Außenstehenden
als schuldhafte Verirrung erschienen, für die Eingeweihten
nicht tiefen Wert und tiefe Bedeutung? Man stellt sich
diese Frage mit um so mehr Berechtigung, als die offiziellen
Statuten des Ordens selber verkündeten: »Von unserem Leben
seht ihr nur die Borke, die außen ist, doch ihr seht nicht die
mächtigen Gebote im Innern.«
Das Äußere des Templerordens in den zwei Jahrhunderten
seiner Existenz haben wir gesehen. Wenn uns nun das Innere entgangen
ist, so dürfte es angezeigt sein, die Geschichte des Ordens
noch einmal mit anderen Augen zu lesen und dabei auch auf die
geringfügigsten Einzelheiten zu achten ...
GEOLOGIE DER GÖTTER
Die Gegend, in der die ersten Kreuzfahrer an Land gingen, war
wie keine zweite ein Schnittpunkt der verschiedensten Rassen und
Glaubensbekenntnisse. Die bebaute Landfläche Kleinasiens ist
nicht sehr groß. Zwischen den blühenden Tälern des Euphrat und
Nil herrscht überall Dürre. Doch wie der Wüstenwind weht auch
der Geist, wo er will. Und in diesem kleinen Gebiet hieß man die
Götter freundlicher willkommen als anderswo.
81
Hier hatten die Menschen von Jahrhundert zu Jahrhundert
dem Traum der Turmbauer zu Babel nachgejagt, eines Tages den
Himmel zu erreichen und zu entschleiern. Hier hatten nacheinander
die Chaldäer die Geheimnisse der Gestirne ergründet,
die Juden vor Jehova gezittert, die Christen über die Kreuzigung
Christi geweint, die Muselmanen sich Allah unterworfen. Ihre
Tempel jedoch schienen alle aus Steinen erbaut, die von demselben
Steinbruch stammten.
Von den Religionen des Orients war die ägyptische die weitaus
älteste. Alle anderen hatten bei ihr, der Viertausendjährigen,
ewig Jungen, von allen Wirren der Geschichte Unberührten, Anleihen
gemacht.
Zur Zeit seiner Macht und Stärke hatten Ägyptens Götter
friedlich ihren Einzug jenseits des Mittelmeeres gehalten. Und
später eroberten die Königspriester aus Judäa, Persien, Alexander
der Große, die Ptolemäer, Rom, Byzanz und schließlich die
Araber zwar die Erde Ägyptens, doch der Himmel Ägyptens
drückte jedem seinen Stempel auf.
Auf den Trümmern Thebens, zwischen Karnak und Luxor,
stand die Sphinx mit dem Widderkopf, Hüterin der Flußquellen.
Sie war bereits alt wie die Zeit, als die Priester Ramses II. sie
dem Knaben Moses zeigten. Später war es wiederum die Sphinx
von Theben, die ödipus die zeitlose Frage stellte: »Woher
kommt der Mensch? Was ist er? Wohin geht er?« Und die
Mönche der ersten christlichen Jahrhunderte, die sich in Oberägypten
ihren Meditationen hingaben, sahen ihr Antlitz vor sich.
Thot, der Gott in Gestalt des Ibis, Fürst der geheimen Schriften,
der das Auge des Horus [10] geheilt hatte, bürgerte sich in
Griechenland unter dem Namen Hermes ein. Er entsandte jenen
anderen, des Wortes mächtigen Widder, dessen berühmtes
goldenes Vlies die Argonauten eroberten.
Götter, die einander entthronten, neuauftauchende Götter
hatten die Menschen in heftige Verwirrung gestürzt. Doch Osiris,
der »unwandelbar Gute«, war da von Anbeginn, erlebte einen
grausamen Leidensweg und dann die glorreiche Auferstehung,
und Isis, die »Himmelskönigin«, beweinte und begrub ihn. [11]
82
Die Vorliebe für das Geheimnisvolle, für chiffrierte Schriften
und rätselhafte Embleme, der Kult des Mysteriums, die scharfe
Trennung von Adepten und Laien sind wohl die hervorstechendsten
Züge der ägyptischen Religion. Den Tempel – Schloß
genannt – darf nicht jeder betreten. Sorgfältig ausgewählte
Gläubige können durch das von zwei Türmen flankierte Portal,
den Pylon, bis in den Vorhof gelangen. Der Saal des Schiffes
jedoch steht nur den Priestern offen, und allein der Oberpriester
als Beauftragter des Gott-Königs Pharao hat Zugang zum Sanktuarraum,
dem sogenannten Naos oder Saal des Schreines. [12]
Die größten Geister der Antike begaben sich nach Ägypten,
um alle diese Geheimnisse zu ergründen. Im 6. Jahrhundert vor
Christus fuhr Pythagoras bekehrt nach Griechenland zurück.
Offenbar inspirierten Osiris, der Gott des Maßes, und Isis, die
Göttin der Natur, den berühmten Mathematiker zu seiner
philosophischen Lehre, wonach die Zahl das Wesen der Dinge ist
und das Weltall regiert. Der Einfluß des Pythagoras war so groß,
daß der von ihm gestiftete halb religiöse, halb politische Geheimbund
ein halbes Jahrhundert lang ganz Süditalien beherrschte.
Nach seinem Tod wurde er als Halbgott, als Sohn des Hermes
mit seinem goldenen Oberschenkel verehrt.
Während seines Niedergangs kommt das Heidentum noch einmal
auf seine ägyptischen Ursprünge zurück. Und von Anfang
an betrachtet das Christentum die Götter Ägyptens als seine gefährlichsten
Feinde. Im Jahre 380 befahl der christliche Patriarch
von Alexandrien, Theophil, das Standbild des Osiris-Hapi abzureißen
und versetzte ihm selber den ersten Axthieb, um »auf
diese Weise das eigentliche Haupt des Götzendienstes abzuschlagen
«, wie es Rufinus treffend formulierte. Doch der
Götzendienst verbreitete sich trotzdem weiter. Von Rom aus bis
nach Gallien und Germanien verehrte das Volk »Isis, die Jungfrau,
der ein Sohn geboren ist«. [13] Im 2. Jahrhundert verfiel
der Philosoph und Dichter Apulejus – wie zuvor Pythagoras und
Herodot – dem Zauber der Göttin. Ende des 4. Jahrhunderts
zogen Isis-Prozessionen durch die Straßen der Ewigen Stadt,
während sich in Alexandrien, mittlerweile wissenschaftliches und
83
kulturelles Zentrum der Welt, der ägyptische Einfluß auf die
jüdischen Kabbalisten und die christlichen Gnostiker ebenso stark
bemerkbar machte wie später auf die mohammedanischen Schiiten.
Dieser kurze Querschnitt durch die Religionsgeschichte erleichtert
das Verständnis für den Unterschied zwischen der
geistigen Atmosphäre Kleinasiens im Mittelalter und der des
katholischen Abendlandes. In einer Gegend, die Mittelpunkt eines
ständigen Austausches zwischen Völkern und Ideen war, sperrte
man sich hartnäckig gegen jede Einengung durch eine allzu strikte
Orthodoxie. Judentum, Griechentum, Christentum, Islam existierten
nebeneinander, ohne daß eine Lehre wirklich dominierte
Die typisch orientalische Vorliebe für endlose, spitzfindige Diskussionen
trug dazu bei, daß im Gegenteil von Byzanz bis
Alexandrien über Jerusalem und Damaskus die verschiedenartigsten
Strömungen sowie die ausgefallensten Sekten wuchsen
und gediehen.
In einem solchen Klima wurde der Anspruch jeder Religion,
sie allein bringe die volle, ganze Wahrheit, schon seit langem
skeptisch beurteilt. Man hatte hier eine endlose Reihe von Propheten
vorüberziehen sehen, die einander verdrängten und die
Menschen dazu veranlaßten, sich gegenseitig umzubringen. Viele
Weise lehrten, ohne es laut von den Dächern zu verkünden, die
verschiedenen Kirchen, die sich oft mit der Waffe bekriegten, seien
nur die blind gewordenen Splitter eines Spiegels. Dieser Spiegel
habe in grauer Vorzeit die unteilbare Wahrheit gezeigt, sei aber
durch die Torheit der Menschen zerbrochen worden. Insgeheim
und geduldig bemühten sie sich – wem sie auch Gehorsam gelobt
haben mochten –, in vielfältigen Glaubenbekenntnissen das unberührte
Bild des Gottes, den man in Stücke geschlagen hatte,
wiederzufinden. Sie wußten, daß die Worte »Heilige Schrift«
und »Hieroglyphen« gleichbedeutend sind. Deshalb hielten sie
sich auch nicht beim Buchstaben der Bibel, des Evangeliums oder
des Korans auf, in ihren Augen einfache Allegorien, deren verborgener
Sinn zu ergründen war.
Doch es tat nicht gut, dergleichen offen auszusprechen. Denn
84
Fürsten und Klerus hatten einen festen Rückhalt in den Dogmen
und vernichteten erbarmungslos jeden, der es wagte, diese anzuzweifeln.
Zudem hielt jeder, der die Wahrheit zu ahnen glaubte,
es für geboten, sie sorgfältig zu hüten, damit ihr furchtbares Licht
kein fremdes Auge unvorbereitet blenden könnte. Die Suche nach
der Wahrheit war eine königliche Jagd des Geistes und nur den
Auserwählten vorbehalten. Das niedere Volk mußte sich mit ein
paar mageren Brocken der Beute begnügen.
Zu Ende des Römischen Reiches gab es eine Million Juden in
Alexandrien. Damals schuf ein vielleicht legendärer Rabbi namens
Simon bar Jochai ein phantastisches algebraisches System. Mit
dessen Hilfe errechnete er die Allmacht Gottes, indem er erklärte,
daß 3 und 1 niemals vier ergäben. Die Kabbala war geboren.
Das Wort Kabbala bedeutet in den semitischen Sprachen Tradition
und Rechnung zugleich. [14] Gott ist mit unseren unzureichenden
Begriffen nicht meßbar, lehrte Rabbi Simon. Er offenbart
sich uns nur durch seinen Namen. Wer aber den Namen Gottes
kennt und versteht, besitzt den Schlüssel zu allen Dingen der
Schöpfung.
Jedem der zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets
entspricht zugleich eine Zahl und ein Begriff. [15] Nun besteht
der Name Gottes im hebräischen aus vier Buchstaben: Iod,
Hé, Vau, Hé. [16] »Die Allmacht Gottes ist im ersten, sein Abglanz
im zweiten, er äußert sich durch den dritten und befruchtet
sich durch den vierten.« Das Geheimnis der Dreifaltigkeit: ein
einziger Gott in drei verschiedenen Manifestationen laßt sich also
auf eine algebraische Formel zurückführen. Und da »Gott seine
Welt in den drei Formen der Schrift, der Zahl und des Wortes
erschaffen hat«, ist eben diese Formel unbegrenzt anwendbar.
Von vier Buchstaben, vier Zahlen und vier Begriffen ausgehend,
die alle anderen erzeugen, wollen die Kabbalisten nun den Aufbau,
die Prinzipien und Gesetze des gesamten Weltalls erklären.
Sie stellen es sich als lebendes Abbild des lebenden Gottes vor, das
auf jeder Stufe enthält: 1. das männliche Prinzip, 2. das weibliche
Prinzip, 3. beider Erzeugnis und 4. die Gesamtheit der drei.
Dieses System mag einfach und sogar simplifizierend erschei85
nen. In Wirklichkeit aber sind die kabbalistischen Buchstaben und
Zahlen zu Synonymen von erschreckender Kompliziertheit geworden.
Die Einführung der Mathematik in den Bereich des göttlichen
Mysteriums ist ja gleichbedeutend damit, daß das göttliche
Mysterium in den Bereich der Mathematik eingeführt wird. Gott
ist Dreiheit und Einheit zugleich, doch ergeben diese Trinität und
Einheit zusammengenommen nicht vier. In einer Welt, wo alles
eine Manifestation Gottes und alles Zahl ist, vereinfacht dieses
Postulat die Berechnung keinesfalls. Zum Beispiel: Drei beliebige
Punkte grenzen eine vierte Sache ab, die ein Plan ist. Ein Vater,
eine Mutter, ein Sohn bilden eine vierte Sache, die eine Familie ist.
Unter einem bestimmten Aspekt ist 4 immer und überall gleich 3,
unter einem anderen führt sie immer und überall zur Einheit. [17]
Wie eine Familie niemals sichtbar ist, da man nur die Mitglieder
sieht, aus denen sie besteht, ebenso hat schließlich für den
Kabbalisten jede Zahl zwei Werte: einen offensichtlichen und
einen geheimen. [18] All dies vorausgesetzt, beziehen drei kabbalistische
Methoden – die Gematria, das Notariqon und die
Temurah, eine Paarung von Algebra und Philologie – Zahlen,
Buchstaben sowie umgewandelte und umgestellte Worte in einen
wahren Hexensabbat von Zusammensetzungen, Gleichsetzungen
und Umsetzungen ein, dessen Regeln ebenso verwirrend wie unumstößlich
sind.
Unter solchen Perspektiven ist die Heilige Schrift nicht nur ein
allegorischer Text, sondern darüber hinaus ein verschlüsseltes
Dokument, bei dessen Lektüre man sich hüten muß, den Kopf zu
verlieren. Tatsächlich kann kein vernünftiger Mensch glauben,
daß Adam beispielsweise mit hundertdreißig Jahren Seth zeugte
und dann weitere achthundert Jahre lebte; daß Seth mit hundertfünf
Jahren Vater wurde und im Alter von neunhundertzwölf
Jahren starb, und so weiter bis zu Noah über den Rekordhalter
Methusalem, der neunhundertneunundsechzig Lenze erreichte.
Die Kabbalisten interpretieren diese langen Genealogien der Bibel
jedoch als Einteilungen der Zeit, und diese Männer mit den seltsamen
Namen, die im hohen Alter andere zeugen, als Zahlen, die
andere erzeugen. Wie man sieht, findet sich hier ein Lieblings86
gedanke der griechisch-römischen Antike wieder: nomen, numender
Name ist ein Zeichen. [19]
Im Jahre 1945 stieß ein Fellache aus dem Dorf El Dabbah bei
Luxor mit der Pflugschar auf einen großen Tonkrug, der entzweiging,
wobei zahlreiche alte Pergamente am Boden verstreut
wurden. Statt damit ein Feuer zu machen, hatte der Fellache
den glücklichen Einfall, sie für ein paar Groschen an einen Altertumsforscher
zu verkaufen. Heute befassen sich die Gelehrten der
ganzen Welt mit diesen altehrwürdigen Blättern, die im 3. und
4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung in koptischer Sprache geschrieben
wurden. Es sind die heiligen Schriften der Gnostiker.
Einer ihrer Lehrer, Simon Magus, wollte Sankt Petrus an Wundertaten
überbieten. Er könne wie ein Vogel fliegen, erzählte man
sich von ihm. Seine Lehre verführte mehrere Kirchenväter, die
dann als Ketzer verurteilt wurden.
Unter den Handschriften von El Dabbah ähneln die »Offenbarungen
des Thot-Hermes« den »Geheimen Evangelien des Thomas
und Philippus«. Die altägyptische Religion hat durch Pythagoras
den Hellenismus und durch die Kabbala das Judentum
beeinflußt, dasselbe wiederholt sich jetzt durch die Gnostiker
beim neuerstandenen Christentum.
Einzelheiten ihrer Lehre sind schwer zu erfahren. Denn die
Gnostiker umgaben sich wie ihre Vorgänger, die Ägypter, gern
mit einem undurchdringlichen Geheimnis. In den »Offenbarungen
des Thot-Hermes« steht: »Dies ist die Schrift, die in sich birgt die
Stimme und den Namen, die vom Gedanken und von der grenzenlosen
Macht kommt. Deshalb wird sie versiegelt, verborgen
und eingehüllt in das Haus.« [20]
Das wenige, das von dieser Lehre bekannt ist, entzieht sich
durch seine überspitzten, dunklen Gedankengänge jeder Analyse.
Dennoch haben die Religionswissenschaftler aus der verwickelten
gnostischen Glaubenslehre einige große Züge herausgeschält:
1. Die Trinität Vater-Sohn-Heiliger Geist ersetzen die Gnostiker
durch die Dreiheit Vater-Mutter-Sohn. Das Vaterprinzip
87
ist das Absolute. Es ist nicht zu definieren, ist überall und nirgends,
man kann es weder erkennen noch auch nur denken. Die Mutter
ist Sophia (die Weisheit). Sie ist das weibliche Prinzip des Heiligen
Geistes, »die ohne Begattung zeugt«, die Mittlerin zwischen
Gott und der Welt. Der Sohn schließlich ist der Erlöser. Hier
liegt die schärfste Kontroverse zwischen Gnosis und Christentum.
Denn für die Gnostiker ist die Vorstellung eines Mensch gewordenen
Gottes ein blasphemischer Unsinn. Entweder war Jesus
ein Mensch und somit nicht der Erlöser, oder er war der Erlöser
und somit kein Mensch. Mit den Worten eines bedeutenden Sachkenners
»begegnet man also in der Gnosis wieder dem Kult der
göttlichen Frau, der Mutter, des ewig weiblichen Prinzips. Man
wird zurückgeführt zu der alten ägyptischen Trinität des Vaters,
der Mutter (Isis) und des Sohnes«. [21]
2. Diesem Gott, der die übernatürliche Weltordnung geschaffen
hat, losgelöst von Zeit und Raum und damit allein vollkommen,
unterstellen nun die Gnostiker einen anderen, eine Art Statthalter
des ersten, aus dem er hervorgegangen ist: den Demiurg, häufig
Luzifer genannt, Gesetzgeber des Kosmos, Fürst dieser Welt. [22]
3. Für die Gnostiker ist es nicht der Glaube, der erlöst, sondern
das Wissen. Voller Verachtung blicken sie auf das Volk herab,
das Opfer von Dogmen und Allegorien, mit seinem »Köhlerglauben
« und streben nach der erlösenden Erkenntnis: der Gnosis,
dem geheimen Schatz der auserwählten Eingeweihten.
Bevor wir nun das Labyrinth der religiösen Strömungen im
Vorderen Orient weiter erforschen und die Spur der Kreuzfahrer
wiederaufnehmen, schalten wir einige interessante Ausführungen
von Matila Ghyka ein:
»So entstanden zugleich die Hermetik und die Kabbala, unauflöslich
verbunden mit der Gnosis durch gemeinsame Aszendenz.
Es sind die drei Gesichter – das ägyptische, jüdische und hellenistische
– ein und derselben Gottheit.
An der Schwelle des christlichen Zeitalters ist der strahlende
alexandrinische Mikrokosmos ein wahrer Garten der Hesperiden
für Metaphysik und Religionen, für Systeme und Riten. Von diesem
Mittelpunkt zweigen die großen Wege des Denkens sowie
88
die dunklen Laubengänge der Sekten ab. Und vor ihm erhebt sich
schützender als je zuvor der königliche Baum der reinen Philosophie.
Ein Duft von Mysterien weht durch diesen Garten. Wie Thot-
Hermes ist Demeter-Ceres ins Land der schwarzen Erde [23]
zurückgekehrt, ist wieder zu Isis geworden, der ›duftenden Königin,
in Linnen gekleidet‹. Sie hat sich, wie ihr Gefährte, erstaunlich
verjüngt. Beider Bereich ist wieder die Magie und das beschwörende
Wort.
›Kein Sterblicher hat je erfahren, was unter meinem Schleier
sich verbirgt‹, sagte die Isis der Antike, die Göttin der Mysterien
und der geheimen Riten. Die alexandrinische Isis hält in ihrer
Handfläche die Frucht vom Baum der Erkenntnis, läßt den
Schleier herabgleiten und erscheint, nach Ambra duftend und eingehüllt
in makelloses Leinen – Göttin der Fruchtbarkeit, Ursprung
und Inbegriff allen Lebens.
Die junge christliche Kirche erkennt sofort in der alexandrinischen
Gnosis den Feind. Sie weiß um den Reiz, um die Verlockung,
die all diesen dunklen, magischen Dingen anhaftet. Die
Bewegung wird scheinbar zur Vernichtung verurteilt. Wir werden
jedoch sehen, daß sie ein zähes Leben besitzt und mit ihren Schwestern,
der Kabbala und der Hermetik, im esoterischen Schatten
weiterwandelt, wie es auch ihrer Herkunft entspricht. Von Jahrhundert
zu Jahrhundert wird ihr rituelles und ideologisches Erbe
weitergereicht, das nicht zum geringsten Teil aus pythagoreischen
Riten und Symbolen besteht.« [24]
Legen wir die dicken Bücher beiseite und nehmen wir nun die
erste beste Illustrierte vor. Wir sehen das vertraute Gesicht eines
Mannes, der die Chronik der großen Welt mit Stoff versorgt:
Aga Khan. Ein Rennstall, schwere Sportwagen, ein Harem von
Filmstars, ein Millionenregen. Wir erinnern uns dunkel, daß er
in Pakistan eine Art Papst ist, daß er seinen Reichtum aus den
Scherflein seiner Anhänger, der Ismaeliten, bezieht. Und daß er
diese Gelder weit weg von ihnen für zweifellos sehr »pariserische«
Vergnügungen ausgibt, deren geistiger Wert jedoch nicht unbedingt
in die Augen springt. Keinesfalls kann man sich vorstellen, daß
89
die Vorfahren des Aga Khan in die geheime Geschichte des
Templerordens verwickelt sein könnten. Und trotzdem...
Die Sekte der Ismaeliten wurde um das Jahr 760 gegründet,
nachdem der Imam Djafar AI Sadik zugunsten eines jüngeren
Sohnes seinen legitimen Erben Ismael von der Nachfolge ausgeschlossen
hatte. Er warf ihm vor, trotz des Verbotes durch den
Koran Wein getrunken zu haben. Doch das Sprichwort »in vino
veritas« war älter als der Koran, und seine Liebe zu der göttlichen
Flasche schadete dem Ansehen Ismaels keineswegs – im Gegenteil.
Sein Name wurde zum Banner derjenigen Islamiten, die
glaubten, der Buchstabe töte, der Geist aber belebe. Sie leugneten
seinen Tod. Ismael wurde für sie eine Art von Messias, der verborgene
Imam, der auf Erden der Gleichheit zum Sieg verhelfen
sollte. Zum großen Ärgernis der mohammedanischen Geistlichkeit,
die lehrte, der Koran sei Mohammed Wie ein einziges
Wort« diktiert worden, gaben die ismaelitischen Missionare, die
von Persien bis nach Syrien predigten, dem heiligen Buch eine
allegorische Interpretation.
Um die Mitte des 11. Jahrhunderts gründeten die ismaelitischen
Schiiten eine politisch-religiöse Geheimgesellschaft: die Assassinen.
Pythagoras hatte das bereits lange vor ihnen getan, und die
Templer folgten etwas später. Geraume Zeit führte man diesen
Namen zu Unrecht auf das Haschisch zurück, das die Assassinen
vielleicht zu sich nahmen, um sich in einen visionären und zugleich
kriegerischen Seelenzustand zu versetzen. So tranken sie auch als
erste Kaffee, um die langen Nachtwachen durchzuhalten, die sie
der Meditation widmeten. In Wahrheit aber bezeichneten sich
die Assassinen als Wächter des Heiligen Landes [25], eines rein
allegorischen Heiligen Landes, eines mystischen Gebirges, das auf
keinem Atlas zu rinden ist und das in ihren Augen die Erdachse
darstellte.
Zur Zeit der Kreuzzüge bildeten die Assassinen innerhalb des
Islams einen geheimen Ritterorden, der in Asien einen ebenso
beträchtlichen politischen und religiösen Einfluß ausübt wie der
Templerorden innerhalb des Christentums. An ihrer Spitze steht
der Scheich El Djebel – der Alte vom Berge. Der erste Alte vom
90
Berge, Hassan Sabah, hatte im Iran in Alamont eine Festung erbauen
lassen, in der er – wie man erzählte – fünfunddreißig
Jahre lebte, ohne sein Zimmer zu verlassen, »bis auf zweimal, wo
er auf die Terrasse ging«. Doch trotz dieser Zurückgezogenheit
ließ der wegen seiner Gelehrsamkeit und seiner Unbeugsamkeit
gefürchtete Mann, dem alle Mitglieder des Ordens blinden Gehorsam
schuldeten, ganz Kleinasien seine Macht spüren. In Alamont
hatte er ein Observatorium und eine gewaltige Bibliothek
mit wissenschaftlichen und philosophischen Werken eingerichtet.
Größtenteils bestand sie aus alchimistischen Handschriften. Im
13. Jahrhundert wurde sie von den Mongolen verbrannt.
Die Lehre der Assassinen entspricht in ihrer Art der Hermetik,
der Kabbala und der Gnosis, sie ist nur in noch höherem Maße
abstrakt. Das enthebt uns der Aufgabe, uns über dieses System zu
verbreiten, das mehr philosophisch als eigentlich religiös ist. In
seinem Mittelpunkt stehen – von einer geheiligten Aureole umgeben
– die Zahlen und die Berechnung, denen eine Fülle von
geheimen Bedeutungen innewohnt. Diese islamische Kabbala gewann
in dem größten Dichter des mittelalterlichen Islams, dem
berühmten Omar Chajjam, einen leidenschaftlichen Anhänger.
Verständlicherweise mußte eine solche Weltanschauung geheim
bleiben. Als um 1250 der dritte Alte vom Berge, Hassan II., so
unvorsichtig war, sie zu popularisieren, und dabei sogar sämtliche
Kultbräuche, die er der Eingeweihten für unwürdig befand, abschaffte,
wurde er von seinem eigenen Schwager erdolcht. Die
orthodoxen Mohammedaner beseitigten die Assassinen vollends,
denen sie seit langem vorwarfen, sie unterhielten zu gute Beziehungen
zu den Juden und den Christen.
Aufbau und Hierarchie des Ordens der Assassinen sind identisch
mit denen der Templer, ihren Zeitgenossen. Bei beiden gab
es sechs Rangstufen. Auch die Kleidung der beiden Orden glich
sich erstaunlich. Templer wie Assassinen trugen den weißen, rot
verzierten Mantel. Bei den Templern war es das Kreuz, bei den
Assassinen der Gürtel.
Kabbalisten, Gnostiker, Assassinen... Eine wesentliche Tatsache
zeichnet sich bei diesem kurzen Überblick zumindest ab.
91
Während die Kreuzzüge den schwankenden Glauben des katholischen
Abendlandes gegen die monolithische Sicherheit des mohammedanischen
Orients verteidigen und beide Seiten vom Kampf
erschöpft sind, gibt es auf demselben Schlachtfeld geistige Strömungen,
die in ihrem religiösen Symbolismus einander zuinnerst
verwandt sind. Für sie besteht der eigentliche Gegensatz nicht
zwischen Juden, Christen und Mohammedanern, sondern nur
zwischen dem, der glaubt, und dem, der weiß, zwischen dem Profanen
und dem Eingeweihten.
UND AUF DIESEN FELSEN...
Auf der schwarzen Erde des Nils wuchs noch eine andere Blume,
deren Duft mehr als einem zu Kopf gestiegen ist: die Alchimie.
Im 3. nachchristlichen Jahrhundert ist sie in Ägypten entstanden.
Die ersten alchimistischen Schriften wurden in Theben, der
Heimat des Widders, aufgefunden. [26] Ihr erster Apologet,
Zosimos von Panapolis, lebte in Alexandrien. Und ihr erster
Märtyrer, Synesios, wurde gleichfalls in Alexandrien von den
Christen gelyncht. Mit dem ersten Verbot belegt wurde sie durch
einen Erlaß des Diokletian. Er bestimmte, daß sämtliche Bücher,
die sich mit der Transmutation der Metalle befassen, zu vernichten
sind.
Jede okkulte Lehre behauptet bei ihrer Entstehung gern von
sich, sie beruhe auf einer uralten Tradition und sei göttlichen Ursprungs.
Zosimos berichtet von Engeln, die, von der Liebe zu
Frauen ergriffen, auf die Erde herabstiegen, Riesen zeugten, die
Menschen alle Geheimnisse der Natur lehrten und niemals wieder
in den Himmel zurückkehren durften. [27] Zunächst waren die
ägyptischen Priester die einzigen Mitwisser dieser Geheimnisse,
die Juden jedoch entlockten sie ihnen und verbreiteten sie unter
den Völkern.
Andere Schriftsteller berufen sich auf die Lehre des Hermes
92
Trismegistos. Zwei Legenden und eine Behauptung: die Alchimie
ist eine Tochter der ägyptischen Priesterschaften, und Thot-
Hermes steht hier nur als Symbolfigur.
Die alexandrinische Alchimie stand zwei Jahrhunderte lang in
Blüte. Dann wurde sie durch die Intoleranz der Kirche gezwungen,
im Verborgenen weiterzuleben. Doch die Kopten ließen sie
wieder ans Tageslicht treten und verbreiteten die Lehre. Zu
Beginn des 7. Jahrhunderts wurde Prinz Khalid, der in Ägypten
regierte, der erste mohammedanische Adept. Ihm folgten viele
andere, der berühmteste ist Avicenna. Noch weitere zweihundert
Jahre war der Islam – vor allem in den Assassinen – der einzige
Erbe der Tradition, Byzanz ausgenommen, wo die Alchimie langsam
dahinsiechte. Von Ende des 10. Jahrhunderts ab jedoch suchten
und fanden einige wenige Europäer die Verbindung zu ihr,
zunächst über Spanien, später über Sizilien.
Jeder glaubt zu wissen, was Alchimie ist – die Suche nach dem
sagenhaften Stein der Weisen, mit dessen Hilfe man jedes Metall
in Gold verwandeln kann.
Die Wirklichkeit ist weniger einfach und weniger klar. Wir
können hier nur kurz darauf eingehen.
Die Alchimie ist Technik, Gnosis, Askese in einem. Sie hat ein
dreifaches Ziel: Metalle umwandeln, die Geheimnisse der Natur
ergründen, den Alchimisten selber verwandeln. Diese drei Aspekte
sind für die Verkünder der Lehre untrennbar. Sie gehen ohne
weiteres von einem zum anderen über, beschreiben sowohl den
geistigen Entwicklungsgang des Adepten in chemischen Begriffen
als auch die chemischen Prozesse in einer verhüllt religiösen
Sprache. Man darf sich von dieser Doppelbödigkeit nicht irreführen
lassen. Der Alchimist ist weder einfacher Praktiker noch rein
spekulativer Forscher. Salpetersäure, Schwefelsäure, Alkohol,
Antimon und viele andere Entdeckungen, die der Alchimie zu
verdanken sind, beruhen nicht auf Absicht oder Erkenntnis.
Die Alchimie entstand in den Werkstätten der Metallurgen, der
Glasbläser, der Töpfer, der Färber, die ihre Arbeitsmethoden so
eifersüchtig hüteten, daß manche für immer verlorengingen. [28]
93
Aus diesen empirischen Kenntnissen wird sehr bald eine umfassende
doktrinäre, einheitliche und vitalistische Synthese.
Zu Anfang steht das »große Mysterium«, das ursprüngliche,
ungeteilte Ganze, das in seinem Wesen alle virtuellen Kräfte in
seiner Unendlichkeit alle Augenblicke enthält. Es ist in zwei Substanzen
polarisiert: einer positiven, aktiven, männlichen, geistigen
(das Feuer, das »fiat lux« der Genesis, der »große Baumeister«)
und einer negativen, passiven, weiblichen, materiellen (die »Urmutter
«, die Wasser der Genesis). Das männliche Prinzip befruchtet
das weibliche und ordnet so das Chaos zum Kosmos. Der Kosmos
ist ein lebendiges Wesen, ein gewaltiger Organismus. Er
besteht aus Schwefel (Geist, Form, aktives Prinzip), aus Quecksilber
(Materie, Substanz, passives Prinzip) und aus Salz (Verbindung
von beiden, Lebensatem, Bewegung) [29]. Jedes dieser
Teile und der Teile dieser Teile bis ins Unendliche ist nun seinerseits
ein kleines Universum nach dem Abbild des großen, wie dieses
Geist, Materie und Leben in einem. [30] Die Welt ist also
in ihren verschiedenen, veränderlichen Formen eins und ewig. Der
Alchimist bezeichnet die verschiedenen Zustandsformen der Materie
als Element: fester Zustand (Erde), flüssiger (Wasser), gasförmiger
(Luft), feuriger (bewegliches Feuer) und schließlich strahlende
Energie (ständiges Feuer).
Das ursprüngliche Eine steht außerhalb der Zeit und enthält
alles, was gewesen ist, was ist und was sein wird. Es gibt also,
genaugenommen, keine Schöpfung, oder vielmehr ist diese Schöpfung
kontinuierlich, ihr Ablauf ist überall und immer gleich, für
die Teile wie für das Ganze. Der Alchimist versucht also keineswegs,
neue Körper zu erschaffen. Seine Arbeit gilt nur dem Ziel,
die Materie ihrer spezifischen Eigenschaften zu entkleiden, sie auf
ihre Substanz zurückzuführen oder, umgekehrt, dieser Substanz
neue Formen zu geben. Deshalb nennt man ihn auch Färber, da
er nur das Aussehen des Stoffes, nicht aber dessen Zusammensetzung
verändert, oder auch »Färber des Mondes«, [31] denn er
»färbt«, d. h. verwandelt Silber in Gold.
In der Tat »sind die Metalle alle einander ähnlich in ihrer Substanz
und unterscheiden sich nur durch ihre Formen« (Albertus
94
Magnus) und streben natürlicherweise der vollkommenen Form
ihrer Gattung zu, dem Gold. Wenn er die unedlen Metalle in edles
Gold, die »kranken« in »gesunde« verwandelt, beschleunigt der
Alchimist nur einen natürlichen Prozeß.
Die Transmutation von Metallen ist lediglich ein besonderer
Fall, ein erstaunliches Experiment. Die Alchimie ist »die Kunst,
mit der Natur zu arbeiten, um sie zu vervollkommnen« (Dom
Antoine-Joseph Pernety), sie aus sich selbst heraus weiterzuentwickeln
und in ein fortgeschrittenes Stadium zu überführen. Die
Prozesse, mit deren Hilfe der Alchimist in der kleinen Welt seines
Laboratoriums gewissermaßen das Werk des »Großen Baumeisters
«, der den Kosmos erschaffen hat, wiederholt, erfordern tiefes,
umfassendes Verständnis für die Naturgesetze. Umgekehrt jedoch
wird dieses Verständnis dadurch noch vertieft und verleiht ein
praktisches Können, das weit über die Herstellung von ein paar
Unzen Gold hinausgeht. Der Stein, der das kranke Metall heilt,
kann auch Panazee sein, das Lebenselixier, der Jungbrunnen, der
das Leben vervollkommnet und erhält. Der Alchimist glaubt, er
könne die groben Elemente sublimieren und sie subtiler, ja sogar
unsichtbar machen. Warum sollte er nicht auch davon träumen,
sein eigenes Fleisch zu sublimieren, ein »verklärter Leib« zu werden,
unverweslich zu sein, sich unsichtbar machen und schnell von
einem Ort zum anderen begeben zu können usw.? Manche Adepten
glaubten, ein Gegenstand, der seine materielle Substanz verloren
hat, könne in einer unsichtbaren Zustandsform verharren,
man könne ihm aber seine Substanz zurückgeben und ihn auf
diese Weise wieder erscheinen lassen. Für sie ist es also möglich,
den Ablauf der Zeit umzukehren, den Duft der Rose wieder mit
frischen Blütenblättern zu umkleiden und die Erinnerung an
einen Toten mit einem jungen Körper...
Schließlich galt die Umwandlung der Materie dem Ziel, den
Alchimisten selber zu verwandeln. Wenn er das »magnum opus«,
das große Werk, vollbracht und dabei das Göttliche, das jedem
Menschen innewohnt, frei gemacht hat, wird der Alchimist zu
einem jener Wächter«, von denen der Prophet Daniel spricht:
»Hauet den Baum um und behaut ihm die Äste... Doch laßt den
95
Stock mit seinen Wurzeln in der Erde bleiben; er aber soll in
eisernen und ehernen Ketten auf dem Felde im Grase und unter
dem Tau des Himmels liegen... Solches ist im Rat der Wächter
beschlossen und im Gespräch der Heiligen beratschlagt...« [32]
Seine Weisheit wird sich dann ebenso von der der anderen Menschen
unterscheiden wie das Wachen vom Schlaf. Nun, da jenes
symbolische dritte Auge der Klarsicht, das jeder Mensch als Anlage
in sich trägt, geöffnet worden ist, wird der »gekrönte« Alchimist
wahrhaft »wie Gott«, wie es die Schlange im Paradies
verheißen hatte.
Nach Auffassung des Alchimisten war ja jeder Teil des Kosmos
für alle anderen verantwortlich und nicht von ihnen zu trennen.
Deshalb gründete er auch seine Hoffnungen, seine über jedes Maß
hinausgehenden Ziele zu verwirklichen, auf die praktischen Versuche
in seiner Werkstatt. Und deshalb war auch alles wichtig für
seine Arbeit: die Reinheit der Seele wie die Ausmaße des Laboratoriums,
die Konstellation der Gestirne wie die Form und die
Proportionen der Instrumente, die er übrigens stets selbst verfertigte.
Der Weg der alchimistischen Erkenntnis ist lang, mühevoll, von
Versuchungen und Fallstricken gesäumt. Ihn zu gehen, erfordert
ungewöhnliche Energie und Mut. Deshalb wird der Adept auch
oft mit Herkules verglichen, der den gefesselten Prometheus
befreit.
Neben allen übrigen Tugenden braucht der Alchimist noch
Geduld und Scharfsinn. Nicht von ungefähr haben die Alchimisten
zur Symbolisierung ihres Werkes die Argonauten-Sage gewählt.
Wir wollen uns diese schöne Geschichte noch einmal kurz vergegenwärtigen.
Phrixos, der Ahnherr der Phrygier, und seine Schwester Helle
flohen vor ihrer Stiefmutter nach Asien auf einem Widder mit
goldenem Vlies, dem Hermes die Gabe des Wortes verliehen hatte
und der höher flog als ein Adler. Unterwegs stürzte Helle ins
Meer – nach ihr wurde der Hellespont benannt –, doch Phrixos
langte in Kolchis, am Schwarzen Meer, an. Er opferte den Wid96
der dem Zeus und schenkte das Vlies dem König des Landes, der
es an einer Ulme auf einem dem Kriegsgott Ares geweihten Feld
aufhängen ließ. Ein Drache bewachte das Vlies, das seinen Besitzer
glücklich, weise, mächtig und reich machen sollte.
Der Grieche Jason faßte den Plan, das Goldene Vlies zu erobern.
Er rüstete ein Schiff aus, die Argo. [33] Die berühmtesten
Helden bildeten die Mannschaft: die Dioskuren: Kastor, Sohn
eines Sterblichen, und Pollux, Sohn eines Gottes; Theseus, Herakles,
Orpheus usw... Nach einer abenteuerlichen Reise gelangten
sie nach Kolchis. Der König des Landes konnte Jason nicht abhalten,
sein Glück zu versuchen, er legte ihm aber übermenschliche
Prüfungen auf. Er mußte zwei Stiere mit ehernen Hufen zähmen,
sie vor einen diamantenen Pflug spannen, das Feld des Ares
umpflügen, die Drachenzähne aussäen, aus denen Riesen entsprossen,
die er bekämpfen mußte. Doch Jason gefiel der Tochter
des Königs, Medea. Sie verstand sich auf Zauberei und schenkte
ihm einen Stein, der bewirkte, daß die Riesen einander umbrachten
und der Drache gezähmt wurde. So eroberte Jason das Goldene
Vlies. Das weiße Schiff der Argonauten kehrte nun nach
Griechenland zurück. Pallas Athene erhob es in den Himmel –
es wurde zum Sternbild Argo ...
Es gibt nichts Dunkleres als eine Abhandlung über Alchimie.
Die Verfasser benutzen alle möglichen Mittel, um ihre Lehre zu
verschleiern und die Laien irrezuführen: Hieroglyphen, Symbolsprache,
Mythen und Allegorien aus der griechisch-römischen
Antike, der Bibel, der Folklore usw. Sie bedienen sich der Kryptographie,
von der einfachsten (Anagramme, Wortspiele) bis zur
kompliziertesten (Geheimalphabete, Umstellung von Buchstaben,
verdeckte Wortteile). Die Chiffrierkunst des Militärs und der
Diplomatie hatte ihre Vorläufer in den Alchimisten – so zum
Beispiel der berühmte Großkanzler von England, Francis Bacon,
oder Blaise de Vigenère, dessen System heute noch in der französischen
Armee verwandt wird. Einige Alchimisten setzten ihre
Geheimnisse in die Bildsprache um. Das »Liber Mutus« von
Soulat des Maretz oder »Traité symbolique de la pierre philoTafel
V: Das Wappen des Templerordens (oben). – … unter der Erde vier
Bauwerke, darunter die berühmte Kapelle. Nationalarchiv, (unten)
Tafel VI: Die unterirdische Kapelle Sainte-Cathérine, wie sie Lhomoy beschreibt,
mit ihren Statuen und Kisten. Plan von 1696; Privatarchiv (oben). – Der Plan
nach den Angaben Lhomoys: 13 Statuen, 19 Sarkophage, 30 Kisten . . . (unten)
97
sophale« (Symbolische Abhandlung über den Stein der Weisen)
von Conrad Barchusen etwa bestehen aus Bilderrätseln, die man
entziffern muß, wenn man etwas über die im Laboratorium angewandten
Methoden erfahren will. Dann gibt es die Siegel
und Pentagramme, mehr oder minder abstrakte Schemata, die
ohne Schlüssel nicht zu verstehen sind. Und schließlich sind die
Geheimnisse des Steins der Weisen in den Steinen selber verborgen.
Skulpturen in manchen Kirchen, Ornamente an manchen
Wohnhäusern haben die Ketzerverbrennungen überlebt. [34]
Denn die Heilige, die Königliche Kunst der Alchimie sollte nur
einer sehr beschränkten Anzahl von Würdigen vorbehalten bleiben.
Selbst der berühmte Nicolas Flamel – aus dem Vexin stammend
wie François Villon – soll vierundzwanzig Jahre vergebens
gesucht haben, bis er den richtigen Weg fand. [35]
Nun war die Alchimie aber nicht nur aus Büchern zu erlernen.
Man mußte durch einen Lehrer in ihre Geheimnisse eingeweiht
werden, und diese wiederum waren schwer zugänglich, auch wenn
die Schüler von weit her zu ihnen gepilgert kamen. Sie mußten
ja die niedrigen, gewöhnlichen Naturen abweisen, die nur an das
Gold dachten, und die Gottlosen fernhalten, die, einmal im Besitz
des Geheimnisses, die Welt ins Chaos gestürzt hätten.
In das geheime Laboratorium des Alchimisten kann man nur
einen Blick durchs Schlüsselloch werfen.
Zwei Wege gab es für den Alchimisten: den Landweg, sozusagen
die »trockene Methode«, und den Wasserweg, die »feuchte
Methode«. Über die erste weiß man nichts. Manche behaupten,
sie sei sehr alt, manche, sie sei eine späte Erfindung. Sie wird auch
»priesterlicher Weg« oder Weg der Demütigen« genannt. Keine
Abhandlung spricht von ihr, daher gilt sie als zweifelhaft. Sie
wurde nur durch mündliche Überlieferung weitergegeben und hat
übrigens mehr als einem vermessenen Alchimisten das Leben gekostet.
Die »feuchte Methode« wurde mit der Schiffahrt verglichen.
Im Athanor [36] – auch »Kosmischer (Alchimistischer) Ofen« genannt
und durch einen Turm symbolisiert – wurde eine hermetisch
verschlossene Glasretorte erhitzt. Darin befand sich die
98
prima materia. Diese Retorte, in der das große Werk reifte, wurde
meist das »Philosophische Ei« oder auch »Gefängnis des Kükens«
genannt.
Doch vor der Umwandlung war eine Reihe von komplizierten
Operationen notwendig. Das quecksilberhaltige Wasser oder
»feile Frau«, das mit arsensauren Salzen verfälscht war, mußte
geklärt werden: es wurde zu Tau oder Weihwasser, Jungfrau
oder Mond, bildlich dargestellt durch Diana. Nun folgten mehrere
Bäder, in die »Mann« und »Frau«, oft König und Königin, getaucht
wurden, die jeweils Schwefel und Quecksilber darstellten.
Jede Hausfrau kennt das Wasserbad. Keiner aber weiß, daß es
von einer weiblichen Alchimistin erfunden wurde, von Maria,
der Jüdin.
Die Materie mußte ferner verdunsten, dann wieder kondensiert
werden. Dieser langwierige Prozeß erforderte Monate, sogar
Jahre, in denen der Alchimist an seinen Ofen gefesselt war – in
alchimistischen Texten heißt er »Gefangener seines Turmes« –,
denn jede Operation konnte nur im günstigen Augenblick vorgenommen
und mußte mehrmals wiederholt werden. Oft wird
diese lange Arbeit mit der Jagd verglichen. Ihre beiden Komponenten
werden dabei jeweils zum Hirsch und zum Einhorn – der
fliehende Hirsch, dessen Herz schließlich den Hunden zum Fraß
vorgeworfen wird [37], und das Fabeltier Einhorn, das nur eine
Jungfrau fangen kann. [38]
Aus der durch Läuterungs- und Auflösungsprozesse gewonnenen
Materie erhielt der Alchimist nun nach vierzig Tagen den
berühmten Stein der Weisen. Während dieses letzten Kapitels des
»Großen Werkes« nahm die Materie nacheinander vier Farben
an: schwarz, weiß, regenbogenfarbig und schließlich rot. Sie
würde Rabe, Taube und Pfau und dann erst rot, sagte man.
Danach konnte endlich der Stein oder »Karfunkel« zutage gefördert
werden. Er wurde durch ein Kind symbolisiert oder durch
einen Delphin, oft auch durch eine Rose.
Schließlich »vervielfachte« man den Stein zu »einem Pulver aus
violettem Rubin, sehr schwer, durchsichtig, glänzend, flüssig und
leicht löslich«.
99
Warf man ein viertel Gran dieses Pulvers in den Schmelztiegel,
so verwandelte man anscheinend 2000 bis 18 000 Gran unedlen
Metalles durch eine Art Kettenreaktion in Gold. [39]
Es gibt Zeugen, wie Saint Vincent de Paul und Spinoza [40],
die behaupten, sie hätten mit eigenen Augen eine Transmutation
gesehen. Nach Nicolas Flamel versichern große Ärzte,
wie Helvetius und Johann Baptist van Helmont und später Tifferau
in einem Memorandum an die französische Akademie der
Wissenschaften (1855), sie selber erfolgreich vorgenommen zu
haben. Andere jedoch, wie der Deutsche Heinrich Cornelius
Agrippa von Nettesheim, ein Freund von Rabelais und Historiker
Karls V., der sein ganzes Leben der Alchimie gewidmet hatte,
gestanden im Alter ihre Niederlage ein.
Wenn man sich nun mit vieler Mühe durch ein Gestrüpp von
Rätseln hindurchgearbeitet und die Rezepte aus den alten Abhandlungen
entschlüsselt hat, bleibt das »Große Werk« trotzdem
noch in sein Geheimnis gehüllt, da man nichts über die berühmte
prima materia erfährt, mit der man arbeiten muß. »Man gewinnt
sie aus dem Geschlecht der Isis«, sagen mehrere Verfasser. »Man
findet sie im Feuerstein«, versichern andere. Doch was ist dieser
»vegetabilische Stein«, dieser »Krötenstein«, dieser »Grünspan«,
mit dem alles beginnt? »Sie ist ebenso geheim wie gewöhnlich«,
äußert sich ein alter Alchimist orakelhaft über die prima materia.
»Alle kennen sie, alt und jung, arm und reich. Sie kostet nichts als
die Mühe, sie aufzuheben und kann von einem Kind präpariert
werden.« Nicolas Flamel schildert sie als »Dreck«, sogar als
»Mist«. Und dennoch führt nur über sie der Weg in das »Gelobte
Land«, über dieses am besten gehütete Arkanum der Alchimie. [41]
Wir haben so ausführlich von der Alchimie gesprochen, weil sie
vom 11. bis zum 16. Jahrhundert unter den zahlreichen Geheimlehren
den wichtigsten Platz einnimmt. Ihre Symbolik und Allegorien
sind nicht nur den Sekten geläufig, sondern auch den meisten
Chronisten, Schriftstellern, Künstlern und gehören zum
wesentlichen Bestandteil der Kultur.
Am nächsten aber standen den Alchimisten die Baumeister.
Rühmten sich nicht beide einer Königlichen Kunst, arbeiteten sie
100
nicht beide mit dem Stein? Beider Ehrgeiz ist darauf gerichtet, das
Werk des »Großen Baumeisters« zu begreifen und nachzuahmen.
Das gewaltige Gebäude der katholischen Kirche ruht auf einem
Wortspiel Christi: »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich
bauen meine Gemeinde.« Die Juden verehrten den Stein von Lus
oder Bethel, wo Jakob von der Himmelsleiter träumte. In der
Kaaba zu Mekka berühren die Mohammedaner den schwarzen
viereckigen Stein, von dem aus der Prophet in den Himmel entrückt
wurde. Auf Zypern stand ein schwarzer Stein, an dem man
zu Astarte betete ... Die erste Aufgabe des Baumeisters wie des
Alchimisten besteht darin, den Grundstein für das Werk sorgfältig
auszuwählen, wobei es unerheblich ist, welche Namen die
Profanen dann dem Gott geben werden. »Die Kirche ist da, wo
du bist, bleibe hier«, lautet der gleichbleibende Grundsatz bei
allen esoterischen Gesellschaften. Der Stein wird so zum einigenden
Symbol. Die Architektur – Dach der Arche – ist auch Archi-
Textur, die Wissenschaft vom ursprünglichen Gefüge, Einheit
der Metaphysik jenseits der verschiedenartigen Konfessionen.
Vielleicht vermochten dadurch die Templer im Heiligen Land
die Geschichte des jüdischen Volkes als gewaltige Parabel zu deuten
– vom Exodus bis zum Exil, von Moses, dem Sohn Ägyptens,
bis zu Daniel, dem Sohn der chaldäischen Weisheit [42], dem
Vorfahr des Johann von Patmos, und zu Jeremias, der die Arche
der Obhut des Berges Nebo [43] anvertraute, bevor er über die
Erniedrigung des auserwählten Volkes in Babylon zu klagen anhob.
Vielleicht haben sie sich auch gefragt, weshalb umgekehrt der
Weihnachtsstern den Chaldäer Balthasar zur Wiege Christi
führte, und warum Christus zum Brunnen des Jakob ging, um
Wasser von der Samariterin zu erbitten.
Vielleicht hat man ihnen erzählt, daß Bethel vom Fluch Gottes
getroffen wurde. Der einzige Einwohner, der dem Massaker entging,
kehrte in das Land zurück, aus dem einst seine Vorfahren,
die Hethiter, gekommen waren. Und er errichtete auf dem mitgebrachten
Stein eine Stadt nach dem Abbild der untergegangenen.
Und vielleicht wußten sie, daß das Land der Hethiter am
Schwarzen Meer [44] auch Kolchis genannt wurde. [45]
Kannten die Templer bereits den Unterbau, der von der Kabbala
über Gnosis und Alchimie die Grundmauern Ägyptens mit
denen des Mittelalters verband, als sie im Heiligen Land ankamen?
Oder haben sie ihn erst nach ihren langen Jahren und
Erfahrungen im Orient entdeckt?
Zur Unterstützung der ersten Hypothese könnte man einige
Tatsachen anführen. Das Dunkel, das für die Historiker lange
Zeit die Person von Hugues de Payen, Begründer des Tempelritterordens,
umgeben hat, ist durch die Auffindung seiner Geburtsurkunde
nicht völlig erhellt worden. [46] Sein Familienname
selbst ist verwirrend, wenn es stimmt, daß seine Vorfahren,
die um das Jahr 1000 mit Tankred von der Normandie über die
Alpen gezogen waren, »den Zunamen de Payen für ihre Familie
erwarben durch die schönen Heldentaten, die sie gegen die ungläubigen
Muselmanen vollbrachten«. [47]
Ebenso darf man die von Anfang an vorhandene Vorliebe der
Templer für die Zahl neun nicht außer acht lassen. Es waren neun
Ordensgründer, wie die ersten Pythagoräer. Sie trugen neun
Jahre lang das weltliche Gewand, ehe sie den weißen Mantel anlegten.
Sie sahen neun Fälle für den Ausschluß aus dem Orden
vor usw.
Vielleicht sind diese Indizien zu geringfügig, um einen gültigen
Beweis zu liefern. Andererseits läßt sich nicht abstreiten, daß sich
seltsame Begebenheiten häuften, die auf irgendein Geheimnis hinwiesen,
und zwar seit dem Konzil von Troyes, auf dem der
Templerorden knapp zehn Jahre nach seiner Gründung seine Statuten
erhielt.
102
DIE WUNDERBAREN GEHEIMNISSE
VON MEISTER RONCELIN
Die merkwürdige Geschichte der Päpstin Johanna ist bekannt.
Im Jahre 855 folgte auf den verstorbenen Leo IV. ein sehr gelehrter
Papst, der unter dem Namen Johann VIII. regierte, bis
ein Skandal ohnegleichen seinem Pontifikat wie seinem Leben ein
Ende setzte. Es geschah zu Rogate – dem christianisierten alten
heidnischen Fest der Demeter. Johann VIII. in weißem Ornat
und Tiara führte die feierliche Prozession an. Plötzlich wurde er
von einem heftigen Unwohlsein befallen. Zur allgemeinen Verblüffung
stellte sich heraus, daß der Papst eine Frau war, die mitten
auf dem Petersplatz eine Tochter gebar. Weder Mutter noch
Kind überlebten, obwohl manchmal behauptet wird, man habe
beide lediglich in einem unterirdischen Verlies verschwinden lassen.
Wer der Liebhaber der Päpstin war, wurde nie bekannt.
Historische Tatsache oder Legende? Die Entscheidung darüber
bleibt jedem überlassen. [48]
Das Konzil von Troyes, auf dem die Templer im Jahre 1128
ihre Ordensregel erhielten, wurde von einer nicht minder geheimnisumwitterten
Persönlichkeit präsidiert.
Johann II., Bischof von Orleans von König Ludwigs VI. Gnaden,
trug den eigentümlichen Beinamen Flora. Wenn man den
Chroniken glaubt, so lag die Ursache dafür auf der Hand: der
Bischof sei »ein Nachtmahr und ein Sodomit« gewesen. Ob wahr
oder falsch – ein weiterer merkwürdiger Umstand wird dadurch
nicht erklärt: nach den Protokollen des Konzils führte Johann II.
den Titel »praesul«, den die Römer den Mars-Priestern verliehen.
[49]
Jedenfalls fällt durch die Gestalt dieses zwielichtigen Bischofs
bereits auf die Anfänge des Templerordens jener Schatten von
schillerndem Geheimnis, der noch zwei Jahrhunderte später die
letzten Scheiterhaufen in sein magisches Dunkel taucht.
Will man nun diese Schatten erhellen und die rätselvollen
Widersprüche des Prozesses aufklären, so erhebt sich die Frage,
103
ob der Orden hinter seinem offenkundigen Wirken nicht im Innern
eine geheime Gemeinschaft oder Gruppe verbarg, zu der nur
bestimmte, sorgfältig ausgewählte Mitglieder zugelassen wurden.
Und ob nicht zumindest einige Templer nach der offiziellen Aufnahme
noch einer geheimen Einweihung nach einer ebenfalls geheimen
Regel unterworfen wurden und sich unter dem Deckmantel
der Orthodoxie zu einer Lehre bekannten, die mit der
katholischen wenig gemein hatte und daher verborgen bleiben
mußte.
Die Aussagen mehrerer französischer Templer sprechen für
diese Hypothese. Zum Beispiel erklärte der Templer Gaucerand
de Montpezat: »Wir haben drei Artikel, die keiner je erfahren
wird, ausgenommen Gott, der Teufel und die Meister.« [50]
Raoul de Presles, Nicolas Simon und Guichard de Margiac versicherten:
»Es gab im Orden ein ganz außergewöhnliches Reglement,
über das strengstes Stillschweigen gewahrt werden mußte.
Jeder hätte sich lieber den Kopf abschlagen lassen, als dieses Geheimnis
zu enthüllen. Im Generalkapitel existiert eine überaus
geheime Andachtsübung. Würde ein Fremder dabei durch einen
unglücklichen Zufall Zeuge, und wäre es der König von
Frankreich persönlich, so würden die Mitglieder des Kapitels ohne
Furcht vor Strafe und ohne jede Rücksicht auf seinen Rang diesen
Zeugen töten. Gervais de Beauvais, Präzeptor des Temple von
Laon, besaß ein Büchlein mit den Ordensstatuten, das er gern
zeigte. Aber er hatte noch ein anderes, geheimes, das er niemandem
zu sehen gegeben hätte, nicht für alles Gold der Welt.« [51]
Die Bedingungen, unter denen die Aussagen in Frankreich
häufig zustande kamen, könnten nun Zweifel an der Wahrheit
dieser Mitteilungen erwecken. Sie wurden jedoch von englischen
Templern bestätigt, die ja weder gefoltert noch überhaupt verhaftet
wurden. William of Poklington, Stephen of Stapplebrugge
und John of Stoke (dieser letztere wurde durch den Großmeister
Jacques de Molay persönlich in den Orden aufgenommen) bekundeten
tatsächlich: »Im Temple gibt es zwei Arten von Aufnahme:
die erste dient der eigentlichen Aufnahme in den Orden
und verläuft ohne irgendeine anstößige Zeremonie; die zweite
104
findet erst mehrere Jahre später statt. Sie wird nur einigen wenigen
zuteil und ist sehr geheim.«
Ist nun mit der »überaus geheimen Übung«, die – den französischen
Templern zufolge – jene zweite Aufnahme begleitete, die
Verleugnung Christi und das Spucken auf das Kreuz gemeint?
Einer der Würdenträger des Temple, Geoffrey de Gonneville,
Großpräzeptor von Aquitanien und Poitou, erklärte zu dieser
Frage: »Manche behaupten, dies gehöre zu den bösen, gottlosen
Dingen, die Meister Roncelin in die Ordensstatuten eingeführt
hat.« In einem kürzlich erschienenen Werk bezweifelt Albert
Ollivier den Wert dieser Erklärung: »Niemand weiß, wer dieser
Roncelin war, auf den Gonneville anspielt.« [52]
Tatsächlich wird kein Roncelin in der Liste der Großmeister
des Temple aufgeführt. Studiert man jedoch die Prozeßakten
aufmerksam durch, so entdeckt man, daß Roncelin keine Phantasiegestalt
war, die ein gequälter Templer erfunden hatte. Es
handelt sich vielmehr um Roncelin du Fos, Ritter der Provence.
Er wurde 1281 von dem Bruder Guillaume de Beaulieu in den
Orden aufgenommen. [53]
Hier drängen sich sofort zwei Feststellungen auf. Gonneville
bezeichnete Roncelin als »Meister«, der die Ordensregeln abgeändert
habe. Daraus läßt sich zunächst schließen, daß es bei den
Templern eine »parallele Hierarchie« gab, wie man es heute
nennen würde. Und daß sich hinter den aller Welt bekannten
Großmeistern die heimlichen Meister verbargen, über deren Funktionen
nur eine kleine Gruppe von Eingeweihten unterrichtet
war. [54]
Ferner ließen sich die Verleugnung Christi und das Spucken
auf das Kreuz – von außen betrachtet ein derartiges Sakrileg, daß
die Existenz solcher Riten trotz der zahlreichen Geständnisse allgemein
für unglaubhaft gehalten wurde – sehr wohl dadurch begründen,
daß die aufgeklärten Templer diesen religiösen Relativismus
vom Orient adaptiert haben. In dieser Hinsicht sind nun
die Aussagen der Templer Foulques de Troyes, Bertrand de Montignac
und Jean de Chaumes sehr aufschlußreich. Die Einweihenden
hatten ihnen das Kruzifix mit den Worten gezeigt: »Macht
105
mit dem hier nicht zuviel Wesens, denn er ist zu jung. Glaubt nur
an den höheren Gott.« Anscheinend also wußten diese Templer
wohl, daß das Motiv vom Tode und von der Auferstehung viel
älter als das Christentum ist, und konnten es nur als Allegorie
auffassen. Die Vorstellung von der Inkarnation und vom Tod
Gottes mußte ihnen als absurder Widerspruch, ja sogar als Blasphemie
erscheinen. Entweder war Jesus Gott und konnte nicht
sterben, oder er war tot und konnte nicht Gott sein – die alte
Alternative der Kabbalisten und Gnostiker.
Unter diesem Gesichtspunkt würde das Spucken auf das Kreuz
nichts anderes bedeuten, als das Symbol einer Beleidigung zu beleidigen:
der Beleidigung nämlich, die Gott als unkörperlichen,
geistigen, vollkommenen Begriff durch die Menschen widerfuhr,
als diese es wagten, Gott nach ihrem sterblichen Ebenbild darzustellen.
Die ablehnende Haltung gegenüber der Idee eines Gottes
nach Menschenbild steht in krassem Widerspruch zur Vergöttlichung
der Jungfrau Maria. Der »zu junge« Christus und dagegen
die ewige Mutter Gottes: »Unsere Liebe Frau steht zu Beginn
und am Ende unserer Religion, weil sie da war, ehe Gebirge
und Erde erschaffen wurden.«
Die Existenz einer geheimen Organisation und einer Geheimlehre
innerhalb des Tempelritterordens war nichtsdestotrotz
nur eine Hypothese, die sich auf schwache Indizien gründete,
bis zu dem Tag des Jahres 1780, an dem Frederik Munter,
Bischof von Kopenhagen, in den Archiven des Vatikans eine
wichtige Entdeckung machte.
Es war ein Pergament in Quartformat, das zwei Spalten in
romanischer Schrift auf jeder Seite enthielt und mit dem großen
Kreuz des Templerordens verziert war. Es bestand aus vier
Teilen.
Der erste gab nur die offizielle Ordensregel wieder, von einem
gewissen Mathieu de Tramlay, »am Tag des heiligen Felix des
Jahres 1205« kopiert. Er wird heute in Rom in der Bibliothek
Corsini aufbewahrt.
Der zweite und dritte Teil sind von dem Kopisten Robert
of Samfort signiert und 1240 datiert. Samfort war tatsächlich
106
Schaffner des Temple in England. Sie enthalten jeweils zwanzig
und dreißig Artikel unter der Überschrift: »Hier beginnt das
Buch der Feuertaufe oder der geheimen Statuten, für die Brüder
niedergeschrieben von Meister Roncelinus.«
Der vierte Teil schließlich ist betitelt: »Hier beginnt die Liste
der geheimen Zeichen, die Meister Roncelinus zusammengestellt
hat.« Er gibt kryptographische Mitteilungen, auf die wir noch
zurückkommen werden.
Bischof Munter blieb nicht lange im Besitz dieser kostbaren
Dokumente. In einem Brief an seinen Freund Wilke, der eine
Geschichte der Templer vorbereitete, teilte er mit, der größte
Teil sei auf unerklärliche Weise verschwunden. Erst 1877 veröffentlichte
der deutsche Gelehrte Mertzdorff die drei letzten
Teile des von Bischof Munter entdeckten Manuskriptes, das er
zufällig in Hamburger Privatarchiven wiedergefunden hatte.
Es ist interessant, einige Artikel aus den dem mysteriösen Meister
Roncelin zugeschriebenen Geheimstatuten zu zitieren.
Manche zeugen für ebenso kühne wie heterodoxe Gedankengänge
innerhalb des Templerordens: Wißt, daß Gott keinerlei
Unterschied zwischen den Personen macht, ob Christen, Sarazenen,
Juden, Griechen, Römer, Franken oder Bulgaren, weil
jeder Mensch, der zu Gott betet, erlöst wird« (Zweiter Teil,
Artikel 5). »Weil der Sohn Marias und Josefs heilig gewesen ist,
frei von allen Sünden und gekreuzigt, verehren wir ihn als Gott.
Das Holz des Kreuzes aber nehmen wir als Zeichen des Tieres,
von dem in der Apokalypse die Rede ist« (Zweiter Teil, Artikel
20).
Diese Sätze sprechen für den religiösen Relativismus der
Templer und zeigen, daß sie eine Beleidigung des Kreuzes keineswegs
für gottlos ansahen. Doch selbstverständlich behielt man
im mittelalterlichen Abendland solche Auffassungen besser für
sich.
Andere Artikel machen deutlich, welche Anziehungskraft der
Okkultismus auf die Templer ausübte: »Da die Unkenntnis die
Quelle vieler Irrtümer ist, wird keiner zu den Auserwählten zugelassen,
wenn er nicht zumindest das Trivium und das Quadri107
vium kennt« (Zweiter Teil, Artikel 9). Bekanntlich bezeichneten
diese Ausdrücke die sieben freien Künste: Grammatik, Dialektik,
Rhetorik einesteils, andernteils Musik, Geometrie, Astronomie,
Arithmetik. Nun stand jede dieser Wissenschaften unter einem
Gestirn: der Mond für die Grammatik, Merkur für die Dialektik,
Venus für die Rhetorik, Mars für die Musik, Jupiter für die
Geometrie, Saturn für die Astronomie, schließlich die Sonne für
die Wissenschaft von den Zahlen, die seit Pythagoras als »erleuchtete
Vernunft« betrachtet wurde. Es ist klar, daß nur wenige
Templer in dieses »Niemandsland« einzudringen vermochten.
Und so waren auch die eigentlichen Leiter des Ordens nicht immer
diejenigen, die vor der Öffentlichkeit die höchsten Ämter
innehatten.
Andere Artikel unterstreichen nochmals die Verpflichtung der
Geheimhaltung, die bereits in der offiziellen Regel festgelegt ist:
Wenn ein Bruder sich vergißt, sei es durch Leichtsinn, sei es
durch Geschwätzigkeit, und auch nur den kleinsten Teil der geheimen
Statuten oder dessen, was in den nächtlichen Kapiteln
geschieht, bekannt werden läßt, ist er der Schwere seines Vergehens
gemäß zu bestrafen. Wenn man euch vor Gericht nach den
Bräuchen, Gesetzen, Statuten und geheimen Unternehmungen
des Ordens befragt, leistet dieser Tyrannei Widerstand, indem
ihr leugnet und eure Unkenntnis beschwört« (Zweiter Teil, Artikel
29). Der vorsichtige Roncelin geht sogar noch weiter: »Die
geheimen Statuten sind in keine Umgangssprache zu übersetzen
und niemals den Brüdern in die Hand zu geben« (Zweiter Teil,
Artikel 16). Diese Empfehlung läßt nun auf das Vorhandensein
von Geheimnissen »zweiten Grades« schließen, die wahrscheinlich
in verschlüsselten Dokumenten niedergelegt und nie wieder
aufgefunden wurden, da die Archive des Temple verschwunden
sind.
Doch die weitaus merkwürdigsten Artikel sind im dritten Teil
enthalten. Sie beziehen sich auf von den Templern erbaute oder
benutzte Monumente sowie auf die Vorsichtsmaßnahmen, die
diese ergriffen, um die dortigen Vorgänge zu verbergen.
»Im Orient lernten die Kreuzfahrer von den Byzantinern und
108
den Arabern die Kunst, eine Burg zu befestigen«, schreibt der
bedeutende französische Archäologe Emile Male. »Diese jahrtausendealte
Kunst geht in Asien bis auf das alte Assyrien zurück.
« [55] In Byzanz waren die Baumeister weiterhin in den
Geheimkollegien zusammengeschlossen, die noch aus der römischen
Zeit stammten und die hermetischen Symbole verwandten.
[56] Die Assassinen wiederum hatten Baumeister-Korporationen
organisiert, die sogenannten »Tarouq«. Ihre Mitglieder lernten
durch kaum bekannte Einweihung altägyptische Bautechniken.
Die Assassinen erbauten allein in der Provinz Tyrus mehr als
zehn Burgen. Dadurch erklärten sich gewisse Eigentümlichkeiten
in der Bauweise der Templer, die vielen Historikern aufgefallen
sind, ohne daß sie ihren Geheimnissen auf die Spur kommen
konnten.
T. E. Lawrence schrieb über die Templerbauten im Orient:
»Die Templer standen von jeher in dem Verdacht, eine Neigung
für die Ketzerei und für die magischen Wissenschaften des
Orients zu haben. In ihren Bauten griffen sie auf die justinianische
Tradition zurück, wie sie sich in den Festungen Syriens
manifestiert, und erweiterten sie, indem sie sie simplifizierten.«
Lawrence hält diese Bauten für degeneriert und stellt ihnen die
massiven okzidentalen Gebäude gegenüber, zum Beispiel die
französischen Burgen von Coucy oder Provins. Von seinem militärischen
Gesichtspunkt aus hat er recht. Daher führt seine Kritik
zu der Frage, ob diese Bauten der Templer nicht anderen als strategischen
Zielen und Zwecken dienten.
Die justinianische Bauweise ist gekennzeichnet durch Festungsbauten
mit dreifacher Umwallung und durch die häufige Verwendung
von achteckigen Formen. Die dreifache Umwallung hat
neben dem defensiven Wert symbolischen Charakter, wie der
Archäologe Louis Charbonneau-Lassay bewiesen hat. [57] Das
Achteck ist für Festungsbauten bedeutungslos, für die Templer
jedoch besaß es großen Symbolwert, da es in dem Ordensemblem,
dem Kreuz, dargestellt wird. Außerdem sind die meisten Templerbauten
achteckig, wie bereits Viollet-Leduc feststellte. [58]
Mitunter findet man übrigens dreifache Umwallung und Acht109
eck kombiniert, wie in der Kapelle aus dem 16. Jahrhundert, die
1926 von Bauern unter den Ruinen der Abtei von Seuilly in der
Touraine entdeckt wurde, wo Rabelais lange gewohnt hat.
Man kann sich also vorbehaltlos der Meinung des bedeutenden
Kunsthistorikers und Kenners der Architektur Paul Naudon anschließen:
»Als die Templer mit Hilfe christlicher Arbeiter die
Komtureien in Europa ausbauten, brachten sie die Geheimnisse
und überlieferten Riten der byzantinischen Kollegien und der
mohammedanischen Tarouq mit, die mehr oder minder zu einem
hermetischen Synkretismus verschmolzen waren. Es ist nicht übertrieben
zu behaupten, daß diese Geheimnisse und Riten in die
Zünfte drangen, die sich nun bildeten und die von den Templern
für wichtige Bauvorhaben eingesetzt wurden.« [59]
Tatsächlich waren nicht nur die Bauweise, sondern auch die
Namen der Templerburgen im Orient keineswegs zufällig. Sie
erwecken sonderbare Assoziationen, diese Namen »Furt Jakobs«,
»Rote Erde«, »Königlicher Stein« (Petra Regalis), vor allem aber
»Weiße Garde«, »Salzburg«, »Burg zum Ei«, »Bohnenburg«,
auch »Feenburg« oder »Feuerburg« genannt. Die einzigartige
Chronik von Oliver dem Scholastiker berichtet, die Templer
hätten auf dem Vorgebirge Athlit in Syrien eine Quelle sowie
einen Schatz entdeckt, als sie die Fundamente der Pilgerburg
legten. Das bringt auf den Gedanken, daß sie an Stätten bauten,
die bereits bekannt und lange vorher von anderen benutzt worden
waren...
Artikel 8 der Geheimstatuten empfiehlt übrigens: Wo ihr
große Gebäude errichten wollt, macht Erkennungszeichen.« Danach
läßt sich vermuten, daß bestimmte Gebäude verschlüsselte
Bauten waren, Rätsel aus Stein.
Welches waren nun diese Erkennungszeichen? Die wunderbaren
Geheimnisse des Meisters Roncelin sind verloren. Der vierte Teil
des Munterschen Dokumentes enthielt einige. Ausgerechnet jener
Teil aber wurde dem Bischof unter mysteriösen Umständen fast
vollständig entwendet. Die Ausgabe von Mertzdorff bringt demzufolge
nur verstümmelte Fragmente von mäßigem Interesse.
Paläographen und Archäologen müssen sich also darauf beschrän110
ken, in schlaflosen Nächten über rätselhaften Inschriften zu
grübeln, die alte Pergamente und antike Bauten zieren.
Das seltsamste Beispiel ist das des berühmten »magischen
Quadrats«:
S A T O R
A R E P O
T E N E T
O P E R A
R O T A S
Tatsächlich findet sich diese Zusammensetzung von Buchstaben,
aus der sich senkrecht und waagerecht dieselben Worte ohne erkennbaren
Sinn ergeben, in den verschiedensten Epochen und an
den verschiedensten Orten wieder. Zum Beispiel auf einer in den
Ruinen von Pompeji [60] aufgefundenen Münze, auf einer lateinischen
Bibel aus dem Jahre 822 sowie auf einem griechischen
Manuskript aus dem 12. Jahrhundert, das in der Pariser Nationalbibliothek
aufbewahrt wird [61], auf dem angeblichen Faust-
Manuskript in den Archiven der Herzöge von Coburg, auf
österreichischen Münzen des 16. Jahrhunderts. Man findet sie auch
an verschiedenen Bauwerken: in Italien an der Kirche Pieve lersagui
bei Cremona und dem Kloster Santa Maria Maddalena, in
Frankreich an der Kirche Saint-Laurent in Rochemaure und dem
Schloß von Jarnac, in Spanien in Santiago de Compostela. Den
Grund dafür hat noch niemand entdeckt. Da sich magische Quadrate
aus Zahlen ebenso wie aus Buchstaben bilden lassen, ist anzunehmen,
daß es sich dabei um einen Schlüssel zur Dechriffrierung
handelt. [62]
Fest steht jedenfalls, daß die Templer unübertroffene Meister
in der Kunst der Kryptographie waren. Im Verlauf des Prozesses
bekannte der Präzeptor des Temple von Nemours, er habe »über
vierhundert Brüder in den Geheimschriften unterwiesen«. In den
drei einzigen erhaltenen Exemplaren der offiziellen Ordensregel
gibt es tatsächlich kryptographische Zeichen, die das Vorhandensein
von Geheimalphabeten bei den Templern beweisen.
Eines dieser Alphabete konnte von Professor Probst-Biraben
111
entschlüsselt werden. Es zeigt, daß die Tempelritter eine unerschöpfliche
Erfindungsgabe besaßen.
Dieses Geheimalphabet war vollständig auf dem Abzeichen
enthalten, das die Templer unter dem Schild auf dem Ordenswappen
trugen (Tafel V oben). Das Abzeichen besteht aus einem
Kreuz mit acht Spitzen, in dessen Mitte sich das Templerkreuz befindet.
Doch einige Einzelheiten sind auffallend (Abb. 1):
1. Manche Linien sind verstärkt, andere dagegen dünn gezeichnet.
2. In bestimmten Teilen der Zeichnung sind Punkte. 3. Das
Templerkreuz hat nur drei normale rote Balken, der vierte ist ein
goldenes Trapez.
Abbildung 1: Sie galten als unübertroffene Meister der Kryptographie
112
Das Abzeichen insgesamt besteht aus vier geometrisch
gleichen, jedoch verschieden ausgerichteten Figuren: den vier
Balken des großen Kreuzes, von denen sich jeder in sechs Teile,
mit oder ohne Punkt, zerlegen läßt. Diesen vierundzwanzig Teilen
Abbildung 2
entsprechen vierundzwanzig kryptographische Zeichen, das X in
der Mitte bildet das fünfundzwanzigste. Nun finden sich manche
dieser Zeichen auf den drei in Rom, Paris und Dijon aufbewahrten
Exemplaren der offiziellen Ordensregel wieder (Abb. 2).
Man kann sich mit Recht fragen, weshalb die Templer ihrer
Neigung für das Geheimnisvolle sogar in ihren Bauten freien
Lauf ließen. Die Statuten des Meisters Roncelin geben darauf eine
bezeichnende Antwort. Die Artikel 7 und 19 empfehlen nämlich:
»Ihr sollt in euren Häusern große und verborgene Versammlungsorte
haben, zu denen man durch unterirdische Gänge gelangen
kann, damit die Brüder sich ohne Gefahr, behelligt zu werden,
zu den Versammlungen begeben können... Es ist in den Häusern,
wo nicht alle Brüder Auserwählte sind, verboten, gewisse Materien
mit Hilfe der philosophischen Wissenschaft zu bearbeiten
und so unedle Metalle in Gold oder Silber zu verwandeln. Dies
darf nur in den verborgenen Stätten und insgeheim geschehen.«
Tafel VII: Im Temple von Paris: Der Turm. Eine Stadt innerhalb der Stadt . . .
Tafel VIII Clemens V. Die
Sitten der Templer waren ihm ein
Dorn im Auge (oben).— Jaques
de Molay, letzter Großmeister
des Templerordens (unten)
113
DER BAPHOMET
Bekanntlich lautete der dritte Hauptpunkt der Anklage auf
Anbetung eines Götzenbildes. Übrigens gab der Großinquisitor
von Paris, Guillaume Humbert, den Untersuchungsrichtern bereits
eine Beschreibung dieses Götzenbildes, bevor sie noch mit den
Verhören begannen. Es war »der Kopf eines Mannes mit langem
Bart«. Man warf den Templern vor, sie bezeichneten es als »Abbild
des wahren Gottes, des einzigen, an den man glauben dürfe«.
Der Vorwurf der Götzenanbetung entbehrte nicht einer pikanten
Note. Der Katholizismus stellte ja Gottvater stets als bärtigen
Greis dar. Das Verbrechen des Ordens hätte also lediglich darin
bestanden, seine Adepten nur das Haupt und nicht den ganzen
Körper anbeten zu lassen...
Es stimmt, daß das angebliche Götzenbild den seltsamen Namen
Baphomet trug, über den sich Generationen von Gelehrten den
Kopf zerbrachen. Bereits zu Beginn der Untersuchung hatten ein
paar südfranzösische Templer, subalterne, einfache Männer, den
Namen preisgegeben. Sie hätten ihn von den Würdenträgern des
Ordens nennen hören, erklärten sie. Nun war Bafomet das provenzalische
Wort für Mohammed. Daher hatten sie es auch verstanden.
Die Anklage glaubte, ohne weiter nachzuforschen, damit
ein entscheidendes Argument gegen jene, die sie zugrunde richten
wollte, in der Hand zu haben: das Götzenbild der Templer – war
Mohammed! Die Tempelritter aber hatten sich fast zwei Jahrhunderte
lang mit Juden und Muselmanen in die heiligen Stätten
geteilt, und das zumindest machte sie ihren Anklägern überlegen.
Sie hatten ja den Pentateuch und den Koran gelesen und wußten,
daß die beiden rivalisierenden Religionen es als Sakrileg betrachteten,
dem Herrn, dessen unendliche Größe sogar verbot, seinen
Namen auszusprechen, menschliche Gestalt zu verleihen. Geschweige
denn das Bildnis eines einfachen Propheten zu verehren.
Je öfter sie verhört wurden, desto abweichendere Beschreibungen
gaben die Templer von dem angeblichen Götzenbild, bis auf einen
Punkt: es handelte sich stets um einen Kopf.
114
Zahlreiche Historiker haben aus diesen Abweichungen auf das
Nichtvorhandensein des Baphomet geschlossen. Sie argumentieren
ebenso wie bei den übrigen Hauptpunkten der Anklage: unter
der Folter habe man die Angeklagten dazu gebracht, das zu sagen,
was man hören wollte. Wie bereits aufgezeigt, wird durch die
Anwendung der Folter im Templerprozeß zwar zweifellos eine
Reihe von Dingen erklärt, jedoch nicht alles. Und in diesem speziellen
Punkt könnte man sogar annehmen, daß gerade die Abweichungen
den Geständnissen eine gewisse Glaubwürdigkeit verleihen.
Denn ausschließlich von den Anklägern diktierte Geständnisse
wären ja gleichlautend gewesen. Die Ritter, die bekannten,
mit eigenen Augen den Kopf gesehen zu haben, logen sicherlich
zumeist aus Schmerz oder Angst. Aber daß sie alle diesen Kopf
erwähnten, und zwar mit sämtlichen Anzeichen des Entsetzens,
beweist wohl, daß sie zumindest innerhalb des Ordens davon als
von dem am strengsten gehüteten Geheimnis hatten sprechen
hören.
Und dann gab es ein Beweisstück, das bei den Historikern
nicht die verdiente Wißbegier erregt hat. Es wurde im Temple
von Paris am Morgen der großen Razzia gefunden: ein schöner
Frauenkopf in Gold. Er war hohl und enthielt den Schädel eines
kleinen Mädchens, der in einen Stoff in den Farben des Ordens
eingewickelt war, mit der seltsamen, lakonischen eingestickten
Aufschrift: »CAPUT LVIII m«.
Die Chronisten, die darüber berichtet haben, vermuten, es
handle sich um eine Reliquie. Dazu wäre zu sagen, daß es durchaus
unüblich ist, die verehrungswürdigen Überreste der Heiligen
mit Seriennummern zu kennzeichnen. Übrigens waren sowohl
Ankläger wie Angeklagte außerstande, sie zu identifizieren. Über
denjenigen, der den Untersuchungsbeamten diesen merkwürdigen
Gegenstand überreichte, wird noch zu sprechen sein...
Unter den vielen unklaren Aussagen, die sich auf den mysteriösen
Baphomet beziehen, verdienen zwei besondere Aufmerksamkeit:
die der Templer Antoine de Verceil und Hugues du
Faure.
Verceil hatte vierzig Jahre hintereinander das Amt eines No115
tars beim Templerorden in Syrien innegehabt. Als er wie die
anderen über das Götzenbild und seine Bedeutung befragt wurde,
erklärte er, die Templer in Syrien erzählten hierzu folgende
merkwürdige Geschichte:
Ein Edelmann aus Sidon hatte sich in ein junges Mädchen verliebt,
die ihm jedoch durch den Tod entrissen wurde, bevor er
sie erringen konnte. Am Abend der Beerdigung öffnete der Ritter,
toll vor Begierde, das Grab und befriedigte seine Leidenschaft an
dem Leichnam der Jungfrau. Dann sprach eine geheimnisvolle
Stimme von irgendwoher zu ihm: »Kehre in neun Monaten hierher
zurück. Du wirst einen Kopf vorfinden, die Tochter deines
Tuns. Trenne dich niemals von diesem Kopf, denn er wird dir
alles geben, was du nur wünschen kannst.« Zu dem genannten
Zeitpunkt öffnete der Ritter abermals das Grab und fand zwischen
den von Fleisch entblößten Schenkeln der Toten einen Kopf,
mit dessen Hilfe er Wunder vollbrachte.
Erstaunlicherweise erzählte Hugues du Faure, der in einer
anderen Stadt von anderen Beamten als Verceil verhört wurde
und diesen nicht kannte, dieselbe Geschichte. Er hatte sie von
Templern aus Zypern erfahren.
Die Inquisitoren waren vermutlich enttäuscht von den Aussagen
der beiden, die erklärten, sie hätten das Götzenbild, diesen
Angelpunkt der Anklage, nicht gesehen und könnten es daher
auch nicht beschreiben. Für uns aber, die wir aus der Religionsgeschichte
einiges über die symbolische Interpretation der Göttermythen
erfahren haben, ist das Motiv der Legende, welche die
wohlinformierten Templer über diesen berühmten Kopf in Umlauf
setzten, höchst interessant.
Zwei Angeklagte, die in keinerlei Beziehung zueinander standen,
konnten eine solche Legende unmöglich erfinden. Also mußte
diese wohl innerhalb des Ordens überliefert worden sein. Was
aber mochte jene Fabel aus dem Orient bedeuten, die auf den
ersten Blick nur die abstoßende Geschichte eines Nekrophilen zu
sein scheint?
In Ermangelung von weiteren Informationen hätten wir auf
eine Erklärung verzichten müssen. Nun berichtet aber ein Zeit116
genösse der Templer – der englische Dichter Roger of Hoveden,
der 1201 starb – dieselbe Legende. Allerdings ist er genauer und
damit auch klarer: bei ihm heißt nämlich die vergewaltigte Jungfrau
Yse.
Sofort erkennen wir nun die unsterbliche Allegorie von den
Geliebten der Isis wieder. Wer es wagt, ihren Schleier zu lüften
und ihre verborgenen Geheimnisse zu enthüllen, wird den Gipfel
des Wissens und der Macht erreichen. Eine siebenundvierzig Jahrhunderte
alte Allegorie zum Thema der Erkenntnis, auf die alle
späteren zurückgehen: der Baum der Erkenntnis, dessen Frucht
jeden, der von ihr kostet, den Göttern ähnlich macht; der Diebstahl
des göttlichen Feuers durch Prometheus. Gemeinsames Leitmotiv
aller religiösen Esoterik.
Die morbiden Einzelheiten der Legende bestätigen und präzisieren
nur diese Interpretation. In alchimistischen Schriften des
14. Jahrhunderts taucht häufig die Formulierung auf: »Die prima
materia wird aus dem Geschlecht der Isis gewonnen.« Man erkennt
jetzt noch deutlicher, was dieser Kopf eigentlich ist und mit
welcher Art von Tätigkeit sich der Ritter in Wahrheit bef aßte.
Die Legende gibt nun nicht nur eine allgemeine Allegorie über das
Geheimnis der Erkenntnis, sondern weist vielmehr genauer darauf
hin, daß dieses Geheimnis nach Ansicht vieler Zeitgenossen im
Okkultismus zu finden sei.
Ist es jedoch glaubhaft, daß die Beamten der Inquisition im
ganzen Abendland mobilisiert wurden, um mit skrupellosen Methoden
das Geheimnis einer einfachen metaphysischen Metapher
zu lösen? War dieser Kopf, der Wissen und Macht verlieh und in
dessen Besitz man die Templer glaubte, wirklich nichts als ein gewöhnliches
Götzenbild mit einer etwas verschwommenen Beziehung
zu einer symbolischen Fabel? Oder war er im Gegenteil mit
für jene Zeit außerordentlichen Eigenschaften begabt? Und warum
trug er den seltsamen Namen Baphomet, für den auch in der
Legende von Yse keine Erklärung zu finden ist?
Wir behaupten nicht, die endgültige Lösung für dieses Rätsel
zu besitzen. Doch wie sollte man der Versuchung widerstehen, es
mit einer Tatsache in Verbindung zu bringen, die nicht der Le117
gende, sondern der Geschichte angehört und die auch heute noch
äußerst mysteriös ist?
Im Jahre 1003 verlor die Christenheit in Gerbert dAurillac
ihr Oberhaupt und Frankreich seinen ersten Papst. Er war vier
Jahre zuvor unter dem Namen Silvester II. inthronisert worden.
Zweiffeilos der bedeutendste Geist seines Jahrhunderts und eine
ungewöhnliche Persönlichkeit.
Seine Herkunft bleibt dunkel. Manche sagen, er sei der Sohn
einfacher Bauern, andere, er stamme von den Herzögen von
Aquitanien ab. Fest steht, daß er, von seinen Eltern verlassen
wie Moses, gefunden, aufgenommen und erzogen wurde, zwar
nicht von ägyptischen Priestern, doch zumindest von den Mönchen
von Aurillac, die als ebenso gelehrt galten. In dem Kloster
in der Auvergne entwickelte sich Gerbert zu einem glänzenden,
wenn auch eigenwilligen Schüler. Er war noch nicht zwanzig Jahre
alt, als er floh und sich ganz allein auf den Weg nach Spanien
machte. Der entlaufene Mönch war von verbotenem Wissensdurst
geplagt. Die Araber besäßen den Schlüssel zu vielen Geheimnissen,
hieß es, die die braven, naiven Mönche für Teufelswerk
hielten. Die Legende berichtet, Gerbert habe auch seine neuen Lehrer
rasch überflügelt. Nur ein alter arabischer Gelehrter sei ihm
überlegen geblieben, denn er besaß ein Buch über die Zahlen mit
dem Titel »Abacum«, das ihm magische Kräfte verlieh. Da er es
sich nicht ausleihen konnte, verführte Gerbert die Tochter des
Alten und stahl mit ihrer Hilfe das Buch unter dem Kopfkissen
seines Lehrers. Darauf folgte eine abenteuerliche Flucht. Das
»Abacum« aber gibt es wirklich. Neben der »Ars subtilissima
Arithmeticae«, der »Geometrie«, dem Buch über das Schachspiel
und der umfangreichen Abhandlung über Maße und Gewichte
steht es unter den zwei Dutzend genialen mathematischen Werken,
die Gerbert dAurillac hinterlassen hat, in den Bibliotheken.
Außerdem verdankt ihm das Abendland die Einführung der
arabischen Ziffern.
Ähnlich ist die Karriere, die der entlaufene Mönch machte.
Durch Betrug Erzbischof von Reims geworden, wurde er deshalb
exkommuniziert und vom Heiligen Stuhl mit dem Bann belegt.
118
Bald darauf wurde er Nachfolger eben des Papstes, der ihn verurteilt
hatte. Einen solchen Aufstieg vermochten sich die meisten
nicht anders zu erklären, als durch einen Pakt mit dem Teufel.
Und was hätte man Papst Gerbert wohl nicht zugetraut? »Er
stellte selbst die Magie der vergangenen Jahrhunderte in den
Schatten«, schrieb der Chronist William of Malmsbury voller
Entsetzen, doch mit einem bewundernden Unterton. Man erzählte
sich, auf dem Marsfeld bei Rom gäbe es ein Standbild aus
Eisen und Bronze, das den Zeigefinger der rechten Hand ausstreckte
und auf dessen Stirn geschrieben stand: »Schlage hier!«
Jedermann schlug nun zu, ohne daß sich irgend etwas ereignete.
Gerbert aber beobachtete, daß der Schatten des Zeigefingers genau
um die Mittagstunde auf einen Punkt am Boden wies. Nachts
kehrte er zu der Stelle zurück, grub, von einem Pagen unterstützt,
nach und fand den Eingang zu einem unterirdischen Schloß. Auf
diese Geschichte folgten weitere Berichte von erstaunlichen Begebenheiten,
ein Beweis, wie ungeheuer stark Gerbert die Phantasie
seiner Mitmenschen beschäftigte.
Dieser Einfluß war auf die bemerkenswerten Erfindungen des
gelehrten Papstes zurückzuführen. Er konstruierte ein Astrolab,
die erste Pendeluhr und eine Wasserorgel. Eine wahrhaft phantastische
Schöpfung des Papstes Gerbert aber offenbart die »Patrologie
latine«, eine Gesamtausgabe der Kirchenväter, die der
Abbe Jacques-Paul Migne veröffentlicht hat. [63]
Gerbert wandte die geheimen Kenntnisse, die er von den Arabern
erworben hatte, an und goß in dem Augenblick, da alle Planeten
ihre Laufbahn beginnen, einen Kopf in Kupfer. Dieser
Kopf nun konnte mittels einer unbekannten Vorrichtung alle
ihm gestellten Fragen mit »Ja« oder »Nein« beantworten und
ihm die Zukunft voraussagen. Der Papst verriet das Geheimnis
des Automaten nicht, sondern sagte nur, es sei im Grunde ganz
einfach, da es lediglich auf einer Rechnung mit zwei Zahlen beruhe.
Heute gibt es überall Elektronengehirne – Maschinen, die denken
können. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts jedoch mußte der
sprechende Kopf, den der Papst erfunden hatte, als furchtbares
Teufelswerk erscheinen. Nach Gerberts Tod zerstückelte man
seinen Leichnam, warf ihn auf einen Ochsenkarren, um ihn an
der Stelle zu begraben, wo die Tiere von selber stehenbleiben
würden. Angeblich befolgte man damit die Anweisungen des Verstorbenen,
der in seiner letzten Stunde seinen Pakt mit dem Teufel
habe sühnen wollen.
Zufällig aber blieben die Ochsen vor der Lateranskirche stehen.
Dort wurde Gerbert beigesetzt. Lange Zeit war der Name Silvester
II. von der Liste der Päpste gestrichen. An seiner Stelle
stand Agapitus. Nur die Templer, die ja immer aus der Reihe
tanzen mußten, hielten sein Andenken hoch in Ehren und betrauerten
in ihren Geheimstatuten (Erster Teil, Artikel 18) »die
Kirche des wahren Christus in den Zeiten von Papst Silvester«.
Und den sprechenden Kopf, so wurde laut verkündet, habe man
sofort nach dem Tod des Teufelspapstes vernichtet.
Merkwürdigerweise existierte dieser Kopf aber zwei Jahrhunderte
später immer noch und machte seinen gelehrten Besitzern
sehr zu schaffen. In mehreren zeitgenössischen Texten heißt es,
der berühmte englische Franziskaner Roger Bacon, Astrologe und
Alchimist, Erfinder des Schießpulvers, den die Päpste Innozenz
IV. und Nikolaus III. in unbegreiflichem Zorn ins Gefängnis
werfen ließen, habe ihn besessen. Der »Doctor mirabilis« Bacon
gab ihn an Albertus Magnus weiter, den berühmten deutschen
Magier, der an der Sorbonne der Lehrer des Thomas von Aquin
war. Albertus Magnus starb 1280. In der Blütezeit des Templerordens
verliert sich die Spur des sprechenden Kopfes, jener Wundergabe
der Araber an den seltsamsten Heiligen Vater, der je
gelebt hat.
Die Etymologie des Wortes Baphomet war Gegenstand verschiedener
Hypothesen. Sie wetteiferten alle darin, die geheimnisvolle
Vokabel als Hieroglyphe zu deuten. Kürzlich stellten
einige Fachleute fest, die Ableitung aus dem arabischen Ouba El
Phoumet, das heißt: Mund des Vaters, sei am einleuchtendsten.
Es bleibt jedem überlassen, daraus seine Schlüsse zu ziehen.
120
DAS ERBE
Was wurde aus dem Templerorden, nachdem er durch den Gewaltstreich
des Königs dezimiert und von der Kirche verurteilt
worden war?
Manche behaupten, er habe nie aufgehört, im Schatten weiterzuleben,
und jedes Unglück, das seit seinem Sturz in Frankreich
dem Thron oder der Kirche widerfahren sei, lasse sich als geheimer
Racheakt der Templer deuten. Es erübrigt sich wohl zu
betonen, daß eine solche Auslegung nicht mehr in den Bereich der
Geschichte, sondern des Romans fällt. Da ihnen auch der kleinste
Beweis für ihre Behauptung fehlt, lassen die phantasievollen
Autoren die Templer einfach als Geister auftauchen, die Jeanne
dArc verbrennen und Ludwig XVI. guillotinieren, wohlverstanden
durch Mittelspersonen.
Andere wiederum halten es für bequemer zu erklären, der
Orden sei ebenso schnell verschwunden wie der Rauch der Scheiterhaufen.
Ein kürzlich erschienenes Werk von Albert Ollivier
zum Beispiel endet mit dem kategorischen Satz: »Der Temple
hat einen Fall hinterlassen, kein Erbe.«
Wie so oft, scheint die Wahrheit in der Mitte zu liegen. Wenn
der Orden als bestehende Körperschaft auch den Keulenschlag,
den man ihm in Frankreich, seinem Hauptsitz, durch Clemens V.
und Philipp den Schönen versetzte, nicht überlebte, so behandelten
ihn doch die Herrscher in anderen Ländern weniger gewaltsam.
So in Deutschland, mehr noch in England und vor allem in
Portugal, wo der Temple unter dem neuen Namen Christusorden
praktisch intakt geblieben war und noch zwei Jahrhunderte
später sein Kreuzbanner stolz auf den Karavellen Vasco da
Gamas und Magellans hissen konnte. Selbst in Frankreich begaben
sich zahlreiche Templer, einzeln oder in kleinen Gruppen,
in ein Untergrunddasein, auf das sie, wie wir gesehen haben, seit
langem vorbereitet waren. Sie verteilten sich auf verschiedene
Mönchsorden, Öfter noch auf Gilden und Zünfte, wohin sie die
Gewöhnung an ein tätiges Leben und die Notwendigkeit, ihren
121
Unterhalt zu verdienen, führten. Man schätzte ihre Kenntnisse
hoch, und sie übten großen Einfluß aus.
Unter dieser Perspektive lassen sich die Behauptungen mancher
Gesellschaften und Vereinigungen, sie stammten in direkter Linie
vom Tempelritterorden ab, besser beurteilen. Das gilt vor allem
für manche Freimaurerlogen, deren Ursprünge strittig sind.
Als Geheimgesellschaft mit philosophischem Charakter, wie
wir sie heute kennen, wurde die Freimaurerei erst 1717 in England
von Intellektuellen gegründet. Den meisten Historikern genügte
dies, um jede Art von Verbindung zwischen dieser spekulativen
Freimaurerei und den alten Gilden der Maurer und Steinmetze
zu leugnen, die nichts als den Namen miteinander gemein
hätten.
Diese klassische These ist trotzdem nicht ganz stichhaltig. Es
ist schwierig einzusehen, daß die moderne Freimaurerei aus reiner
Phantasie Namen, Traditionen und Symbole von einer alten
Gilde entliehen haben sollte. Vor allem aber ist ein Gegensatz
von »Arbeit« und »Spekulation«, von Technik und Ideologie
völlig willkürlich. Kürzlich erschienene Werke beweisen, daß bereits
die römischen Handwerkerkollegien einander insgeheim
nicht nur technische Methoden, sondern auch spekulative Traditionen
– magische, religiöse, philosophische – weitergaben, was
ihnen die Unterdrückung durch die Cäsaren eintrug. Im Mittelalter
war das gesamte Schaffen Riten unterworfen, von Symbolen
bevölkert, mit Kosmogonie durchtränkt. Insbesondere die Baukunst
erforderte von jeher die Zusammenarbeit von Handwerkern,
Künstlern und Gelehrten. Die mittelalterlichen Gilden
waren keineswegs reine Arbeitsgenossenschaften. Die Behauptung,
die Erbauer der Kathedralen, vom Architekten bis zum Maler
und Bildhauer, seien nicht durch spekulative Beschäftigung – eine
bestimmte Konzeption vom Menschen, von der Welt und von
Gott – inspiriert worden, läßt sich keine Sekunde aufrechterhalten.
Im Gegensatz zu der gängigen Ansicht haben diese Gilden
übrigens von Anfang an Intellektuelle und hochgestellte Persönlichkeiten
als Ehrenmitglieder aufgenommen. Aus dem rein spekulativen
Charakter der modernen Freimaurerei wäre also
122
keineswegs zu schließen, daß sie nicht aus den Gilden hervorgegangen
ist, sondern nur, daß die soziale Evolution im 18. Jahrhundert
das alte System der Gilden zunichte machte.
Zu Beginn des 12. Jahrhunderts begannen sich die Gilden der
Baumeister von den Mönchsklöstern zu lösen, mit denen sie bis
dahin verschmolzen waren. Seitdem zeigen sie bestimmte Merkmale,
die sich sechshundert Jahre später bei der modernen Freimaurerei
wiederfinden: Einweihung, Geheimhaltungspflicht, esoterische
Lehren. Das führte mehrmals zu ihrer Verurteilung, wie
es später den Freimaurern durch die katholische Hierarchie geschah.
Einweihung und Geheimhaltung rein beruflichen Charakters
hätten diese Verurteilungen nicht gerechtfertigt. Die erste erfolgte
bereits 1189, die letzte wurde 1655 ausgesprochen. Sie geschah
übrigens ausdrücklich wegen »gottloser, schändlicher und abergläubischer
Praktiken«, das heißt mit deutlichen Worten, wegen
Esoterik.
Das ist durchaus nicht erstaunlich. Seit Beginn des Mittelalters,
lange vor den Kreuzzügen, machten sich durch die Mauren in
Spanien nichtchristliche Einflüsse auf die sakrale Architektur bemerkbar.
In Frankreich zeugen die ersten romanischen Bauwerke
davon. In der Gotik zeigen die Heiligenbilder der Kathedralen,
daß die Hermetik, und insbesondere die Alchimie, den Baumeistern
geläufig war. Man sieht also, wie falsch es ist, die Beschäftigung
mit der Hermetik ausschließlich der modernen Freimaurerei
zuzuschreiben, in die sie durch den englischen Altertumssammler
und Alchimisten Elias Ashmole im 17. Jahrhundert eingeführt
worden sei. In Wirklichkeit war sie bereits im Mittelalter weit
verbreitet. Wie der bedeutende Kenner des Mittelalters, Etienne
Gilson, schrieb: »Eine Sache verstehen und erklären, bestand für
den Denker jener Zeit darin, zu beweisen, daß sie das Symbol
oder das Zeichen einer tieferen Wahrheit war, daß sie etwas
anderes verkündete oder bedeutete.«
Nun waren die durch die Schule der Zisterzienser geprägten
Templer von Anfang an große Baumeister. Wie die anderen
Mönchsorden unterstützten sie die Bildung von Laienbruder123
Schaften der Baumeister. Diese Bruderschaften waren häufig innerhalb
des Ordensgebietes ansässig. Sie profitierten von dessen Sonderrechten
und Freiheiten. Ohne jeden Zweifel nahmen sie hermetische
Gedankengänge in sich auf, die sich allmählich unter dem
Einfluß des Orients bei ihren Schutzherren entwickelten. Und
als diese nach der Katastrophe bei ihnen Zuflucht fanden, ließen
sie das hermetische Gedankengut weiterleben.
Wohlverstanden, der Kult, den die sogenannte »strikte Observanz
« der Freimaurer mit dem Andenken der Templer in Form
von angeblich ererbten Legenden, Traditionen und Riten treibt,
beweist keineswegs ausreichend, daß eine tatsächliche Verbindung
zwischen beiden besteht.
Andererseits ist das Mißtrauen der Historiker begreiflich. Denn
wie wir bald sehen werden, hat das von Geheimnis umwobene
Erbe des Tempelritterordens zu einigen betrügerischen Versuchen
geführt, es zu erschleichen. Und schließlich ist es in jedem Fall
schwierig, die Behauptungen von Vereinigungen zu überprüfen,
die es sich zur Regel gemacht haben, ihre Archive und Urkunden
für sich zu behalten.
Die heftigsten Gegner der Freimaurer unter den Schriftstellern
begeben sich auf das Gebiet der reinen Legende, wenn sie schreiben,
»der Templerorden lebt fort unter dem Deckmantel der
Freimaurerei«, eine Behauptung, die bis zu den seriösen Historikern
der Freimaurerei nur Lächeln erweckt. Wiederholen wir:
die gewaltige Organisation des Tempelritterordens wurde vollständig
zerschlagen und ist nie wieder auferstanden.
Alle Mythologie beiseite gelassen, hat die spekulative Freimaurerei
jedoch fraglos über die Baumeistergilden teilweise die
Lehren des Templerordens in ihre Konzeption aufgenommen,
adaptiert und integriert.
In diesem Punkt mochten wir uns dem Fazit des Historikers
Paul Naudon anschließen, das er in seinem bemerkenswerten Werk
über »Die religiösen und korporativen Ursprünge der Freimaurerei
« zieht: »Ohne von einer vorgefaßten Meinung auszugehen,
mußten wir zu dem Beweis gelangen, daß gewisse als feststehende
Tatsachen geltende Anschauungen trotzdem jeder Grundlage ent124
behren. Wir haben das in voller Objektivität festgestellt. Dieselbe
Objektivität hat uns nun umgekehrt zu der Schlußfolgerung
geführt, daß bestimmte Legenden, die bei nüchternen Geistern
jede Glaubwürdigkeit verloren haben, in Wahrheit auf seriöser
Grundlage beruhen. Auch das haben wir aufrichtig anerkannt.
Hierzu gehören vor allem die auf die Templer zurückgehenden
Ursprünge der Freimaurerei. Wir waren selber geneigt, darin nur
eine Fabel zu erblicken. Jetzt sind wir auf Grund der vorhandenen
Beweise überzeugt davon, daß der Templerorden den Ausgangspunkt
für die operative Freimaurerei bildet. Wir wollen
präzisieren, daß wir nicht so weit zu gehen beabsichtigen, die
heutigen Freimaurer zu Überlebenden des untergegangenen Ordens
zu machen.«
DER SCHWANK
Am 18. März 1808 bot die Kirche Saint-Paul in Paris einen ungewohnt
feierlichen Anblick. Sie war ganz mit weißem, von roten
Kreuzen übersätem Stoff ausgeschlagen.
Vor dem großen Portal waren mehrere Bataillone der kaiserlichen
Infanterie als Ehrengarde aufmarschiert. Im Schiff mischten
sich hohe Offiziere in Traueruniform unter die Gläubigen und
Schaulustigen.
Vor dem Hauptportal zelebrierte Diakon Pierre Romain die
Messe. Seine schlichte Dalmatika bildete einen vorteilhaften
Gegensatz zu den prächtig gewandeten Leuten, die sich würdevoll
im Chor niederließen. Sie trugen Pelzmäntel, die an der
linken Schulter mit einem roten Kreuz geschmückt waren. Ihre
Ordensschärpen waren mit Troddeln besetzt, die unweigerlich
an Gardinen erinnerten, und auf ihren Hermelinbaretts thronten
goldene Agraffen wie Kanarienvögel.
Einer jedoch übertraf alle anderen durch seine Würde und
seinen Glanz. Das goldene Diadem, das an Stelle des Baretts auf
125
seinem dunkelbraunen Haupt prangte, die hohen Absätze seiner
Stiefel aus rotem Juchtenleder bemäntelten geschickt seinen kleinen
Wuchs. Um den Hals trug er eine Schnur aus einundachtzig
Perlen und eine Art Amtsdienerkette. Die eine Hand ruhte auf
dem mit Rubinen besetzten Schwertgriff, die andere hielt ein
Zepter, dessen Spitze ein Globus und ein Kreuz zierten, höchstes
Attribut seiner Würde. Das war Bernard-Raymond de Spolète,
Nachfolger des Apostels Johannes, oberster Priester, Patriarch
und Großmeister des wiedererstandenen Tempelritterordens, diesem
Gedenktag an die Hinrichtung von Jacques de Molay schuldig.
Bernard-Raymond Fabré-Palaprat hatte selbst in den Tagen,
als er sich Doktor titulieren ließ, nur den bescheidenen Beruf
eines Hühneraugenoperateurs in seinen heimatlichen Pyrenäen
ausgeübt. Er wurde es zweifellos müde, immer zu Füßen der
Menschen zu sitzen, und beschieß, sich an die Spitze einer phantastischen
Mystifikation zu stellen. Eine unterhaltsame Geschichte,
über die man jedoch nicht allzu sehr lachen sollte. Denn der Fall
der Neotempler war keineswegs bloß eine harmlose Posse, sondern
wurde zum seltsamsten Intrigenspiel des ganzen 19. Jahrhunderts.
Das Ganze hatte in den Anfangszeiten des Konsulats begonnen,
als in Paris ein Verein mit dem höchst prosaischen Namen »Gesellschaft
zum Lendenbraten« gegründet wurde. Man muß seinen
Mitgliedern insofern Gerechtigkeit widerfahren lassen, als sie mit
den Templern zumindest die Vorliebe für gutes Essen und Trinken
gemeinsam hatten, wie auch ihr Name offen bekundete. War
es nun die sehr entfernte Verwandtschaft dieser Bankette mit den
christlichen Liebesmählern der Antike, die – unter dem Einfluß
des guten Weines – einem ihrer Mitglieder namens Radix de Chevillon
eine grandiose Idee eingab? Man weiß es nicht. Tatsache
ist jedoch, daß eben dieser Radix 1804 proklamierte, der Tempelritterorden
lebe immer noch in Gestalt des »Lendenbratens«, er
habe auch nie aufgehört zu existieren, und er, Radix, sei direkt
von dem soeben verstorbenen letzten Großmeister, dem Herzog
von Cossé-Brissac, zu dessen Nachfolger ernannt worden.
Radix verschwand noch in demselben Jahr, nachdem er auf
126
ungeklärte Weise seine Vollmachten auf Bernard-Raymond Fabré-
Palaprat übertragen hatte. Durch den Hühneraugenoperateur
wird das Unternehmen rasch vergeistigt. Lendenbraten kommt
nicht mehr in Frage. Beweise für die Kontinuität des Templerordens?
Da ist zunächst einmal der Schatz: eine schwarzweiße
Fahne, eine Sturmhaube und ein Schwert, von denen behauptet
wird, sie hätten Jacques de Molay gehört, ein paar ausgedörrte
Knochen, die – so schwört man – auf dem Scheiterhaufen gesammelt
worden seien. Vor allem aber gibt es das »Levitikon«. Das
ist der Titel einer Übertragungsurkunde. Sie ist griechisch auf
Pergament geschrieben und trägt die Unterschriften sämtlicher
Großmeister, die einander ohne Unterbrechung gefolgt sind, nachdem
der Orden von der Bildfläche verschwand.
Das »Levitikon« ist übrigens – dessen sind sich seine Besitzer
gewiß – nur die getreue Kopie eines Dokumentes, das aus dem
Jahre 400 datiert. Denn, so steht darin geschrieben, der Orden
stammt nicht etwa von Hugues de Payen, wie die Laien annehmen,
sondern geht viel weiter zurück. Jesus Christus selber war
der erste in einer langen Reihe von Großmeistern, die wie eine
Eiche von Jahrhundert zu Jahrhundert gewachsen ist und nun in
Bernard-Raymond Fabré-Palaprat gipfelt.
Wer würde es wagen, die Glaubwürdigkeit des »Levitikon« anzuzweifeln?
Hat nicht Abt Gregor, ehemaliger Bischof von Blois,
soeben seine gelehrte »Geschichte der religiösen Sekten« vollendet
und, von mehreren Wissenschaftlern bestätigt, erklärt, es enthalte
»alle Anzeichen der Authentizität«?
Im Besitz einer solchen Inkunabel erlebt der neuartige Templerorden
einen ungeahnten Erfolg. Sicher öffnet er seine Pforten
nicht umsonst. Ritterurkunden, Titel wie der eines Großpriors
von Monomatapa – keine Erfindung –, die das Recht auf Siegel
und Wappen verleihen, machen sich bezahlt, und nicht gerade
schlecht. Bei der Verleihung wird gleich eine Liste der Lieferanten
mitgegeben, bei denen der Anwärter Abzeichen, Medaillen und
Insignien des Ordens beziehen kann, wie die Zeremonienkleidung,
die wirklich prachtvoll ist. Auserlesene neue Mitglieder strömen
in Scharen herbei: der Herzog von Choiseul-Praslin gehört zu den
127
Stars des Ordens, bevor sein Name durch die Zeitungen gezogen
wird. Der Erzbischof von San Domingo, Monsignore Mauviel,
wird Primas und Präsident des Ministerrats von Fabré-Palaprat.
Selbst Napoleon interessiert sich eingehend für den Fall. Ob er
an die unter Fanfarengeschmetter von dem Hühneraugenoperateur
und seinen Helfershelfern proklamierte Legitimität des neuen
Templerordens glaubte, ist ungewiß. Allerdings kannte er die
Geschichte des Temple, wie wir sehen werden, sehr genau aus den
Urkunden. Doch der junge General Bonaparte hatte in Italien
häufig Geheimgesellschaften besucht und vermochte ihre politische
Bedeutung zu ermessen. Später handelte er äußerst geschickt, als
er seinen Minister Fouché unterderhand ein Unternehmen fördern
ließ, das trotz allem eine Doppelrolle spielen könnte, nämlich
einerseits die Freimaurerei, andererseits den Vatikan zu schwächen.
Deshalb bot er auch bei jeder von Fabré inszenierten Vorstellung
seine alten Haudegen bereitwillig als Ehrengarde an.
1815 bricht das Kaiserreich zusammen. Die Polizei Ludwigs XVIII.
verhaftet Fabré als »Agent des Usurpators«. Er kauft sich wieder
frei durch das Versprechen, einen Dankgottesdienst zu Ehren der
wiedergekehrten Bourbonen abzuhalten. Diese Messe findet statt,
und das Unternehmen geht weiter. Jetzt tritt der Vicomte
dAsfeld auf.
Sein Titel entstammt derselben Quelle wie das oberste Pontifikat
des Hühneraugenoperateurs. Als Sohn eines Schneiders in
Pau heißt er in Wirklichkeit Latapie und betätigt sich erfolgreich
als Abenteurer. Während des Kaiserreichs arbeitet er in
Oloron unter dem Deckmantel eines Notariats als Spion für den
Herzog von Wellington und verrät sich unvorsichtigerweise während
der Hundert Tage. Die Rückkehr Napoleons zwingt ihn,
sich den Titel eines Vicomte und die Tressen eines spanischen
Brigadegenerals zuzulegen. Mit deren Hilfe begeht er einige erfolgreiche
Betrügereien. Doch er hat Pech und wird verhaftet. Sein
Sündenregister ist reichhaltig, er simuliert Geistesgestörtheit und
wird freigelassen. Abermals ernennt er sich zum Vicomte, diesmal
dAsfeld und darüber hinaus zum Ritter Ludwigs des Heiligen –
die Bourbonen sind ja wieder an der Macht.
128
Mit diesem neuen Rang läßt sich Latapie als Sekretär von Abt
Gregor engagieren, überdies glänzt er als Veteran in der Ritterschaft
des Großmeisters Fabré. Von einer angeblichen Reise in den
Orient hat der falsche Vicomte ein Pergament mitgebracht, das
wunderbarerweise eine Ergänzung des »Levitikon« darstellte und
die Gründung des Ordens durch Jesus Christus bewies.
Nun erhält der Präsident der Dominikanischen Republik einen
Brief von Abt Gregor, der ihn bittet, Monsignore Mauviel seine
Grüße zu übermitteln und dem verdienstvollen Vicomte dAsfeld
eine jährliche Pension von 4000 Livres zu gewähren. Warum
hatte auch der dominikanische Staatschef den unglücklichen Einfall,
genauere Auskünfte von dem Abt zu erbitten, statt dessen
Sekretär direkt ein Konto zu eröffnen? Das Schwindelmanöver
wird aufgedeckt. Der Abt und der Hühneraugenoperateur jagen
den Vicomte weg.
Schonungslos, aber auch ohne Aufsehen, denn ein Skandal
würde ja ein eigentümliches Licht auf die paläographischen Fähigkeiten
des Abtes Gregor und einen grausamen Schatten auf die
Rechtschaffenheit Fabrés werfen. DAsfeld weiß das und greift
zur Erpressung. Gegen den einen schreibt er ein Pamphlet, in dem
er berichtet, wie er ihn mit seinem apokryphen Pergament genarrt
habe. Gegen den anderen kündigt er ein Buch an, »Die Templer
von 1830«, aus dem die Welt erfahren würde, daß der »Levitikon
« selber eine grobe Fälschung des Großmeisters sei.
Werden die Neotempler diesmal an Lächerlichkeit zugrunde
gehen? Keineswegs, sie waren noch nie in besserer Form. DAsfeld
treibt ein verwegenes Spiel. Er behauptet, die einzigen authentischen
Archive des Ordens zu besitzen. Da er die Experten täuschen
konnte, sei wohl bewiesen, daß er stärker ist als sie und daß
man ihm bezüglich Urkunden trauen kann. Überdies hat er eine
geniale Idee. Man muß den Evastöchtern schön tun, in ihrer Eitelkeit
und Koketterie. So veröffentlicht er 1831 in »LEncyclopédie
moderne« einen Artikel, der offenbart, daß es von jeher weibliche
Templer gegeben habe und nicht etwa x-beliebige: Jeanne dAlbret,
Elisabeth von England, Christine von Schweden, Katharina
II., Joséphine Beauharnais (und das Gelübde der Keusch129
heit?), Madame de Staël... In einer Zeitung aus dem Jahre 1833
kann man folgenden Bericht lesen, denn das Fest geht weiter,
immer mit Unterstützung der Behörden:
»Das Publikum wurde in den großen Saal geführt, die Anfahrtsstraßen
waren von teilweise berittener Gendarmerie flankiert.
Innen wehten Trikoloren.
Im Hintergrund sah man die Fahne der Templer sowie das
Bildnis von Jacques de Molay. Alte Rüstungen schmückten die
Wandpfeiler. Um halb acht Uhr spielte das Orchester einen
Kriegsmarsch, und der Großprior des Ordens, Monsieur Besuchet,
von drei Priestern begleitet, bestieg die Estrade. Die Ritter tragen
das historische Kostüm, das man im Théâtre Français besichtigen
konnte. Im Namen der Ritter vom Templerorden, die alle
ihre blanken Schwerter zücken, erklärt der Großprior, er nähme
den Raum in Besitz, um hier den Gottesdienst der Urkirche zu
zelebrieren und für Louis-Philippe zu beten. Darauf wurde der
Großmeister Bernard-Raymond Fabré-Palaprat vorgestellt. Von
den weiblichen Rittern, die den Titel Stiftsdame führen, wurde
eine Kollekte veranstaltet. Dabei öffnete sich das lange einfarbige
Gewand aus Musseline, das sie umhüllte, ein wenig.« [64]
1838 starb Fabré-Palaprat. An seine Stelle trat der Admiral
Sidney Smith. Der neue Großmeister von Louis-Philippes Gnaden
träumt von der großen Politik seiner mittelalterlichen Vorgänger.
»Der Sieg von Algier eröffnet die Gestade Afrikas der Zivilisation
«, erklärt der moderne Kreuzfahrer, überquert das Mittelmeer
und versucht, die Oberhäupter der unterworfenen Mohammedaner
für die Sache der Neotempler zu gewinnen. Seine Taschen
sind gefüllt mit Orden und Ehrenzeichen. Die Annalen
schweigen über das Ergebnis dieser psychologischen Offensive.
Auch über die Tätigkeit der Neotempler in der zweiten Republik
schweigen sie, da diese anscheinend sehr zurückhaltend waren...
Die Tage der »Junischlacht« fegen wie ein eisiger Wind über
sie hin und erwecken sie wieder zum Leben. Jetzt bittet der Fürst
von Chimay den Papst, das Dekret Clemens V. aufzuheben und
den Neotemplern, die bereit seien, der Ketzerei Palaprats abzuschwören,
in diesen gefährlichen Zeitläuften den Schutz des
130
Heiligen Stuhls zu gewähren. Doch bald ist Napoleon III. an der
Madit. Sofort widmet ihm der Neotempler Philippe Bellot ein
Gedicht. Er schildert darin das Alter und die Loyalität des Ordens,
der die überkommenen Regeln, das Banner und den Glauben
als »kostbare Güter« hüte. Gleichzeitig erinnert er den
»natürlichen Erben des großen Napoleon, Frankreichs neuen siegreichen
Apoll«, daran, daß auch sein Ahnherr dem Orden Schutz
angedeihen ließ.
Wie man sieht, sind die besten Späße nicht immer die kürzesten.
Der Scherz der Neotempler erreicht jedenfalls am 6. Juli 1857
seinen Höhepunkt. An diesem Tag läßt Seine Majestät König
Georg V. von Hannover den Würdenträgern des Ordens ein offizielles
Schreiben durch seinen Gesandten, den Grafen von Szapary,
übermitteln. Er teilt darin mit, daß er geruhe, in seinen Ländern
die Würde des Großmeisters dieser außergewöhnlichen Vereinigung,
die aus der Gesellschaft zum Lendenbraten hervorging, anzunehmen
...
Das war zwar schön, aber auch der Schwanengesang. Die Welt
drehte sich jetzt im Rhythmus der Maschinen und nicht mehr im
Walzertakt. Ein neues Rittertum entstand – das der Aktiengesellschaften.
Und in Paris erhoben sich die Säulen eines neuen Tempels
– der Börse. Das goldene Zeitalter der von Balzac geschaffenen
Figur des Rastignac war vorbei. Um das Jahr 1870 gehen
ein paar Spätlinge vergebens von Tür zu Tür und bieten Urkunden,
Fahnen, ausgebleichte Knochen und alte Sturmhauben an.
Sie werden überall abgewiesen und begnügen sich damit, diesen
sonderbaren Schatz den staatlichen Archiven zu übergeben, wo
man ihn heute noch besichtigen kann. Der Kriminalroman der
Neotempler war in einer Gesellschaft entstanden, die zunehmend
an Boden verlor, und fand keine Anhänger mehr in einer späteren,
die ihrer selbst sicher war und unbeschwert ihrer »belle époque«
entgegenschritt.
Anscheinend sind in jüngster Zeit die Geister des Vicomte
dAsfeld und des unaussprechlichen Fabré-Palaprat wiederauferstanden,
um Männer, die über großen Plänen brüten, zu necken.
Zum Beispiel den »Ritter X«, der in einer Zeitschrift schreibt:
»Die Orden wurden beinahe zur einzigen Zuflucht der Heimwehkranken
bis in die allerletzten Jahre, wo das Ritterideal eine
machtvolle Wiedergeburt erlebt... Manche alten Orden haben
die Berufung empfangen, mitunter bereiten sich auch Neugründungen
vor. Freiwillig aber verzichten wir zumindest auf zwei
Orden. Das moderne Rittertum lehnt den oberflächlichen Charakter
und das Getöse des 19. Jahrhunderts ab. Es zieht der Reklame
das Wirken in der Stille vor.« [65]
Der Drache von Tarascon taucht immer wieder auf und mit
ihm die Tartanns, die sich in die Rüstung St. Georgs werfen.
Vor wenigen Monaten wurde ich eingeladen, der Aufnahme
eines Templers beizuwohnen. Es gab sie also immer noch? Und
ich sollte die Chance haben, vermutlich hinter einem Vorhang
versteckt, die Geheimnisse ihrer Einweihungsriten zu ergründen,
über die ich gerade schreiben wollte? Unter den Kuppeln irgendeiner
Komturei, die für eine Nacht ihrer einstigen Bestimmung
zurückgegeben wurde, würde ich einer Aufnahmezeremonie beiwohnen,
die trotz der Scheiterhaufen erhalten gebliebenen Riten
beobachten und vielleicht sogar den goldenen Kopf des Baphomet
aufblitzen sehen. Als man mir den Namen des Anwärters mitteilte,
erreichte meine Neugierde den Höhepunkt: es war Don
Jaime de Mora y Aragon, der Bruder der Königin von Belgien.
Seine Aufnahme in den »Souveränen Orden der Ritter vom
Tempel von Jerusalem« fand in den Salons des Hotels »George V.«
statt, in Gegenwart von über hundert Journalisten. Don Jaime
hat Ähnlichkeit mit seinem Landsmann Salvadore Dali. Eine
Zigarettenspitze in den Fingern, sprach er von der Auerhahnjagd,
hielt eine Lobrede auf General Franco und nahm huldvoll die
Ordensinsignien entgegen.
Er spuckte nicht auf das Kreuz, in den Whisky übrigens auch
nicht.
132
UND DER SCHATZ?
Das am Ende einer langen Abenteurerfahrt vernichtete Schiff des
Templerordens übt die gleiche Anziehungskraft aus wie die Galeonen,
die mit ihrer geheimnisvollen Fracht untergegangen sind. Man
träumt von ihm, ohne auch nur die Augen zu schließen, da ja die
Schatzinsel in Frankreich liegt und jede Provinz dem Blick steinerne
Trümmer bietet, über denen einst das Banner der Ritter
wehte. Welche ehemalige Komturei hätte nicht schon den Besuch
eines der zahllosen, mit Wünschelrute oder Pendel bewaffneten
Geisterseher erhalten, die dem widerspenstigen Boden hartnäckig
den berühmten Templerschatz zu entreißen suchten? Über keinen
Schatz wurde so viel Tinte verspritzt, keiner hat so die Phantasie
erhitzt und so zahlreiche Hirngespinste erzeugt.
Zu jener Zeit, die uns beschäftigt, hatte sogar das Wort Schatz
einen Doppelsinn. Der Schatz eines Landes, einer Gemeinschaft,
einer Familie umfaßte ebenso die Archive, die Zeugnis von seiner
Tradition ablegten, wie den Besitz in Edelmetallen. So vereinigte
Philipp der Schöne die offiziellen Dokumente in einem »Urkundenschatz
« und schuf gleichzeitig den »Staatsschatz des Louvre«,
wo die Barbestände des Staatsvermögens aufbewahrt wurden.
Sobald der Temple von Paris zum Stammhaus geworden war,
barg er einen zweifachen Schatz: einmal die Papiere des Ordens
und zum anderen seine Geldbestände. Das wissen wir. Henri de
Curzon hat es im vorigen Jahrhundert unwiderlegbar in seinem
grundlegenden Werk festgestellt, das er der Pariser Festung der
Tempelritter widmete.
Nun ist allen – und es sind ihrer Legionen –, die sich mit den
Akten des Templerfalles beschäftigt haben, ein merkwürdiger
Widerspruch aufgefallen.
Der Templerorden war eine internationale, souveräne Organisation,
deren religiöses, militärisches und finanzielles Wirken beinahe
zwei Jahrhunderte lang zwei Kontinente umspannte. Sie
besaß zweifellos Archive in Hülle und Fülle. Sicher wurden diese
gut geführt, aus denen anderer geistlicher Orden zu schließen, zu133
mal man gerade im 13. Jahrhundert begann, Dokumente systematisch
zu ordnen und aufzubewahren.
Trotzdem besitzen wir nur ganz wenige Papiere, die aus dem
Templerorden selber stammen: drei Kopien seiner offiziellen
Regel (gegenüber dreizehn der Hospitaliter), einige Urkundenbücher
aus der Provinz, zwei Rechnungsbücher, jedoch kein wichtiges
Dokument, keine diplomatische Urkunde und vor allem kein
einziges Protokoll der Generalkapitel, die über manche Ritterorden
wie den vom Goldenen Vlies so genaue Aufschlüsse geben.
Wir würden aus ihnen direkt etwas über die dunklen Geheimnisse
erfahren, die man auch nach sechs Jahrhunderten nur mutmaßen
kann.
Einige Forscher vertreten die Meinung, die Dokumente des
Ordens würden größtenteils im Vatikan unter Verschluß gehalten.
Da dieser Staat als einziger der Welt niemals seine Bilanz
oder seine Archive veröffentlicht, muß seine Geheimbibliothek
herhalten, und das oft zu Recht, wenn den Historikern die Unterlagen
fehlen. Im Fall der Templer jedoch trifft das nicht zu. Nach
der Einnahme von Rom nämlich ließ Napoleon, der sehr interessiert
war, in den Archiven des Vatikans alles, was damit zusammenhing,
beschlagnahmen. Dieses Dossier wurde nach Abschluß
des Konkordates dem Papst zurückgegeben. Doch inzwischen hatten
sich mehrere Gelehrte damit befaßt und einen Katalog zusammengestellt,
aus dem einwandfrei hervorgeht, daß der Heilige
Stuhl nicht im Besitz der Archive des Temple ist. Allerdings bewahrt
er einige Prozeßakten auf, die für uns von allergrößtem
Interesse sind, wie wir noch sehen werden.
Philipp den Schönen kann man ebenfalls nicht für das Verschwinden
der Archive verantwortlich machen. Eine solche Aktion
hätte ihn ohne Frage kompromittiert, falls die Templer unschuldig
waren, wenn auch weniger, als man annimmt, da er die
Papiere ja nur unter Verschluß zu halten brauchte. Doch selbst
dann hätte er sie bestimmt im »Urkundenschatz« deponiert, wie
er es mit allen in seinen Händen befindlichen offiziellen Dokumenten
getan hat.
Über das Schicksal der Geldreserven, die der Temple von Paris
134
im Augenblick der großen Razzia aufbewahrte, wissen wir besser
Bescheid. Sie waren ja nicht durchweg Eigentum des Ordens, und
der Staat nahm den Teil wieder an sich, den er diesem zur Verwaltung
anvertraut hatte. Der Rest wurde wie die übrige Habe
der Templer beschlagnahmt und fiel dann fast ganz dem Orden
der Hospitaliter zu.
Da aber die Archive des Temple fehlen und die Verzeichnisse
der beschlagnahmten Werte nur zum geringen Teil erhalten sind,
läßt sich unmöglich mit Sicherheit sagen, ob tatsächlich der gesamte
Besitz des Ordens in Paris konfisziert wurde, der wiederum
lediglich einen Bruchteil seines gewaltigen Vermögens ausmachte.
Ebensowenig kann man behaupten, daß die Beschlagnahme
sämtliche Kultgegenstände erfaßte, deren unvergleichliche Pracht
Jacques de Molay in einem seiner Geständnisse gepriesen hatte.
Aus naheliegenden Gründen läßt sich nichts über das Schicksal
des Schatzes sagen, den der Großmeister bei seiner letzten Reise
von Zypern nach Paris gebracht haben soll. Dessen Existenz ist
nur gerüchtweise bekannt.
Bereits Henri de Curzon stellte fest: »Läßt sich nicht in dem
Verhalten Philipps gleich zu Beginn des Prozesses schlecht verhohlene
Enttäuschung darüber erkennen, nicht alles Gesuchte gefunden
zu haben, als er am Tag der Verhaftung in den Temple
eilte, um auf die Papiere und den Schatz des Ordens ein Auge
zu haben und vielleicht sogar die Hand darauf zu legen?«
Die Frage des Templerschatzes ist in jedem Fall eng mit einer
anderen verknüpft: Kam die Razzia vom 13. Oktober 1307 für
die Leiter des Ordens wirklich völlig überraschend?
Allein die Tatsache, daß Jacques de Molay selber den Papst
um Eröffnung eines kirchlichen Untersuchungsverfahrens gebeten
hatte, um dadurch der Aktion des Königs zuvorzukommen,
würde bereits genügen, das zu bezweifeln. Das taten auch die
meisten Schriftsteller, die sich mit diesem Punkt beschäftigt haben.
»Die Archive, die Statuten, die Geheimdokumente sind verschwunden
«, schrieb einer. »Sie waren bereits vor der Verhaftung
der Ritter verschwunden. Wurden sie vernichtet? Es ist höchst
unwahrscheinlich, daß man das eines Tages erfährt.«
135
»Man fragt sich«, schrieb Jules Piquet, »ob sich ohne Vorbehalt
behaupten läßt, der Großmeister sei durch seine Verhaftung überrascht
worden. Man hatte ihn gewarnt. Ist er diesen Warnungen
wirklich mit Hochmut und Mißtrauen begegnet? Hat er nicht
vielmehr die Statuten, die Grundregeln, die Rechenschaftsberichte
der Kapitel, die Korrespondenz, einen Teil der Buchführung,
wenn auch provisorisch, in Sicherheit gebracht? Dies sind natürlich
nur Vermutungen, allerdings recht naheliegende.«
»Die Wahrheit ist«, versichert Paul Chacornac, »daß der
König nicht das fand, was er suchte. Denn der Großmeister tat
nur unbefangen und hatte die wichtigsten Urkunden seiner Archive
längst in Sicherheit gebracht.«
Schließlich erklärt John Charpentier: »Die Templer ergriffen
die elementare Vorsichtsmaßnahme, einige Dokumente, Texte
oder Bilder, die kompromittierend sein und gewitzte Beobachter
auf die richtige Spur führen könnten, zu vernichten, zu verstecken
oder zu vergraben.«
Wie man sieht, handelt es sich bei den beiden letzten Verfassern
um eine sichere Behauptung. Man fragt sich, worauf sie
nach über sechshundert Jahren beruhen mag.
Nun berichtet Albert Ollivier in seinem kürzlich erschienenen
Buch eine Anekdote, die interessante Einzelheiten über die Evakuierung
bestimmter kostbarer Besitztümer durch die Templer
gibt. »Eine Legende will wissen«, schreibt er, »Jacques de Molay
sei keineswegs überrascht gewesen, sondern habe das Verhaftungsdatum
gekannt und die wichtigsten Dokumente des Ordens am
12. Oktober in drei mit Stroh bedeckten Wagen wegschaffen
lassen.«
Der Journalist und Historiker fährt fort: »Eine ziemlich abenteuerliche
Geschichte, denn die genannten Papiere wurden nie
wieder aufgefunden. Außerdem wäre durch die Folter das Geheimnis
ihres Verstecks ja leicht zu lösen gewesen.«
Tatsächlich findet man nicht die geringste Spur einer solchen
Erzählung, wenn man die 1221 Seiten umfassenden lateinischen
Prozeßakten genau liest, die im vorigen Jahrhundert von Michelet
herausgegeben wurden.
136
Sicher sind darin nicht die Unterlagen aus den Archiven des
Vatikans enthalten, die unter Napoleon zwischen Rom und Paris
hin und her gingen. Aber Raynouard, der die Papiere in Händen
hatte und 1813 seine Analyse darüber veröffentlichte, schweigt
ebenfalls über diese Episode.
Allerdings ist die Arbeit von Raynouard nur eine Zusammenfassung.
Der deutsche Historiker Schottmüller veröffentlichte
1887 als erster die Dokumente des Vatikans in extenso, vor
allem die Geständnisse der Templer, die von Clemens V. und
seinen Kardinalen in Poitiers verhört wurden. Aber auch bei ihm
findet sich kein entsprechender Hinweis. Doch wir wissen aus
einem wiederaufgefundenen Brief von Clemens V., daß er in
Poitiers zweiundsiebzig Templer verhört hat. Daraus läßt sich
feststellen, daß in der Arbeit Schottmüllers eine Anzahl von
Geständnissen fehlt.
Nun findet sich ausgerechnet unter den letzteren ein wichtiges
Dokument, das nicht nur die Episode mit den drei Wagen berichtet,
sondern außerdem dazu außerordentlich interessante Einzelheiten
gibt.
Es handelt sich um das Ende 1308 vor dem Papst persönlich
abgelegte Geständnis des sechsundvierzigsten Verhörten, nämlich
des Templers Jean de Chalon aus dem Temple von Nemours,
Diözese von Troyes.
Dieser erklärte, er habe am Abend vor der Razzia, am
12. Oktober 1307, selber drei mit Stroh beladene Wagen gesehen,
die bei Anbruch der Nacht den Temple von Paris unter Leitung
von Gérard de Villers, der fünfzig Pferde führte, und von
Hugues de Châlons [66] verließen. In diesem Wagen waren
Truhen verborgen, die den gesamten Schatz des Generalvisitators
Hugues de Pairaud (totum thesaurum Hugonis Peraldi) enthielten.
Sie nahmen Richtung auf die Küste, wo sie an Bord
von achtzehn Schiffen des Ordens ins Ausland gebracht werden
sollten.
Dieses Dokument erscheint in den Geheimarchiven des Vatikans
unter dem Zeichen »Register Aven. N° 48 Benedicti XII.,
Teil I, Seiten 448–451«.
137
Kommentarlos sei festgehalten, daß Pater Theiner, der Leiter
der Archive, 1867 schrieb: »Über den Originalprozeß der Templer
findet sich weder in der Bibliothek des Vatikans noch in den
Geheimarchiven des Heiligen Stuhls irgendein Hinweis.« Dies
ist nicht der erste und auch nicht der letzte merkwürdige Umstand,
zu dem unsere Untersuchung geführt hat.
Da das, was man für eine später entstandene Legende hielt,
in Wirklichkeit das unter Eid abgelegte Geständnis eines Beteiligten
ist, müssen wir es in Erwägung ziehen und auf seinen
Wert untersuchen.
Zunächst ist zu unterstreichen, daß die Geständnisse von
Poitiers, die vor dem Papst und den Kardinalen gemacht wurden,
viel glaubwürdiger sind als diejenigen, die von den Bevollmächtigten
des Königs und den französischen Inquisitoren häufig
erpreßt wurden. Der König sträubte sich so heftig dagegen, die
Templer Clemens V. zu überstellen, weil er dessen Skepsis gegenüber
den angeblichen Verbrechen des Ordens kannte und ebenso
seine Neigung zur Nachsicht. In Poitiers also sprechen die
Templer ungehemmter.
Andererseits enthalten die Erklärungen von Jean de Chalon
so genaue Einzelheiten, daß schwer anzunehmen ist, sie seien
aus Furcht erfunden worden. Im Gegenteil, die Furcht hatte ihm
lange Schweigen geboten. Auf die Frage der Kardinale, weshalb
er nicht früher von dieser Angelegenheit gesprochen habe, antwortete
er wörtlich, »er hätte nicht um alles in der Welt gewagt,
was auch immer zu enthüllen, wenn nicht der Papst und der
König ihm den Weg dazu geöffnet hätten; denn wenn man im
Orden erfahren hätte, daß jemand gesprochen hat, wäre der
Betreffende sofort getötet worden«.
Aber wollte Jean de Chalon nicht gerade durch die Worte,
mit denen er vom Papst und vom König sprach, versteckt darauf
hinweisen, daß diese ihm sein Geständnis diktiert hätten? Wir
glauben das nicht, und zwar deshalb: Clemens V. warf Philipp
dem Schönen die Eile vor, die er bei der Verhaftung der Templer
an den Tag gelegt hätte. Darauf erwiderte dieser, er habe erfahren,
daß einige Ritter bereits begannen, den Schatz des Ordens
138
in Sicherheit zu bringen. Natürlich könnte das nur ein Vorwand
Philipps gewesen sein. Dann wäre Jean de Chalon dem Papst
vorgeführt worden, um lediglich zum Schein diesen Vorwand zu
bekräftigen. Warum hätte aber dann der König, wie verschiedene
Dokumente beweisen, sämtliche Hauptstraßen seit dem Tag vor
den Verhaftungen bewachen lassen? Da er das tat, mußte es wohl
noch andere Transporte gegeben haben, und somit besteht für
uns keinerlei Ursache mehr, jenen vom 12. Oktober anzuzweifeln.
Es gibt jedoch noch bessere Argumente. In der Nationalbibliothek
existiert ein Text, der in die Briefe Clemens V. eingeschoben
ist und der unseres Wissens noch von niemand zitiert wurde. Es
handelt sich um ein Blatt mit der Überschrift: »Dies sind die
Namen der Brüder, die entflohen sind.« Dieses Blatt enthält die
Liste von zwölf Würdenträgern des Ordens und einen Hinweis
auf die Richtung, die einige von ihnen eingeschlagen haben. Nun
finden sich darunter auch die beiden von dem Zeugen aus Poitiers
genannten Namen: Hugues de Châlons und Gérard de Villers,
»der vierzig Brüder bewaffnet hat«. [67]
Damit wird die Aussage von Jean de Chalon über das Verschwinden
des Templerschatzes unanfechtbar und bis ins einzelne
bestätigt.
Wir können nun, ohne großes Risiko eines Irrtums, auch den
Weg des heimlichen Transports festlegen. Denn selbstverständlich
würden die Leiter des Tempelritterordens, nachdem sie erfahren
hatten, daß die Razzia drohte, ihre kostbaren Güter, Geld
und Archive, die sie jenseits des Meeres in Sicherheit bringen
wollten, nicht den Gefahren einer langen Reise quer durch das
Land aussetzen, sondern den kürzesten Weg wählen. Um so
mehr, als dieser in das einzige Land führte, das ein sicherer
Verbündeter des Ordens war, nämlich England. Schließlich war
es für derartige Unternehmen kein unbekannter Weg. Bereits
1247 hatte der Großmeister Guillaume de Sonnac dem englischen
Herrscher Heinrich III. aus Südfrankreich unter starker Eskorte
eine geheimnisvolle Fracht geschickt.
Selbstverständlich konnte der Transport nicht die Hauptstraße
nach Rouen nehmen, da sämtliche Hauptstraßen bereits bewacht
139
waren. Und da außerdem die Flußmündung der Seine damals
anders verlief als heute, war Rouen auch für Hochseeschiffe
ungeeignet.
Von Paris aus war die nächste und verschwiegenste Stelle für
die Einschiffung vor der alten gallischen Stadt Eu an der Mündung
der Bresle, etwa dort, wo jetzt Le Tréport liegt. Heute
gelangt man von Paris aus entweder über Beauvais oder Gisors
dorthin. 1307 jedoch hatte man keine Wahl, da nur die alte
Römerstraße durch das Vexin existierte.
Wenn Jean de Chalon mit eigenen Augen (obviavit) den Geleitzug
gesehen hatte, so war er doch nicht bei der Einschiffung
dabeigewesen, sondern hatte nur davon reden gehört (audivit
dici). Wahrscheinlich hat diese Einschiffung niemals stattgefunden,
denn die Verladung und Abfahrt von achtzehn Schiffen des
Ordens konnte nicht unbemerkt vor sich gehen. Andererseits steht
fest, daß der Transport nicht abgefangen wurde. Darüber findet
sich in keiner Chronik ein Hinweis. Wenn jedoch ein solcher
Transport dem König in die Hände gefallen wäre, so hätte er
sich beim Papst darauf und nicht auf ein bloßes Gerücht berufen,
um die abrupten Verhaftungen zu rechtfertigen. Der Geleitzug
hatte sich also gezwungen gesehen, unterwegs haltzumachen und
seine Fracht an einen sicheren Ort zu bringen.
Dies konnte selbstverständlich nicht eine der normannischen
Komtureien sein, die bei Tagesanbruch genau durchsucht und
von den königlichen Wachen besetzt worden wären, bevor Gérard
de Villers und seine Gefährten sie hätten erreichen können. Ferner
durfte dieser Zufluchtsort nicht zu weit von Paris entfernt
liegen, denn man mußte vor der kritischen Stunde dort angelangt
sein. In einer Nacht konnten Pferde im Schritt nicht mehr als
etwa sechzig Kilometer zurücklegen. Und schließlich mußte er
nicht direkt an der Straße sein, da diese ja stellenweise bereits
bewacht war. Die Logik umschreibt also den Umkreis ziemlich
eng, innerhalb dessen der Schatz des vornehmen und mächtigen
Herrn Hugues de Pairaud, Generalvisitator von Frankreich des
Tempelritterordens, Zuflucht finden konnte.
Dennoch bleibt ein Punkt in dem Geständnis des Jean de
Chalon merkwürdig. Wieso hätten drei Wagen genügt, um
Truhen zu transportieren, für deren Verfrachtung achtzehn
Schiffe erforderlich waren? Der Widerspruch ist so ungeheuer,
daß er unserer Meinung nach die ganze Aussage hinfällig machen
würde, wenn es nicht noch ein anderes Dokument gäbe, das deren
Authentizität bestätigt. Und trotzdem beweist gerade diese
enorme Diskrepanz, daß der Widerspruch freiwillig geschah. Welches
war die treibende Kraft, die Jean de Chalon dazu bewog?
Hat er nicht gehandelt wie vor ihm die beiden anderen Templer,
Antoine de Verceil und Hugues du Faure, als sie die Legende
von dem magischen Kopf erzählten? Und sind nicht die drei
Wagen oder die achtzehn Schiffe oder auch beide ein Hinweis,
ein Wegweiser, ein Symbol, das für die allein Eingeweihten
verständlich ist, um diese auf die Spur des verschwundenen
Schatzes zu bringen?
Dritter Teil
DAS RÄTSEL VON GISORS
»Im Mittelalter hat die Menschheit keinen
wichtigen Gedanken gedacht, ohne ihn
in Stein auszudrücken.«
VICTOR HUGO
»Die vollkommenste aller Tätigkeiten
ist das Bauen.«
PAUL VALERY
143
Im Jahre 1711 wollten die Domherren von Notre-Dame in Paris
die Grabstätten der Erzbischöfe verschönern und ließen deshalb
hinter dem Hauptaltar eine Gruft ausheben. Man grub fünfzehn
Fuß tief, bis am 16. März eine alte Mauer freigelegt wurde, die
quer durch die ganze Breite des Chors ging. In ihr waren höchst
erstaunliche Dinge eingemauert, die noch heute die Neugier der
Besucher des Cluny Museums erregen, wo sie ausgestellt sind.
Es waren neun mit Flachreliefs und Inschriften verzierte würfelförmige
Steine. Auf einem war ein Stier dargestellt. Er trug
auf seinem Rücken drei Kraniche, wie man sie an den Nilufern
sieht. Auf dem anderen der keltische Gott Cernunnos, dessen
gebogene Hörner zwei Räder trugen, und sein Zwillingsbruder
Smertullos. Auf dem nächsten der Sohn Jupiters, Vulcan, Gott
des metallurgischen Feuers. Auf dem vierten ein Baum, den Esus,
der gallische Mars, fällte. Der fünfte zeigt zwei Reiter: die Zwillinge
Castor und Pollux, Beschützer der Schiffahrt. Der sechste
und siebente einen Herkules und einen Mann und eine Frau in
verschiedenen Stellungen. Der achte wies auf den Ursprung der
anderen hin; auf ihm war folgende Inschrift zu lesen:
TIB . C A E S A R E
AVG . I O V I . OP T U M
M A X S V M O M0
N A V T A E P A R I S I A C
P V B L I C E . P O S I E R V
. TN
144
Was ungefähr bedeutet: »Unter dem Kaiser Tiberius, zu Ehren
des sehr guten und sehr großen Jupiter, haben die Pariser Schiffer
dies öffentlich niedergelegt.«
Ungefähr – denn Félibien und Lobineau haben in der monumentalen
»Geschichte von Paris«, die sie drei Jahre nach der
Entdeckung veröffentlichten, mit den scharfen Augen der Benediktiner
einige Eigentümlichkeiten darin festgestellt, zum Beispiel
das M0 vor NAVTAE und die Vertauschung des V und I in
MAXSVMO und POSIERVNT. [68] Was nun die seltsame
Form anbelangt, in der jenes letzte Wort eingemeißelt ist:
P O S I E R V
. TN
so erklären uns die gelehrten Mönche, daß »es sich dabei um
eine Schreibweise handelt, die im Griechischen bustrephedon genannt
wird, weil sie den Weg eines von Ochsen gezogenen Karrens
nachahmt«.
Félibien und Lobineau sind voller Bewunderung für den religionsgeschichtlichen
Wert der Inschrift und machen auf folgendes
aufmerksam: »Es fällt schwer, diese gelehrten Kenner der Antike
als Schiffer anzusehen. Wenn nautae Schiffer heißt, hat man dann
die berühmten Helden, die das Schiff Argo bestiegen, um das
Goldene Vlies zu erobern, nach ihnen genannt? Man nennt sie
alle nautae, argonautae.«
Der wahrscheinlich zufällige Fund der Domherren begeisterte
die größten Geister der Zeit. Leibniz schrieb Brief auf Brief, ließ
sich Abbildungen schicken und wies mit philologischen Argumenten
nachdrücklich darauf hin, daß der Name Esus auf einem
der Steine ein Wortspiel mit dem der Isis darstelle, der »göttlichen
Mutter« der Ägypter, der bald weißen, bald schwarzen
Himmelskönigin, die ihren Adepten die geheimsten Kenntnisse
offenbarte.
Die Hypothese dieses Universalgenies, der Philosoph, Mathematiker
und Diplomat in einem war, übte eine um so stärkere
Wirkung aus, als sich daraus seine Zugehörigkeit zur gelehrtesten
und unzugänglichsten aller Geheimgesellschaften entnehmen ließ,
den Rosenkreuzern. Und die qualifiziertesten Wappenkundler betrachteten
daraufhin das Schiff auf dem Stadtwappen von Paris
als Anspielung auf das der Isis, der Göttin, der angeblich die
Segel zu verdanken sind. Ferner hatte ein Standbild der Isis seit
Gründung der Abtei durch Childebert I. im Jahre 558 in Saint-
Germain-des-Prés gestanden und war von den Gläubigen als
Schwarze Madonna verehrt worden, bis Kardinal Briçonnet im
16. Jahrhundert Anweisung gab, es zu beseitigen.
Es blieb nun noch der neunte Steinwürfel mit der rätselhaften
Inschrift EVRISES, an der sich selbst die gelehrten Mönche
Félibien und Lobineau und ebenso der geniale Leibniz die Zähne
ausbissen, wie man zumindest aus ihrem Schweigen schließen
kann.
Niemand aber machte darauf aufmerksam, daß 1633 in Paris
in der oberen rue Saint-Martin der Brunnen mit dem merkwürdigen
Namen »du Vert-Bois« errichtet wurde. Er existiert
heute noch und lohnt durchaus, ihn sich anzusehen, wenn man
in der Gegend ist.
Auf dem Fundament des Hochreliefs hat der Bildhauer Muschelzierat,
einen geflügelten Helm und einen geflügelten Schlangenstab
dargestellt, die herkömmlichen Embleme Merkurs. Darüber
ein Schiff, das gleiche wie auf dem Wappen von Paris. Das
Focksegel steht so, daß man die Fracht erkennen kann: es ist
einer der würfelförmigen Steine, die man ein gutes Dreivierteljahrhundert
später unter Notre-Dame entdeckt hat (Tafel XIII
unten).
Es ist jedoch nicht denkbar, daß das Schiff der Isis mit den
Emblemen des Hermes gewöhnliche Bausteine verfrachtet. Der
einzige Stein, der seiner würdig wäre, ist der Stein der Weisen.
Sollten das einige Menschen seit langem gewußt haben? Wenn
wir die steinernen Würfel der Nauten entziffern wollen, führen
sie uns von einem Punkt zu einem anderen, an dem wir stehenbleiben
müssen ...
146
VERWANDTSCHAFT IN BILD UND STEIN
Als die nautae parisiaci zur Zeit von Tiberius und Jesus Christus
neun Teile aus ihrem steinernen Buch auf der Ile de la Cité
zurückließen, durchquerten sie jede Woche auf ihrer Fahrt
zwischen Paris und Rouen das Gebiet des Stammes der Eburovises
oder Evroises, dem das heutige Departement Eure seinen
Namen verdankt.
Hier gab es einen Landstrich, der Argonauten anzuziehen
vermochte: das Vexin, Pagus Beliocassinus, das Land des Geheimnisses
des Widders. [69]
Um ins Innere dieses Landes zu gelangen, das unter dem
Zeichen des brennenden Feuers stand, mußte man die direkte
Wasserstraße Paris–Rouen verlassen. Entweder konnte man den
Wasserweg wählen, in der Höhe von Giverny, bei Vernon, abzweigen
und die Epte hinabfahren, oder den Landweg, da –
wie wir gesehen haben – eine Römerstraße Paris mit dem Vexin
verband.
Dieser Umweg ist kommerziell von keinerlei Interesse, er
hatte nur symbolische Bedeutung. Und seltsamerweise scheinen
ihn diese einfachen Schiffer doch gemacht zu haben. Ihr Zeitgenosse
Ptolemäus nennt die Hauptstadt des Vexin, obwohl sie
kein Hafen ist, Gessoriacum Navale: das schiffahrende Gisors.
Die Römerstraße, die von der Ile de la Cité über Montmartre,
Saint-Denis und Pontoise nach Gisors führte, war zwar nur ein
zweitrangiger Verkehrsweg, jedoch eine heilige Straße. Jede
Nacht wurden von Hügel zu Hügel zwischen dem Denkmal, das
die Nauten dem Jupiter errichtet hatten, und der geheimen Hei147
mat des Widders Feuer entzündet. Ein Rosenkranz von Flammen,
den heidnische Priester durch die Landschaft gleiten ließen.
Im Vexin mischten sich ebenso wie auf den Steinwürfeln der
Nauten gallische und römische Götter wie ältere und jüngere
Söhne derselben Mutter, verschiedene Gesichter einer einzigen
Tradition. Manche Orte hatten bereits – wie ihr Name bewies –
den Götterkult Roms übernommen. Aber die Menhire und Dolmene
der Druiden blieben die Herren der Wälder. Sie drehten
sich auf magische Weise um sich selbst im Augenblick der Wintersonnenwende
und bevölkerten die Nächte durch den Mann ohne
Kopf, der noch heute in den Sagen als Blaiseau lArdent fortlebt.
Letztlich spielt es auch kaum eine Rolle, für wen die Altäre
errichtet sind. Die Religionen vergehen, doch die Landschaften
bleiben. In den von jeher heiligen folgen die Götter einander nur
als Mieter, und die Wege, die sie verbinden, bestehen auch nach
dem Sturz der Götter weiter.
Im Mittelalter wechselt das Vexin den Namen. Es bleibt jedoch
unter dem Zeichen des Feuers, da man es jetzt Pagus Vulcasinus
nennt, Land des Geheimnisses des Vulcans. Die beiden Wege, zu
Wasser und zu Land, zwischen dem Gebiet von Paris und dem
Vexin, genauer zwischen Paris und Gisors, erfahren am Rande
der großen Wirtschaftsadern das ungewöhnliche Schicksal von
großen Verbindungswegen der Symbole.
Die Pariser Schiffer machen Karriere. Unter dem Namen »marchands
deau«, das heißt auf dem Wasser handeltreibende Kaufleute,
verwalten sie jetzt die Hauptstadt. Das älteste Siegel von
Paris, das wir besitzen, stammt aus dem Jahre 1200. Es stellt das
Schiff der »marchands deau« dar. Die Urkunde, auf der es sich
befindet – eine einfache Abmachung über den Salztransport zwischen
Paris und Rouen –, wurde, entgegen jeder Logik, in Gisors
in Gegenwart des Königs von Frankreich unterzeichnet (Tafel
XIII, oben).
Auf der Römerstraße werden nach wie vor Feuer entzündet.
Sie dienen nur noch als Signalfeuer, die nachts von den Türmern
erspäht werden. Trotzdem werden sie Montjoies genannt, das
heißt Berg des Jupiter (Mons Jovis). Dadurch bleibt die Erinne148
rung an ihre Funktion in der Antike erhalten, und sicher auch
deren geheimes Überleben.
986 tauchte der erste Graf des Vexin, Gauthier, auf. Und 1075
nimmt sein Nachfahre Godefroy als erster den Namen von Gisors
an. Wir würden diese Menschen einer längst entschwundenen Zeit
gar nicht erwähnen, wenn die Grafen des Vexin nicht ein unwahrliches
Privileg genossen hätten: In der Schlacht marschierten sie
vor dem König von Frankreich, und ihr Banner hatte den Vortritt
vor allen anderen. Nun hieß dieses Banner die »Romaine« oder
»Montjoie«; es war f euerf arben und mit goldenen Flammen übersät
nach dem Vorbild des flammenden Schwertes, von dem es dem
»Rolandslied« zufolge seine sagenhafte Abstammung herleitete.
Zu jener Zeit vollbrachten zwei Heilige, Denis und Clair, der
eine in der Nähe von Paris, der andere bei Gisors, das gleiche
Wunder. Sie schritten nach ihrer Enthauptung weiter und hielten
ihren Kopf in den Händen. Unter Godefroy wird Gisors Lehen
der Abtei Saint-Denis, und das kostbare Banner verläßt über die
Römerstraße das Land der Männer ohne Kopf, wird auf das
Grab des Pariser Märtyrers gepflanzt, was ihm neuerlichen Aufstieg
bringt. Von nun an heißt es »Oriflamme« wegen seiner Farben
oder »Vexin« wegen seiner Herkunft [70]. Die Rolle, die es
spielt, könnte den Gedanken erwecken, Gisors sei zwar Lehen von
Saint-Denis nach den Urkunden, in Wahrheit jedoch Lehnsherrin
dank irgendeiner unbekannten Übereinkunft. Denn tatsächlich ist
die Oriflamme bei der Krönung der Könige von Frankreich zugegen,
und diese verehren sie wie eine Reliquie, beinahe wie einen
Gott. Wenn sie in den Krieg ziehen, dürfen sie sie nur ergreifen,
nachdem sie ihr, nüchtern, kniend, barhäuptig gehuldigt und auf
die Heilige Jungfrau geschworen haben, sie getreulich zu verteidigen.
Die Oriflamme bleibt nun zusammengerollt bis zum Augenblick
des Angriffs, wo sie feierlich entfaltet wird, während der
Kriegsruf des Königs erschallt: »Montjoie saint Denis!« Man bezeichnet
den Träger des Banners mit dem lateinischen Namen
»Signifer«, Träger des Zeichens, was sich auch auf den Tierkreis
bezieht. Und da das Zeichen in diesem Fall das der Sonne und
des Feuers ist, könnte sich der Träger des »Vexin« ebenso auf
Tafel IX: Gisors. Eglise Saint-Gervais. Tympanon des großen Portals, aus neun
kubischen Steinen zusammengesetzt
Tafel X: Gisors. Eglise Saint-Gervais: Nordportal; ein Kristallgefäß mit Lilienstengeln
(links). – Gisors. Eglise Saint-Gervais: Säule der Lohgerber (rechts)
149
lateinisch Luzifer und auf griechisch Phosphor nennen, Träger des
Feuers, des Lichtes.
Unter König Johann II. dem Guten ist Geoffroy de Charnay,
ein Verwandter und Namensvetter des Leidensgefährten von
Jacques de Molay auf dem Scheiterhaufen, Träger der Oriflamme.
Das Banner nimmt an allen Schlachten teil, in denen es um das
Schicksal des Königreiches geht: Azincourt, Roosebeke, Crécy.
Die ersten nationalen Farben waren also zugleich alchimistische
Farben – des Goldenen Vlieses und der Schmiede Vulcans.
Dieselben Farben finden wir übrigens in den späteren Wappen
von Gisors wieder. Wenn man diese mit denen von Paris vergleicht,
werden neue Übereinstimmungen zwischen den beiden
Städten verliehenen Symbolen sichtbar.
Wappen sind vollkommene Hieroglyphen, in denen jede Einzelheit
zählt. Die Farben, die Figuren und ihr Platz auf dem
Schild, die Devise müssen sorgfältig untersucht werden, will man
den Sinn des Ganzen entdecken. Die Heraldik verfährt in der Tat
nach einem minuziösen Symbolismus und gehorcht genauen Regeln.
Das ursprüngliche Wappen von Gisors war: rot, mit liegendem
goldenem Hirsch. Später nimmt Gisors: rot, mit ausgezacktem
goldenem Kreuz, während Paris ein rotes Stadtwappen hat mit
silbernem Schiff, das auf silbernen Wogen schwimmt. Nun braucht
man in der Wappenkunde nicht besonders bewandert zu sein, um
zu wissen, daß die Embleme des Kreuzes und des Schiffes einander
entsprechen – alle katholischen Kirchen sind in Kreuzform
gebaut und bestehen aus Schiff und Querschiff.
Noch später werden beide Stadtwappen durch dasselbe königliche
Ornament ergänzt: ein blaues Oberfeld, mit goldenen Lilien
verziert. Und schließlich haben sie die gleichen Schildhalter: gekreuzter
Eichen- und Mistelzweig.
Zwischen diesen Wappen besteht nur der Farbunterschied der
mittleren Embleme. Allerdings handelt es sich um Komplementärfarben:
das Schiff von Paris, das jenes der Isis darstellen sollte
und tatsächlich die Form eines Halbmondes hat, bleibt dem silbrigen
Mondlicht treu, während Gisors, das unter dem Zeichen des
Feuers steht, ein Kreuz in der Farbe der Sonne wählt.
150
Der Symbolismus ihrer Wappen bestätigt, daß eine echte Verwandtschaft
zwischen den beiden Städten besteht, aber auch – wie
bei der Oriflamme – eine Art geheimer Lehnsherrschaft der kleineren
über die größere, denn Gold ist kostbarer als Silber und die
Sonne leuchtender als der Mond. Und bedient sich nicht auch
Papst Innozenz III. dieses Vergleichs in eben dem Augenblick, als
die Stadtwappen auftauchten, um das Supremat der Kirche über
Abbildung 3: Wappen von Paris (links), Wappen von Gisors (rechts)
das Weltliche zu postulieren? Wie Gott zwei Lichtquellen erschaffen
hat«, schrieb der große Schutzherr der Templer, »eine
größere, die den Tag, und eine kleinere, die die Nacht regieren
soll, so hat er auch am Firmament der allumfassenden Kirche,
deren Erbe himmlischen Ursprungs ist, zwei Ehrenämter geschaffen:
ein größeres, um die Seelen zu regieren, als seien sie
Tage, und ein kleineres, um die Körper zu regieren, als seien sie
Nächte. Es sind dies die päpstliche und die königliche Gewalt.«
Als der Papst den König von England treffen wollte, wählte er
erstaunlicherweise das Schloß von Gisors für diese Begegnung.
Ein weiteres Merkmal des Wappens von Gisors darf nicht übersehen
werden: die Zahl 1188, die darüber steht. In jenem Jahr
verkündete Erzbischof Guillaume de Tyr von Gisors aus den dritten
Kreuzzug. Die Wahl dieser Stadt, Gegenstand von hundertjährigen
Streitigkeiten zwischen Franzosen und Engländern, wäre
151
vielleicht politisch unklug gewesen, wenn es hier nicht einen
für die Zusammenkunft der christlichen Könige sehr geeigneten
Platz gegeben hätte. Vor den Toren der Stadt befand sich an der
berühmten Römerstraße das sogenannte Heilige Feld. Seit undenklichen
Zeiten stand auf diesem Feld eine Ulme. Wenn man
den Chroniken glaubt, war sie wirklich ungewöhnlich: »Vier
Männer konnten sie kaum mit den Armen umspannen. Sie war
wie ein Wald, und ihr Schatten bedeckte mehrere Morgen, so daß
dort Tausende von Menschen Platz und Obdach fanden.« Um
diesen botanischen Riesen gegen jeden Anschlag zu schützen, hatte
man seinen Stamm »mit einem gewaltigen Gerüst von Eisen und
viel Bronze« umgeben, so daß sie »Eiserne Ulme« genannt wurde.
Dieser Baum, der sogar den Namen des Feuers trägt [71] und
der in der Antike dem Mars geweiht war, erschien Guillaume de
Tyr als idealer Platz, um die Kriegsbegeisterung der Kreuzfahrer
zu entfachen. Unter ihm vereinten sich König Philipp II. August
von Frankreich und König Heinrich II. Plantagenet von England.
Der erste bewunderte voller Neid die Burg über der Stadt, die
der zweite vor knapp vier Jahren vollendet hatte. Im Gefolge
Heinrichs würdigte der Dichter Roger of Hoveden, der die düstere
Legende von der Jungfrau Yse berichtet hat, den Ort als Kenner.
Dasselbe taten die südfranzösischen Troubadoure. Sie hielten unter
der Ulme von Saint-Martial in Toulouse ihre erste Versammlung
ab.
Wer hatte einst das Heilige Feld von Gisors gepflügt, um dort
die Eiserne Ulme zu pflanzen? Waren es die Nauten nach dem
Beispiel Jasons, der die Stiere mit den ehernen Hufen auf dem
Marsfeld zu Kolchis vor den Pflug gespannt hatte? Jedenfalls
hatte der Baum bereits eine lange Geschichte und ebenso das Feld,
auf dem er stand. Als er 1111 in den Krieg zog, hatte König Ludwig
VI. der Dicke auf dem Heiligen Feld vor einem im Freien
errichteten Altar die Messe gehört. Während der Zeremonie
waren die Engländer erschienen, um die heiligen Gefäße zu erobern.
Doch eine Ochsenherde hatte sie in die Flucht geschlagen.
Zwei Tiere blieben als Wache vor dem Altar stehen. Zur Erinnerung
an dieses ungewöhnliche Ereignis wurde auf dem Feld eine
152
Kapelle errichtet, die man Saint-Pierre-aitx-Boeufs nannte [72].
Etwas später meditierte Sankt Bernhard unter den Blättern der
Ulme über die Ordensregeln der Templer. Und schließlich hatten
hier bereits mehrere Zusammenkünfte zwischen Franzosen und
Engländern stattgefunden.
Die Folgen seiner Predigt überstiegen alle Hoffnungen des Erzbischofs.
Er versetzte seine hochgeborenen Zuhörer in einen solchen
Gnadenzustand, daß man am Himmel von Gisors ein großes
leuchtendes Kreuz erscheinen sah. Schleunigst wurde es auf das
Stadtwappen übertragen. Angeblich ließ man auch bei ebenjener
Gelegenheit das schöne, eigenartige Kreuz meißeln und setzen,
das als unzerstörbares Andenken an den Templerorden noch
heute an einer Straßenbiegung zwischen Neaufles und Gisors Aufmerksamkeit
erweckt.
Doch nachdem die allgemeine Begeisterung abgeklungen war,
bemühte man sich, Unterscheidungsmerkmale zu schaffen. So
wählten die Engländer ein weißes Kreuz, die Deutschen und die
Flamen ein grünes und die Franzosen ein rotes. Die Rivalitäten
gewannen wieder die Oberhand. Sie sollten im selben Jahr die
Ulme das Leben kosten.
Es geschah am 15. August. Die Chroniken widersprechen einander,
je nachdem, ob es sich um französische oder englische handelt.
Provozierten die Engländer, die ruhig unter dem Baum
saßen, mit ihren Spottreden die in der Sonne schwitzenden Franzosen?
Oder waren es im Gegenteil die Franzosen, die sich im
Zorn zurückzogen, da sie den Einzug in Gisors nicht erzwingen
konnten? Fest steht jedenfalls, daß die Franzosen die Ulme fällten
und sich dessen wie einer Heldentat rühmten.
Die Engländer waren jedoch von jeher Naturliebhaber und beklagten
mit rührender Traurigkeit die zerstörerische Tat: »Außerhalb
der Stadt gab es eine runde Ulme. Sie war schön und grün
und spendete im Sommer angenehmen Schatten. Aus Dummheit
schlugen die Männer des Königs sie Stück um Stück ab. Niemals
ist der Krone Frankreichs solch große Schmach widerfahren.«
Wie in Gisors, gab es auch in Paris eine von alters her berühmte
Ulme. Sie stand vor der Kirche Saint-Gervais et Saint-Protais,
Abbildung 4: ... das geheimnisvolle Buch des Alchimisten.
Frontispiz des »Liber Mutus« von Soulat des Maretz
154
einige Schritte von der Ile de la Cité entfernt. Sie ging normal ein,
aber es wurde stets sofort eine neue gepflanzt. So kann man noch
heute vor dieser Kirche eine schöne Ulme bewundern, die durch
ein Gitter aus Eisen und Bronze geschützt ist.
Treibt man die Neugier so weit, die Kirche zu betreten, erlebt
man die erfreuliche Überraschung, vom Pfarrer selbst einige interessante
Einzelheiten über die Geschichte des Baumes zu erfahren,
das bleibende Sinnbild der Gemeinde. Zum Beispiel hört man,
daß die Einwohner des Viertels ihm bis ins 15. Jahrhundert Platzmiete
entrichten mußten, als sei er ihr Hausherr. Vor allem aber
war die Ulme von Saint-Gervais wie die von Gisors von jeher
ein Versammlungsort. Und wenn sich in ihrem Schatten auch
keine Fürsten trafen, so war es doch eine auf ihre Abkunft nicht
minder stolze Korporation: die der Maurer und Steinmetze.
Bei näherer Besichtigung entdeckt man einen wunderbaren
Chor, der 1540 geschnitzt wurde und dessen beide Seiten je zweiundzwanzig
Chorstühle enthalten. Wenn man nun die Sitze
dieser Chorstühle nacheinander hochklappt, daß die Scharniere
quietschen, hat man gewonnenes Spiel.
Dann entdeckt man nämlich die Rundbilder, die mit zwar
wenig katholischen, aber äußerst ausdrucksvollen Emblemen geschmückt
sind: ein Männerkopf mit Widderhörnern, ein Schifferkahn,
die mit einem Eisengitter umkleidete Ulme scheinen den
Weg zu weisen, den es einzuschlagen gilt, sowie den Ort, der zu
erreichen ist. Und sollte man sich noch fragen, unter welchem
Zeichen die Reise wohl stehen soll, so gibt das Rundbild Auskunft,
das einen Maurer mit der Kelle in der Hand darstellt.
Man stellt fest, daß sein Knie entblößt ist. Eine Haltung, die tatsächlich
bei dem Aufnahmezeremoniell der Freimaurer vorgeschrieben
ist.
Es wird den Leser kaum wundern zu hören, daß die Kirche
Saint-Gervais et Saint-Protais im Jahre 1195 ihre Urkunde im
Vexin erhielt und daß eine Priorei im Vexin die Schutzherrschaft
übertragen bekam. Mehr wird ihn vielleicht erstaunen, daß die
Kirche von Gisors ebenfalls Sankt-Gervais und Sankt-Protais geweiht
wurde.
155
Das Schicksal beider Kirchen weist übrigens Parallelen auf. Sie
wurden ursprünglich an der Stelle eines Sanktuariums aus dem
6. Jahrhundert errichtet. Beide wurden im 11. Jahrhundert verlegt,
die erste, um dem Rathaus, die zweite, um der Burg Platz
zu machen. Beide verdanken ihr heutiges Aussehen einem dritten
Bau, der zu Ende der Renaissance fertiggestellt wurde. Wer im
Gegensatz zu uns abergläubisch ist, würde noch hinzufügen, daß
beide – die eine 1916, die andere 1940 – bombardiert und daß
dabei die großen Orgeln zerstört wurden.
Am merkwürdigsten aber ist, daß die Embleme im Chor von
Saint-Gervais in Paris sich zumeist in Saint-Gervais in Gisors
wiederfinden. Insbesondere sieht man dort die Figur mit dem
entblößten Knie, deren Eigenschaft als Maurer durch einen Zirkel
und als Eingeweihter durch das griechische Φ gekennzeichnet ist,
unter vielem anderen der Anfangsbuchstabe des Wortes »Philosoph
«, mit dem sich die Alchimisten bezeichneten.
Man kann in beiden Kirchen noch viele andere gemeinsame
Embleme entdecken, über deren Bedeutung man vergebens genaue
Auskunft in Reiseführern oder bei den Priestern suchen würde.
Blättert man jedoch in zwei alten alchimistischen Alben, dem
»Liber Mutus« von Soulat des Maretz (1677) (Abb. 4) und dem
»Traité symbolique de la pierre philosophale« von Conrad Barchusen
(1718), so findet man darin zu seinem Erstaunen die meisten
dieser Embleme wieder. Sogar die allegorische Szene, die das
Titelblatt des ersten Werkes bildet, erscheint ebenfalls auf dem
Giebelfeld des großen Portals der Kirche Saint-Gervais in Gisors.
Dort ist sie, wahrhaft verblüffenderweise, in neun würfelförmige
Steine eingemeißelt (Tafel IX).
Welche Botschaft unbekannter Hände haben sie – von den
Nauten bis zu den Erbauern der Kathedralen – während sechzehn
Jahrhunderten dem Schweigen der Steine anvertraut? Und wie
weit haben sie zwischen Paris und Gisors diese Symmetrie der
Wegweiser getrieben?
Man erinnert sich, daß in Paris neben Saint-Gervais drei Gefährten
von Hugues de Payen im 11. Jahrhundert auf einem von
Ludwig VI. geschenkten Platz die erste, noch bescheidene WohnAbbildung
5: Auszug aus dem »Traité symbolique de la Pierre
philosophale« von Conrad Barchusen
Abbildung 6: Gisors, Kirdie Saint-Gervais, West-Fassade
Tafel XI: Paris. Eglise Saint-Gervais: Chorgestühl. Die »drei Köpfe« (oben). –
Aufnahme eines Freimaurers (das linke Knie ist entblößt). Das Kryptogramm
auf den Stufen mahnt: »Studiere die Schrift« (unten)
Tafel XII: Gisors. Eglise Saint-Gervais: Nordportal, Detail (oben links).–
Paris, Eglise Saint-Gervais: Chorgestühl, Salamander (rechts oben); Chorgestühl,
Remora (rechts Mitte), Chorgestühl (unten)
157
Abbildung 7: Auszug aus dem »Traité symbolique de la Pierre philosophale«
von Conrad Barchusen
Stätte der Templer erbaut haben. Ursprünglich fanden an dieser
Stelle die Zusammenkünfte der Lohgerber statt. [73] Das Templerhaus
war mit der Kirche durch ein unterirdisches Gewölbe verbunden,
dessen Ausgang vor einigen Jahren unter einer der
Kapellen der Apsis wiederentdeckt wurde. [74] An der Stelle des
ehemaligen Templerhauses findet sich heute noch der Sitz einer
Gesellenverbindung.
Neben Saint-Gervais in Gisors wurde zur selben Zeit der Bau
der Burg vollendet.
Aber ist diese Burg wirklich nichts weiter als ein Kleinod der
Festungsbaukunst?
158
DIE BAUMEISTER
Als der Wikinger Rollo, der nur zu Fuß ging, weil kein Pferd
kräftig genug war, ihn zu tragen, sich die Normandie von König
Karl dem Einfältigen abtreten ließ, teilten sich die beiden Männer
in das Vexin. Der König behielt das Land links der Epte mit
Pontoise. Der neue Herzog bekam die andere Hälfte mit Gisors,
das wegen seiner Lage am Fluß fünf Jahrhunderte lang zur
Grenzstadt wurde.
Das geschah 911. Hundertfünfzig Jahre später wird Wilhelm
der Bastard, Enkel eines Lohgerbers, der sechste Nachfolger
Rollos als Herzog der Normandie. Er besiegt England und wird
daraufhin Wilhelm der Eroberer genannt. Zwischen Anglonormannen
und Franzosen beginnt eine lange Zeit der Rivalität,
die erst der hundertjährige Krieg beendet.
Alle Vorstöße der Widersacher richten sich auf die Seine, diese
Wirtschaftsader ohnegleichen, die jeder zu beherrschen sucht. Wer
das Vexin hat, hat auch die Seine, und wer die Epte überschreitet,
hat das Vexin. Vom 11. Jahrhundert ab wachsen an den steilen
Ufern der Epte zwei Reihen von Burgen empor. Sie liegen einander
gegenüber und wechseln mitunter in den Kämpfen die
Besitzer. Als später unter den angiovinischen Königen der anglonormannische
Vorstoß sich auch auf die Loire ausdehnt, entsteht
in der Touraine eine in allen Punkten ähnliche Kette von Burgen.
Unter den Burgen der Epte aber ist die von Gisors, das die alte
Römerstraße abriegelt, an strategischer Bedeutung allen benachbarten
überlegen. Deshalb gibt es auch im Kampf um Gisors bis
zum 15. Jahrhundert keinen Waffenstillstand.
Die Erbauer der Burg verkannten das nicht. Sie sollte den
Zeiten trotzen, und sie können sich noch im Grab rühmen, daß
ihnen das gelungen ist.
Wenn auch strategische Erwägungen völlig genügen, um das
Vorhandensein der Burg von Gisors zu erklären, so bleibt der
Plan, nach dem sie erbaut wurde, doch im dunklen. Zum Beispiel
läßt sich schwer erkennen, welche militärische Notwendigkeit die
159
Baumeister veranlaßt haben mochte, die Ringmauer des Wehrturmes
in Form eines regelmäßigen Polygons mit vierundzwanzig
Seiten und den Wehrturm ebenso wie seinen Wachturm als
regelmäßiges Achteck zu errichten. Häufig wurde sogar den strategischen
Erfordernissen entgegengehandelt, ein Umstand, der die
Archäologen sehr beschäftigte. Bereits der Marquis de Dion betont,
als er von dem Tor spricht, das in die Ringmauer des Wehrturms
eingelassen wurde: »Man beachte das Tor dieser Ringmauer.
Es ist weder von oben noch seitlich befestigt. Obwohl man
nur über eine gerade, erschreckend steile Treppe dorthin gelangen
kann, ist es 2,70 Meter breit und 5 Meter hoch. Das heißt, daß
ein Heuwagen hindurch könnte. Ich würde es direkt als Triumphbogen
bezeichnen.«
Dasselbe gilt für den äußeren Festungsgürtel der Burg. Er ist
kreisförmig und von zwölf Türmen flankiert. Aber diese wurden
keineswegs den Erfordernissen der Verteidigung entsprechend
verteilt. Im Osten und Südosten nämlich, von wo stets die Angriffe
erfolgten, sind nur drei vorhanden.
Vom militärischen Standpunkt aus ist der Bau der Burg von
Gisors also wenig exakt. Umgekehrt scheint er nicht ohne gewisse
mathematische Erwägungen entstanden zu sein. Bei oberflächlicher
Betrachtung kann man bereits feststellen: mit einem Wehrturm
und einem Wachturm, von denen jeder acht Seiten hat,
zwölf Außentürmen, einer inneren Ringmauer von vierundzwanzig
Seiten – das heißt: 2 × 4, 2 × 4, 3 × 4 und 2 × 3 × 4 –
genügen die vier ersten ganzen Zahlen als gesamte geometrische
Basis.
Diese erste Besonderheit ist dazu angetan, sich näher damit zu
befassen. Da aber Zahlen schnell die Phantasie mit sich fortreißen,
empfiehlt es sich, zunächst die historischen Tatsachen zu konsultieren:
wie ist diese Burg erbaut worden, und von wem?
Die Geschichte der Burg ist in ihren Anfängen eng verknüpft
mit dem Kampf, den sich die drei Söhne von Wilhelm dem
Eroberer um die Normandie lieferten – Robert Kurzhose,
Wilhelm der Rote und Heinrich Beauclerc, der Schöngeist oder
160
der Gelehrte. Später wurde er fortgesetzt, um das normannische
Vexin gegen die französischen Angriffe zu verteidigen. Zwischen
diesen beiden Aspekten entstand nun eine Wechselwirkung.
Kurzhose, der Älteste und legitimer Erbe nicht nur des Herzogtums
Normandie, sondern auch der Krone Englands, wurde vom
König von Frankreich nicht genügend unterstützt, um ihm den
Erfolg zu sichern.
Thibaud, Graf von Gisors, war keine betont katholische
Erscheinung. Er führte den Beinamen der Heide. Eine Chronik
berichtete: »Schon ziemlich groß, war er noch nicht getauft.«
Thibaud der Heide stellte sich einmal auf die Seite der Anglonormannen,
dann wieder auf die der Franzosen. Er begann
1090 mit dem Bau der ersten Befestigungen. Etwas davon ist
noch in Form eines Mauerrestes erhalten, der im Südosten den
äußeren Festungsgürtel unterbricht.
Thibaud Payen war der Sohn des Grafen Hugues de Chaumont
und der Adélaide de Payen. Die Geschichtsforscher taten sehr
unrecht daran, sich mit der Familie dieser Dame nicht eingehend
zu beschäftigen. Sie hätten dann nämlich festgestellt, daß Adélaide
die Schwester von Hugues de Payen war. So ergibt sich die bemerkenswerte
Tatsache, daß derjenige, der den Grundstein für
die Burg von Gisors legte, kein anderer war als der Neffe des
Gründers des Tempelritterordens. Der Onkel liebte diesen Neffen
zweifellos wie einen Sohn, denn aus einer Chronik erfahren wir,
daß Hugues de Payen 1128 bei seiner Anwesenheit in Frankreich
»seinen Sohn Thibaud besuchte«. Da wir nun wissen, daß der
erste Großmeister des Templerordens keine Kinder hatte, kann
der erwähnte Thibaud nur der von Gisors sein.
Die Anlage der Burg, wie sie bis heute erhalten ist, verdankt
Thibaud Payen nicht viel. Sie wurde von Robert de Bellême
ersonnen, der 1096 mit der Ausführung begann, unterstützt von
dem Baumeister Leufroy.
Von diesem Leufroy wissen wir nur wenig, was sehr bedauerlich
ist, da seine Persönlichkeit fraglos einige Überraschungen
bieten würde. Über seinen Bauherrn jedoch erfahren wir aus den
Urkunden weit mehr.
161
Robert II. de Bellême, Vicomte dExmes, Graf de Ponthieu
und Shrewsbury, war einer der mächtigsten anglonormannischen
Lehnsherren. Nach einer politischen Intrige mit den Franzosen
verbannt ihn Wilhelm der Rote jedoch aus England. Von da ab
verbündet er sich militärisch und politisch mit Robert Kurzhose,
der ihn zum Großseneschall der Normandie ernennt.
Nun kommt der erste Kreuzzug. Robert hat kein Geld, daran
teilzunehmen. Er ist daher gezwungen, es sich von Wilhelm zu
leihen, der die Normandie als Pfand fordert. So befindet sich
Bellême ganz gegen seine Überzeugung im Dienst seines alten
Gegners, der ihm bald befiehlt, in das französische Vexin einzufallen.
Bei dieser Gelegenheit beginnt der Bau der Burg von
Gisors, um einem zu erwartenden Gegenstoß zuvorzukommen.
Über die Rolle, die Robert de Bellême dabei spielte, berichtet
uns ein Zeitgenosse, der Historiker Orderic Vital, Verfasser
gründlicher Chroniken, die eine der Hauptquellen für mittelalterliche
Geschichte darstellen. »Dieser geschickte Baumeister
wählte die Stelle aus, entwarf den Plan und beaufsichtigte den
Bau«, schrieb Vital. Auf einem hoch aufgeworfenen Erdhügel
setzte Bellême die vieleckige Ringmauer des Wehrturms
und errichtete darauf den ursprünglichen Turm. Dieser war viereckig
und nach Norden gerichtet. Ein Teil seiner Grundmauer ist
heute noch neben einer Steinbank zu sehen. Er entwarf auch den
Plan für den äußeren Festungsgürtel und begann mit dessen Bau.
Überreste davon finden sich im Mauerwerk der noch vorhandenen
Umwallung, und zwar auf deren Krümmungen im Westen und
Südosten. Er scheute auch nicht davor zurück, die Kirche abzureißen,
die ihn störte und die vor zwanzig Jahren neben dem
heutigen »Tour du Prisonnier«, dem Turm des Gefangenen, erbaut
worden war. Und schließlich ließ er den »Tour du Gouverneur
«, den Turm des Gouverneurs, errichten. Wir gehen auf diese
Einzelheiten ein, um daran begreiflich zu machen, daß das Werk
von Robert de Bellême seine Nachfolger verpflichtete, eine festgelegte
Linie einzuhalten. Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als
den vorgezeichneten Weg fortzusetzen. Wir werden sehen, daß
sie es mit Klugheit und wahrscheinlich mit Vergnügen taten.
162
Was für ein Mensch war nun dieser Robert de Bellême? Eine
geheimnisumwitterte Persönlichkeit, die schon bei seinen Zeitgenossen
von Sagen umwoben war. »Sein Name war in aller
Munde«, schrieb Orderic Vital. »Die Wunder des Robert de
Bellême waren sprichwörtlich.« Und sein moderner Biograph,
der Vicomte du Motey, erklärt: »Seine wahren oder falschen
Heldentaten waren großartige Dinge, Wundertaten, von denen
man sich mit Schrecken erzählte. War er nicht eine Art Dämon?«
Die treffendste Bemerkung aber stammt fraglos von einem alten
normannischen Chronisten, der ihn »den Drachen, der vom Himmel
herabgeworfen wurde«, nennt. Er wußte wahrscheinlich, was
er sagen wollte, als er diese Metapher aus der Apokalypse, dem
dunkelsten Bibeltext, verwandte.
Eine wichtige Tatsache ist den Biographen Bellêmes entgangen.
Vielleicht weil dieser, als Alleinerbe seiner mütterlichen Familie,
den Namen seiner Mutter trug, der Dame de Bellême, Vicomtesse
dExmes. Einem Zufall verdanken wir die Entdeckung.
Im Jahre 1715 berief sich Anderson, der Organisator der
spekulativen Freimaurerei in England, auf ein in seinem Besitz
befindliches Dokument, um deren Herkunft zu beweisen. Es
handelte sich um die Liste der Großmeister, die einander an der
Spitze der Zunft der britischen Maurer seit dem Jahre 925 gefolgt
waren, in dem sie nach ihrer Behauptung ihre Gründungsurkunde
erhalten hatten. [75] Dieses weit zurückliegende Datum ist zweifellos
von den Historikern angefochten worden. Für sie ist die Freimaurerei
eine Schöpfung ex nihilo des 18. Jahrhunderts. Dennoch
steht fest, daß zumindest im 12. Jahrhundert Geheimgesellschaften
der Baumeister im anglonormannischen Gebiet existierten, da
bereits 1189 auf der Synode von Rouen gegen diese Gesellschaften
gewettert wurde, »vor denen die Heilige Kirche Abscheu empfindet
«. Das macht die Liste Andersens glaubwürdig, aus der wir
erfahren, daß die britischen Maurer 1066 als Großmeister Roger
Montgomery, Graf von Shrewsbury, wählten. Roger Montgomery
nun, ein Vorfahr »Montys«, des Siegers von El Alamein, war
kein anderer als der Vater von Robert de Bellême.
Nach dem Tod seines Bruders Wilhelm des Roten ergreift
163
Robert Kurzhose wieder die Herrschaft über die Normandie.
Aber 1106 entreißt sie ihm sein jüngerer Bruder Heinrich I., inzwischen
König von England geworden, nach der Schlacht von
Tinchebray. Im Verlauf dieser Schlacht wird Bellême, der Seneschall
von Kurzhose, gefangengenommen. Er verließ den alten
Turm des englischen Schlosses Warham nicht mehr, in dem er
zwanzig Jahre lang dahinsiechte. Sein Besieger hatte ihm nämlich
die Augen mit einem weißglühenden Schwert ausgebrannt. Sicher
waren die Bräuche der Zeit nicht sanft, doch die Marterung
Bellêmes fordert zu einem eigentümlichen Vergleich heraus: bei
den Freimaurern wird auch heute noch ein neues Mitglied dadurch
geweiht, daß man ihm mit Hilfe eines flammenden Schwertes
»das Licht gibt«. Beging nun Heinrich I., den man auch den
»Rächer« nannte, dadurch, daß er Bellême auf dieselbe Weise das
Licht nahm, eine willkürliche Grausamkeit, oder vollzog er ein
Ritual der Ausschließung? Man wird nie erfahren, welches Geheimnis
der Erbauer von Gisors vielleicht verraten hat, doch die
seltsame Folter von Warham spricht eine dem Henker und
seinem Opfer gemeinsame Sprache.
Nach der Gefangennahme Bellêmes setzt nun Heinrich I. den
Bau des Schlosses von Gisors fort. »Er macht es uneinnehmbar«,
berichtet abermals Orderic Vital, »indem er es mit Mauern und
hohen Türmen umgibt.« Und wirklich vollendet er die Ringmauer
des Wehrturms und den äußeren Festungsgürtel vom
»Tour du Gouverneur« bis zur »Porte des Champs«. Die letztere
ist sein Werk ebenso wie der viereckige Turm, der sie flankiert,
und der sogenannte »Tour du Corps de Garde«. Man ist außerdem
der Ansicht, daß er auf dem Platz des heutigen »Tour du
Prisonnier« den ursprünglichen Turm erbaute, der »Tour Ferrée«,
Eiserner Turm, genannt wurde.
Die Geisteshaltung Heinrichs zeigt sich von Jugend auf. Zwischen
zwölf und vierzehn Jahren führt er das Dasein eines fahrenden
Ritters an den Grenzen Schottlands, in der Bretagne und
im Vexin. Unmittelbar nach diesen Lehr- und Wanderjahren erwirbt
er seinen Beinamen »Beau Clerc«, der meist mit »der Gelehrte
« übersetzt wird. Tatsächlich hatte er alte Sprachen stu164
diert – bei den großen Herren jener Zeit etwas äußerst Seltenes –,
war Fachmann in Rechtskunde und sehr versiert in den Naturwissenschaften.
In Woodstock in England hatte er die erste
Menagerie mit exotischen Tieren geschaffen, die von seinen Untertanen
sehr bewundert wurde. Schließlich griff er bei Gelegenheit
zur Feder. Er gebrauchte dabei die Sprache Äsops, und einige seiner
sibyllinischen Fabeln sind erhalten geblieben.
Im Jahre 1119 findet in der Burg von Gisors eine Begegnung
zwischen Heinrich und Papst Calixt II. statt, deren Umstände
und Verlauf anschaulich in den Chroniken wiedergegeben werden:
»Der große König und der große Pontifex befinden sich im Innern
des Wehrturms. Der König stellte dem Papst zwei junge Herren
vor, die den Kardinalen Thesen in einer so machtvollen Dialektik,
Schlußfolgerungen in so kunstreichen Wendungen vortrugen,
daß jene sie nur mit Mühe verstanden.« Und der Verfasser dieses
Berichtes fügt hinzu: »Diese Barbaren (es handelt sich um die
Normannen) hatten sich zur rechten Stunde den Wissenschaften
und Künsten einer Gesellschaft geweiht, die aus ihren Ruinen
wieder aufzusteigen begann.« Die intellektuellen Turniere mit
dem Heiligen Vater und seinen Prälaten, die anscheinend unterlegen
waren, dürften nicht ohne hitzige Debatte abgegangen sein,
denn Heinrich war »durch und durch skeptisch in religiösen Fragen
«. [76] Deshalb machten sie auch bald politischen Gesprächen
Platz.
Diese hatten ein ganz präzises Thema: der Papst war Gisors
wegen erschienen. Einige Monate zuvor hatte der König von
Frankreich, Ludwig VI. der Dicke, Heinrich gegenüber seine Ansprüche
auf die Burg geltend gemacht. Die beiden Herrscher
trafen sich nun bei Neaufles auf einer Brücke, die man »die Brücke,
die zittert« nannte. Doch bald darauf entbrannte der Krieg, und
Ludwig VI. behielt keineswegs die Oberhand. In Brenneville geschlagen,
[77] wäre er beinahe von einem englischen Bogenschützen
gefangengenommen worden. Papst Calixt, ein Verwandter
Ludwigs VI., war nun als Vermittler gekommen. Aber die Burg
von Gisors war ein Zankapfel, um den sich die Könige noch lange
streiten sollten.
165
Auf der Rückkehr von dieser Zusammenkunft ereignete sich die
Katastrophe, welche die letzten Jahre Heinrichs verdüsterte. Man
begab sich nach England zurück, der König an der Spitze. Ihm
folgte eines seiner Schiffe, die »Blanche Nef«, dem er seinen einzigen
Sohn, seine Geliebte und sein Geld anvertraut hatte. Doch
dieses Schiff, dessen bloßer Name jeden Alchimisten entzückt
hätte, kenterte und ging unter. Es gab keinen einzigen Überlebenden.
»Von Stund an sah man den König nie mehr lächeln.«
1135 wurde Heinrich auf der Jagd in einem Wald bei Gisors
von einem verirrten Pfeil getötet. Auf dieselbe Weise waren bereits
seine beiden Brüder Wilhelm und Robert umgekommen.
Den Söhnen Wilhelms des Eroberers war die Jagd nicht nur ein
Sport, sie war ihnen heilig. Man nannte sie »Hüter der Wälder«
und »Hirten der wilden Tiere«. Sie gingen so weit, Kirchen abtragen
und die Pfarrkinder umsiedeln zu lassen, um so für das
von Hirschen und Bluthunden geliebte Dickicht Platz zu schaffen.
Ihr tragisches, geheimnisvolles Ende, das von Sagen umsponnen
wird, galt dem Klerus, den sie, wie es heißt, mit Spott überhäuften,
als Strafe des Himmels.
Sein Beiname wirft ein besonderes Licht auf die Person des
Königs, der in Gisors das unvollendete Werk Bellêmes fortsetzte.
Die Sprache der Zeit war genau, und wenn ein »Clerc« ein Gelehrter
ist, so ist ein »Beau Clerc« ein Gelehrter besonderer Art;
denn in jener Epoche bedeutet »entendre bellement« den verborgenen
Sinn verstehen. So ist die einzig exakte Übersetzung von
Beau Clerc »der Eingeweihte«. Es wäre sicher gewagt, Heinrich I.
diese Eigenschaft nur im Hinblick auf seinen Beinamen beizulegen.
Aber wir erfahren wiederum durch die Liste von Anderson, daß
die britischen Maurer nio Heinrich Beau Clerc als Großmeister
wählten, unter dessen Regierung – wir wissen es aus anderer
Quelle – sich tatsächlich die ersten Handwerkergilden organisierten,
die sogenannten craftguilds.
Nach Heinrichs Tod trägt Stephan von Blois einige Jahre die
Krone Englands. 1154 fällt sie dann an Heinrich II. Plantagenet,
der die Dynastie der angiovinischen Könige begründet. Durch
seine Mutter Mathilde ist er der Enkel von Heinrich Beau Clerc
166
und Sohn des Grafen Gottfried von Anjou. Er erschien wie ein
Adler, der seine Flügel zugleich über England und Frankreich ausbreitete,
wie es einst der Zauberer Merlin geweissagt hatte. Sein
Erbe umfaßte Maine, Anjou, die Touraine und die Normandie.
Hinzu kam bald der gesamte Südosten Frankreichs durch seine
Heirat mit Eleonore von Aquitanien. An der Spitze eines so gewaltigen
Königreiches hätte Heinrich II. sehr wohl freiwillig auf
die Burg von Gisors verzichten können, die 1144 an König Ludwig
VII. von Frankreich abgetreten worden war. Doch eine Chronik
berichtet, daß er für diese Burg »eine ganz besondere Zuneigung
« hatte. Und um sich ihrer zu bemächtigen, ging er äußerst
geschickt vor.
Mit allerlei List bewog er Ludwig VII., die Hand seiner Tochter
Margarete seinem Sohn Heinrich dem Jungen zu versprechen.
Das zeugte von Humor bei Plantagenet. Ludwig VII. war nämlich
vor ihm mit der schönen Eleonore verheiratet gewesen, die
ihn ausgiebig betrog, sicher auch mit Heinrich selber. Außerdem
waren die Verlobten drei und fünf Jahre alt. Der Schwiegervater
in spe forderte zur Besiegelung dieses Bundes, seine künftige
Schwiegertochter solle am Hochzeitstag Gisors als Mitgift in die
Ehe bringen. Ludwig VII. war der Meinung, bis dahin sei noch
viel Zeit, und willigte ein. Mit der Führung der Verhandlung
beauftragt, war der Erzbischof von Canterbury, Thomas Becket,
eigens nach Paris gekommen, wo er im Temple beherbergt
wurde. [78] Man kam überein, die Burg solle während der
Wartezeit neutral bleiben und deshalb in zuverlässige Hände
übergeben werden – die der Templer. Im November 1158 nun
zogen die Tempelritter Othon de Saint-Omer, Richard of Hastings
und Robert de Pirou in Gisors ein. Drei Jahre später jedoch ließ
der hinterlistige Plantagenet plötzlich die Hochzeit der Kinder
feiern und sich die Mitgift sofort von den gefälligen Templern
ausfolgen. Ludwig VII. war wieder einmal der Geprellte. Es war
eine Staatsaffäre. Die meisten Geschichtsschreiber von Gisors verlassen
sich auf die alten Chroniken und berichten, der König von
Frankreich habe aus Wut über diesen vermeintlichen Verrat die
Templer später aufknüpfen und dann ihre abgeschlagenen Köpfe
167
an dem Tor in der Ringmauer des Wehrturms aufhängen lassen.
In Gisors wird noch heute das »Haus der Gehenkten« gezeigt.
Wenn aber die Templer gehenkt wurden, so konnte das nur in
effigie geschehen sein, da man aus zuverlässigen Urkunden weiß,
daß sie ins Heilige Land zogen, wo sie bei Hattin an der Seite Guy
de Lusignans wieder auftauchten.
Die als Wächter von Gisors bestellten Templer waren keine
geringen Herren. Othon de Saint-Omer, Bruder eines der neun
Gründer des Ordens, und Richard of Hastings waren die beiden
wichtigsten Ratgeber Plantagenets und wurden nacheinander
Großmeister des Ordens in England. Es ist erstaunlich, welch
großes Risiko Heinrich II. einging und welche Mittel er anwandte,
um Gisors in die Hand zu bekommen. Die Haltung der
Templer aber ist noch erstaunlicher, denn der Orden, der völlig
im Heiligen Land gebunden war, konnte mit der Burg nichts
anfangen, zumindest vom militärischen Standpunkt aus. Aber
nochmals erlaubt vielleicht die Chronologie Andersons, die geheimen
Triebkräfte dieses Unternehmens zu mutmaßen. Der
Urkunde zufolge findet sich nämlich 1155 an der Spitze der
britischen Maurer der Großmeister des Templerordens, Bertrand
de Blanquefort, der, aus Aquitanien stammend, durch Eleonore
englischer Untertan geworden war.
Sobald er Herr von Gisors ist, geht Heinrich II. daran, dessen
Bau fertigzustellen. Die äußere Ringmauer ist unvollendet. Er
schließt sie im Nordosten und Südosten, schmückt sie im Norden
mit dem Eisturm (Tour Frileuse) und flankiert sie im Westen mit
drei vorspringenden Türmen. Ebenso baut er das Achteck des
Wehrturms und versieht ihn mit Strebemauern (Tafel IV
unten). Es besteht kein Zweifel daran, daß die Templer maßgeblich
an diesen Arbeiten beteiligt waren, die von 1177 bis 1184 dauern
und über die wir genau unterrichtet sind durch die Rechnungsberichte
des Schatzkämmerers für die Normandie. Darin wird
angeführt, daß sie 2650 Livres kosteten – über 500 Millionen
heutige Francs. Das ist viel, war aber nicht zuviel, da Heinrich
jetzt Gisors als Wohnsitz wählte. Es ist die Zeit seines Zwistes
mit Thomas Becket. Der lästige Erzbischof von Canterbury for168
dert zuviel für den Klerus und wird in seiner eigenen Kathedrale,
zu Füßen des Hauptaltars, erdolcht. Er wurde als Märtyrer heiliggesprochen.
Heinrich jedoch, der geistige Urheber dieses Mordes,
der Skandal auslöste, mußte den Bußfertigen spielen. Er ließ
auf dem Hügel des Wehrturms von Gisors eine Sühnekapelle
errichten. Einige Spuren sind noch erhalten als Andenken an
den Mann, der »die Ehre Gottes« gegen einen Fürsten verteidigte,
von dem Sankt Bernhard sagte: »Er kommt vom Teufel.
Nun, so möge er auch dorthin zurückkehren!«
Das war mehr als eine Anspielung, es war ein Hinweis. Tatsächlich
bildete die Familie Plantagenet das Thema einer Sage,
über die ebenso wie über andere ein paar Worte zu sagen sind,
da sie bestimmte Neigungen Heinrichs und seiner Frau in neuem
Licht zeigen.
Alle alten englischen Chronisten erzählen, daß Gottfried von
Anjou [79], der Vorfahr Heinrichs, sich unbedingt verheiraten
wollte und überall in seiner Provinz nach einer Frau suchen ließ,
deren Schönheit seinen Wünschen entsprach. Man fand sie, er
heiratete die Unbekannte bald darauf, und sie schenkte ihm
drei Kinder. Doch das Verhalten der Gräfin war seltsam. Nur
gezwungen setzte sie den Fuß in eine Kirche, und wenn sie zur
Messe geführt wurde, war sie bestrebt, vor der Wandlung
wieder herauszukommen. Eines Tages wollte ihr Mann sie am
Mantel zurückhalten, doch der blieb ihm zwischen den Händen.
Sie ließ ihre beiden Kinder, die sie unter den Falten ihres Gewandes
wärmte, und das dritte, das sie schützend an die Brust
drückte, im Stich und flog zur Verblüffung der Anwesenden durch
ein Glasfenster auf und davon. Sie wurde niemals wieder gesehen.
Manche Erzähler machen Heinrich selber zum Gemahl der
Teufelin. Zur Erklärung dafür stehen mehrere Gründe zur Auswahl.
Zunächst war Eleonore von Aquitanien eine sehr große Dame
von sehr kleiner Tugend. Mit vierzehn Jahren wurde sie die
Gemahlin Ludwigs VII. Der religiöse Eifer ihres Gatten sowie
seine Verachtung für die Freuden dieser Welt flößten ihr sichtlich
169
nur sehr wenig Bewunderung ein. Es bestand ein großer Unterschied
zur Lebensauffassung ihrer Familie. Der wilde Großvater
Eleonores, Guillaume de Poitiers, ein Krieger und Troubadour,
hatte in seiner Stadt Niort ein Freudenhaus eröffnen und die
Insassinnen in Ordensgewänder kleiden lassen. Die junge Königin
war so schön und machte vor allem so ausgiebig Gebrauch
davon, daß Ludwig VII. gut daran tat, sie auf den Kreuzzug
mitzunehmen. Diese Neuerung brachte ihm jedoch kein Glück.
In Antiochia fällt die Dame in die Arme ihres alten Onkels
Abbildung 8: Plan der Burg von Gisors.
1 Eiserner Turm oder Turm des Gefangenen. — 2 Porte de Bleu (Tor des
Rekruten). — 3 Tour Frileuse (Eisturm). — 4 Rechteckiger Turm. —
5 Teufelsturm. — 6 Porte des Champs (Tor zu den Feldern). — 7 Weißer
Turm. — 8 Wächterturm. — 9 Turm des Gouverneurs. — 10 Wehrturm. —
11 Thomas-Becket-Kapelle. — 12 Wachtturm. — 13 Brunnen. — 14 Eingangspforte
zum Vorhof des Wehrturms. — 15 Erste Stufe der ehemaligen
Treppe. — 16 und 17 Eingänge zu den unterirdischen Stollen
170
Geoffroy de Poitiers. In der nächsten Etappe schickt sie durch
Brieftauben Liebesbriefe an Nureddin, den Onkel des Feindes
Saladin. Bald darauf kommt die Katastrophe. Eines schönen
Morgens wird der König geweckt. Seine Frau hat eine Galeere
bestiegen, um den Sultan zu treffen. Eile ist geboten, das Schiff
lichtet schon den Anker. Man erreicht sie noch, doch sie erklärt
ihrem Gatten ohne Umschweife: »Daß Ihrs nur wißt, wirklich
halten werdet Ihr mich niemals!« Es stimmt, Eleonore ist nicht
zu halten. Eines Tages bietet sie ihr Hemd dem Ritter, der sich
nicht fürchtet, im Turnier ohne jede andere Waffe zu kämpfen.
Ein gewisser Saldebreuil nimmt törichterweise an. Er kommt
natürlich um, und am selben Abend erscheint die Königin nur
mit dem blutigen Hemd bekleidet auf dem Ball. Nun hat Ludwig
VII. eine Idee. Er ruft seine sämtlichen Barone zusammen,
um sie zu fragen, was er tun soll. »Auf Ehre, der beste Rat, den
wir Euch wüßten, ist, sie gehen zu lassen«, antworten diese. Sie
haben Mühe, ernst zu bleiben, denn eines Tages hat sich die
Königin vor ihnen, wie ein Troubadour berichtet, entkleidet und
dabei gesagt:
Ihr Herrn, ist zum Entzücken nicht mein Leib?
Der König sagt, ich sei ein Teufelsweib.
Und auch hier war Teufel das richtige Wort. Eleonore
stammte nämlich in gerader Linie von dem Grafen Hursio von
Toulouse ab, der, so erzählte man, eine Fee zur Frau genommen
hatte. Er traf sie auf der Jagd an einer Quelle. Die Gräfin war
eines Tages verschwunden, da Hursio sein Versprechen bradi
und ihr Zimmer ohne anzuklopfen betrat. Man sieht, Eleonore
war erblich belastet, als sie dem bedauernswerten Ludwig VII.
unter den Händen entglitt.
Sicher ist die Sage von der Heirat mit einer teuflischen Fee
keineswegs neuartig. Man findet sie in dieser oder ähnlicher
Form bei anderen Adelsfamilien jener Zeit. König Elinas hatte
die Fee Pressine geheiratet, sie auf dieselbe Weise verloren, und
aus dieser Verbindung war das Haus der Lusignan hervorgegangen.
Der Urgroßvater Gottfrieds von Bouillon, Lothar, wie171
derum hatte aus seiner Ehe mit einer Fee Kinder, die sich nach
Belieben in Schwäne verwandeln konnten.
Eigenartigerweise legten die aus solchen sonderbaren Verbindungen
hervorgegangenen Familien bemerkenswerten Eifer an
den Tag, sich untereinander zu verschwägern durch Ehen, die
wiederum völlig historisch sind. Die Enkelin Gottfrieds von
Bouillon, Mélisande, heiratete den Grafen Fulko von Anjou,
einen Nachkömmling der Fee, die aus der Messe floh. Ihre
Enkelin Sibylle ehelichte Guy de Lusignan, seinerseits ein Nachkomme
der Fee Pressine. So – und dahin wollten wir kommen –
schloß die Heirat zwischen Heinrich und Eleonore die Lücke in
einer Reihe von dynastischen Verbindungen zwischen Familien,
von denen die Legenden mit den Tatsachen übereinstimmend
erzählen, daß es ihrer religiösen Tradition entschieden an Orthodoxie
fehlte, deren Ruf der Zauberei jedoch fest gegründet war.
Aus einer alten Liebschaft entstanden, wurde diese Ehe ebenso
aus politischem Interesse wie aus Liebe geschlossen. Doch Heinrich
war zehn Jahre jünger als seine Frau, die bald furchtbare
Eifersuchtsqualen litt, wobei sie als echte Evastochter beachtlichen
Mangel an Gedächtnis und Logik bewies. Heinrich hatte nun
auf eine junge, bezaubernde Engländerin, Rosamond Clifford, ein
Auge geworfen. Er kannte die Unbeständigkeit der Frauen, die
er sich lange genug zunutze gemacht hatte, und war sich klar
darüber, daß er nicht jünger wurde. Deshalb bemühte er sich,
dem Schicksal zu entgehen, das er einst dem guten Ludwig VII.
bereitet hatte. Die Erinnerung an seine eifrigen Studien gab ihm
nun einen Gedanken ein, der zwar nicht neu, aber auch keineswegs
gewöhnlich war.
In Oxfordshire, in Woodstock – jener Stadt, die an der Stelle
des einstigen Hexenwaldes erbaut war und wo Heinrich Beau
Clerc seine berühmte Menagerie hatte – stand eine sehr alte
Burg. Er machte sie zum Wohnsitz von Rosamond. Um sie
vor Begehrlichkeit sowie vor Versuchungen zu schützen, richtete
er ihr Zimmer am äußersten Ende eines Labyrinthes ein, das
er genau nach dem Vorbild der ägyptischen bauen ließ. Er
allein kannte das Geheimnis.
172
Eleonore erfuhr von der ganzen Geschichte und rächte sich,
laut Roger of Hoveden, folgendermaßen. Dank ihres getreuen
Bogenschützen Mercadier, der nach Gunstbezeigungen seufzte,
mit denen sie verschwenderisch umging, gelang es ihr, sich das
Labyrinth entschlüsseln zu lassen, und zwar von einem der
Maurer, die daran gebaut hatten. Sie begab sich auf die Suche
nach ihrer Rivalin.
»Im ersten Gang zählte sie acht Türen, ohne stehenzubleiben,
stieß die neunte auf, folgte einem neuen Weg, an dem sich
gerade und schräge Gänge befanden, schlug den dritten ein und
wandte sich nach rechts. Nach fünfundzwanzig Schritten entdeckte
sie eine Falltür im Boden, hob sie hoch, stieg sechs Stufen
herab und befand sich plötzlich in einem dunklen Keller. Sie
wußte, daß sie drei Armeslängen an der rechten Innenwand
entlanggehen mußte. So konnte sie sechs weitere Stufen finden,
die ihr erlaubten, wieder ans Tageslicht zu steigen, und die letzte
Tür zur Linken führte in das Zimmer von Rosamond.« Das
Ende der Erzählung ist des Anfangs würdig. Eleonore zückt
einen Dolch und stößt ihn in die hübsche Brust ihrer Rivalin.
In anderen Versionen der Legende ist es einmal ein seidener
Faden, dann wieder ein langes Haar von Rosamond, die Eleonore
durch das Labyrinth führen.
Man kann darüber lächeln, sollte jedoch vor allem zu begreifen
suchen. Die ganze Geschichte gibt bis in die Einzelheiten den uralten
Einweihungsmythos wieder. Lediglich die Namen der Helden
haben sich geändert, nicht aber ihre Rollen. König Heinrich II.
Plantagenet tritt an die Stelle des Königs und Richters Minos, der
das Labyrinth von Kreta erbauen ließ, Eleonore an die des Theseus
und Rosamond bald an die der Ariadne, bald an die des
furchtbaren Minotauros. Mercadier schließlich erhält sogar die
Rolle und den Namen Merkurs zugleich, der in Gestalt des Hermes
Psychopompos den Eingeweihten bis zum geheimen Sanktuar
führte. Die Erzähler konnten keine bessere Fabel ersinnen, um
uns zu sagen, daß der König von England und seine Frau Okkultisten
höheren Grades waren.
Höchst beachtlich ist, wie die Legende sich hier so sehr den
173
historischen Tatsachen annähert, daß sie in den meisten Punkten
mit ihnen zu verschmelzen scheint. Nicht nur, daß alle Helden,
Mercadier Inbegriffen, existiert haben, sondern auch die Orte, an
denen Hoveden seine Erzählung spielen läßt, sind für die verschiedene
Begebenheiten besonders geeignet.
Die Burg von Woodstock ist wirklich ein rundes Schloß, das
von den Dänen erbaut wurde. Die Römer haben ihm einen doppelten
Festungsgürtel gegeben, und es liegt an einer Römerstraße.
Im 9. Jahrhundert wurde es die Residenz von König Aethelstan.
Die Zunft der Maurer rühmte sich, von ihm ihre erste Urkunde
erhalten zu haben. Dann wurde Woodstock den Templern geschenkt.
Unter Heinrich II. Plantagenet war es der Wohnsitz des
Großmeisters in England, eben jenes Othon de Saint-Omer, der
später Hüter der Burg von Gisors wurde. Und wenn Heinrich
nicht genau das Labyrinth der Sage nachbauen ließ, so schuf er
doch ein weitgespanntes Netz von unterirdischen Gängen, wie er
es gleichzeitig in Gisors tat. Was von diesem Netz geblieben ist,
läßt sich nicht mehr sagen, da Marlborough bei seinem Aufbruch
in den Krieg 1723 die alte Burg von Woodstock zerstörte. Man
sieht aber heute noch den alten Brunnen, der mit einem Eisengitter
bedeckt ist. Er heißt Brunnen der Rosamond. Es ist nämlich
erwiesen, daß die geheimnisvolle Geliebte Heinrichs–man nannte
sie »fair Rosamond«, im Englischen ein Wortspiel, das zugleich
die Schöne und die Fee (in Anlehnung an »fairy«) bedeutet – sehr
wohl in der Burg von Woodstock wohnte, wo sie 1177, wahrscheinlich
auf Anweisung Eleonores [80], vergiftet wurde.
Heinrich ließ sie in Godstow vor dem Hauptaltar der Kirche
beisetzen und folgende Grabinschrift einmeißeln:
Hier ruht in der Erde
Nicht eine reine Rose, sondern die Rose der Welt.
Sie duftet nicht, doch sie verrät,
Was zu duften pflegt. [81]
Der Bischof von Lincoln entrüstete sich über den unverständlichen
Kult, den die Nonnen von Godstow mit »dieser Dirne«
trieben. Er ließ später das Grab verlegen und die Inschrift löschen.
174
Ich erinnere mich des Tages, an dem ich Woodstock entdeckte.
An einem klaren Frühlingstag trieben die Wolken am Himmel
Englands wie Federn dahin. Worin war Eleonore verletzt worden?
Zutiefst in ihrer Weiblichkeit oder in ihrem geheimsten
Wissen? Und wem hatte die Liebe Heinrichs II. Plantagenet gegolten?
Rosamond Clifford, der Tochter von Lord Walter Fitz-
Ponce, die ihm den Bastard Wilhelm Langschwert schenkte? Oder
vielmehr der symbolischen Rose, der Blume mit den fünf spitzen
Blättern an dem alten Wappen, der Rosette der Kathedralen,
dem Emblem der Rosenkreuzer, der Blume, der Dante die Gestalt
des Templerordens verleiht, wenn er schreibt:
Ins gelbe Zentrum jener ewgen Rose,
die sich ausdehnt und abstuft und zur Sonne
des steten Lenzes Lobesdüfte sendet,
geleitete Beatrix mich, der schwieg
und reden wollte, doch sie sagte: Schau,
wie groß die Schar der Weißen Mäntel ist.
Die Frage war durchaus nicht unbegründet. Eleonore hatte als
Emblem den Vogel der Alchimisten gewählt, den Pfau. Auf ihrem
Siegel, das in der Abtei de la Sauve aufbewahrt wird, sieht man
sie, in der rechten Hand eine Rose haltend und in der linken einen
Pfau, der auf einem Kreuz sitzt. Sie veranstaltete Pfauenfeste, auf
denen man den Vogel feierlich verzehrte, nachdem man ihm den
Eid geleistet hatte, genauso wie es der Sage nach am Hof König
Artus geschah. Das Emblem Heinrichs war der Leopard, den er
den Wappen von England und der Normandie vermachte. Der
Leopard hieß einst »Panthee«, woraus später Panther wurde, da
er den Gott Pan, das Große All, den Kosmos symbolisierte. Auf
den Monumenten des alten Orients werden die Flecken seines
Felles übrigens durch Sterne dargestellt. [82] Und die ägyptischen
Priester hüllten sich für den Gottesdienst in ein Pantherfell. »Daß
Heinrich II. den Leopard wählte, geschah sehr wahrscheinlich
aus Widerspruch gegen die Kirche.« [83]
In der Abtei von Fontevrault in der Touraine sind heute noch
die Grabstätten Heinrichs und Eleonores zu sehen. Auf den Hän175
den Heinrichs – »er trug nie Handschuhe, es sei denn zur Falkenjagd
« – erkennt man zwei Rosen. Audi Wilhelm der Rote und
Heinrich Beau Giere führten sie auf ihrem großen königlichen
Siegel. [84]
DIE LIEBHABER DER KÖNIGIN BLANKA
Ad lapidem currebat olim regina
Die Templer erschienen in Gisors nur auf der Bühne während der
drei kurzen Jahre, in denen ihnen die Obhut über die Burg anvertraut
worden war. Vermutlich hat aus diesem Grund kein
Historiker bemerkt, daß dunkle Tatsachen ihr Geschick bis zum
Ende mit dem der Festung verbanden, deren Bau Thibaud Payen,
ein Neffe ihres Gründers, begonnen hatte.
Bekanntlich basierte der ganze Prozeß auf den Denunziationen
von Esquieu de Floyran und seinem Helfershelfer Bernard Pelet.
Die beiden Templer gaben an, dem König einige Geheimnisse des
Ordens zu verraten. Nun wurde diese Intrige in Gisors gesponnen.
Bei seinem Widerruf erklärte der Templer Ponsard de Gizy:
»Dies sind die Verräter, die Falschheit und Treulosigkeit gegen
die vom Templerorden angeraten haben: der Mönch Guillaume
Robert, der sie der Folter aussetzte, Esquieu de Floyran aus
Béziers, Prior von Montfaucon, Bernard Pelet, Prior von Mas
dAgenais und Géraud de Boysol, Ritter des Königs, die alle nach
Gisors gekommen sind.« [85]
Man erinnert sich an den ungewöhnlichen Gegenstand, der am
Morgen der großen Razzia im Temple von Paris gefunden wurde
und den die Ankläger für den geheimnisvollen Baphomet hielten:
ein goldener Frauenkopf, der den Schädel eines kleinen Mädchens
enthielt und das seltsame Etikett trug »CAPUT LVIII m«. Dieser
Kopf wurde nach der Auffindung einer Person namens Guillaume
de Gisors anvertraut. [86]
176
Das ist noch nicht alles. Die große Razzia fand am 13. Oktober
1307 statt, die Untersuchung jedoch begann erst am 12. November
1308. Am 29. November 1308 übermittelte Philipp der Schöne
dem Friedensrichter von Gisors den schriftlichen Befehl, die dortigen
Templer zu verhaften. [87] Warum waren diese bis jetzt
als einzige in Freiheit geblieben? Und welche Tatbestände förderte
die Untersuchung zutage, daß man sofort nach deren Beginn sich
der Templer bemächtigte?
Man fragte sich nun, in welchem Gefängnis die Würdenträger
des Ordens – Molay, Pairaud, Charnay und Gonneville – nach
ihrer Einkerkerung in Chinon geschmachtet hatten. Ein allerdings
wenig bekannter Geschichtsforscher des vergangenen Jahrhunderts,
J. Depoin, hat bereits die Antwort darauf gegeben: »Jacques
de Molay wurde in Gisors eingesperrt, bevor der letzte
Großmeister der Templer 1314 den Weg auf den Scheiterhaufen
antrat.« [88]
Nachdem sich der Vorhang über den letzten Akt der Tragödie
gesenkt hat, findet man wiederum in Gisors die Spur einer merkwürdigen
Persönlichkeit, die vielleicht die verborgenen Hintergründe
kannte. Es war der Templer Simon de Macy. Im Gegensatz
zu allen anderen war er niemals der Gerichtsbarkeit überantwortet
worden, da sich der König von Anfang an seinen Fall
vorbehalten hatte. Auf schriftliche Anweisung Philipps des Schönen
wurde er nach Gisors gebracht und im Turm eingesperrt, »am
Pfingstsonnabend im Jahre des Heils MILCCC und vierzehn«.
Der König warnte den Vogt von Gisors, er hafte mit seinem Leben
für die Bewachung dieses Gefangenen, mit dem niemand sprechen
durfte. [89] Derart ausgedehnte Vorsichtsmaßnahmen wirken
einigermaßen überraschend, da der Templerorden gerade außer
Gefecht gesetzt worden war. Bewahrte Simon de Macy irgendein
Geheimnis, das der König, falls er es ihm entrissen hätte, keinesfalls
mit den kirchlichen Untersuchungsrichtern teilen wollte? Die
Behandlung dieses Gefangenen legt solche Gedanken nahe.
Zu Anfang dieses Buches haben wir die Sage erwähnt, auf
die hin Roger Lhomoy gegen jeden gesunden Menschenverstand
177
sein außergewöhnliches Werk begann. Königin Blanka wird
belagert, erscheint und verschwindet nach Belieben dank der
angeblichen unterirdischen Verbindung zwischen den Burgen von
Gisors und Neaufles. In diesen unterirdischen Gängen soll ein
Schatz verborgen sein. Er wird von Eisengittern geschützt, die
sich nur am 24. Dezember um Mitternacht öffnen. Zu dieser Sage
kommt noch eine andere. Königin Blanka hatte einen Liebhaber,
den Ritter Poulain. Aus dieser Liebe entsproß eine Tochter, die
nicht am Leben blieb. Der König erfuhr von seinem Mißgeschick
und ließ seinen Rivalen in den Turm der Burg von Gisors
werfen, der seitdem »Turm des Gefangenen« hieß. Poulain
wurde bei einem Fluchtversuch verwundet und starb in den
Armen seiner Geliebten. Sie begrub ihn in dem berühmten unterirdischen
Gewölbe neben ihrer beider Tochter.
Es gab eine Königin Blanka, nämlich Blanka von Navarra,
die ihr Onkel König Philipp VI. von Valois nach Frankreich
kommen ließ, um sie seinem Sohn, dem zukünftigen Johann II.,
dem Guten, zur Frau zu geben. Aber als der Onkel, ein Witwer,
der mit einer hinkenden, zänkischen Frau verheiratet gewesen
war, seine unvergleichlich schöne, achtzehnjährige Nichte sah,
zog er es vor, sie für sich zu behalten. 1349 wurde Blanka
Königin von Frankreich und im nächsten Jahr Witwe. 1359
erhielt sie Gisors und Neaufles als Witwensitz. Sie zog sich
dorthin zurück und starb 1398 im Alter von Sechsundsechzig
Jahren (Tafel II).
Blanka war allerdings eine vorbildliche Witwe. Sie lehnte
die Hand König Alfons XI. von Kastilien mit der stolzen Antwort
ab: »Die Königinnen von Frankreich verheiraten sich nicht
wieder.« In ihrem Verhalten kann man nun keinesfalls den
Grund dafür suchen, daß die Überlieferung ihr geheime Liebschaften
zuschreibt.
Sie hatte sie dennoch, aber von ganz anderer Art, nach ihrem
Testament zu urteilen. Es wurde in Neaufles abgefaßt, in den
Archiven der Basses-Pyrénées aufbewahrt und 1885 von dem
Historiker Leopold Delisle veröffentlicht, der außerdem die
Testamente der Alchimisten Arnold von Villanova und Rai178
mundus Lullus herausgab. Das Testament der Königin Blanka
enthält drei wenig alltägliche Legate.
Den Karmeliterinnen von Paris vermachte Blanka »einen Teil
von einem der Nägel, die den Erlöser durchbohrten«. Diese
Reliquie war in eine Statuette gefaßt, die »Christus darstellte,
der den Nagel in der Hand hält« [90]. Ihrer Tochter [91] vermachte
die Königin »Das Buch von Barlaam, Joasaph und vielen
anderen Dingen aus den Wappen Frankreichs und Burgunds«
und ihrem Schloßkaplan Nicole de Rueil »einen Krug aus
Kristall, darin eine Lilie steht und die Milch Unserer Lieben
Frau ist« (Tafel X links).
Das Buch von Barlaam und Joasaph ist eine Erzählung aus
dem 14. Jahrhundert in provenzalischer Sprache. Die Idee wird
allgemein den Katharern zugeschrieben. Der südfranzösische Eremit
Barlaam bringt dem Joasaph, Prinz von Indien, »den kostbaren
Stein, den kein Mensch sehen kann, wenn er nicht das
wahre Gesicht hat, und der seinem Besitzer alle Güter gibt«.
Die Herkunft dieses Werkes verdient angedeutet zu werden.
Die Literaturhistoriker waren es müde, vergebens nach den Quellen
zu suchen und vermuteten, daß der anonyme Verfasser seine
Inspiration aus einem griechischen Roman der alexandrinischen
Epoche bezogen hatte. Nun haben kürzlich sowjetische Archäologen
in Turkestan mehrere Seiten des Originaltextes aufgefunden
in der zumindest unerwarteten Form eines Manuskriptes aus
dem 8. Jahrhundert in uigurischer Sprache. Diese Entdeckung
wirft mehr Probleme auf, als sie löst...
Das kostbare Gefäß zeigten die Erben höchstwahrscheinlich
niemals bei öffentlichen Prozessionen.
Im bilderreichen Vokabular der Hermetiker bedeutete die
»Milch der Jungfrau« das bei der Herstellung des Steins der
Weisen unerläßliche quecksilberhaltige Wasser. Ein Zeitgenosse
der Königin Blanka, der Alchimist Basilius Valentinus, gibt folgendes
Rezept: »Wenn der Stein fertig und mit der wahren
Milch der Jungfrau präpariert ist, nimm einen Teil davon und
mache ausgezeichnetes und sehr reines Gold.« [92]
Durch die Mitteilung, daß eine auf Alchimie versessene Köni179
gin in Gisors die Nachfolge der letzten Templer antrat, bestätigt
die Geschichte nur, was die Sagen in verschleierten Worten berichten.
Was weiß sie uns nun über den Gefangenen zu sagen,
den die Königin mit ihrer Gunst ausgezeichnet haben soll?
Sie schweigt wohlgemerkt über den romanhaften Ritter Poulain,
dessen Abenteuer als Allegorie erfunden wurde.
Dafür gibt sie uns einen Hinweis darauf, welches wohl Ursprung
und Sinn dieser Sage sein könnten. Ein Forscher des vergangenen
Jahrhunderts entdeckte, daß ein Wolfgang de Polham
– er war der Vertraute der Maria von Burgund, der Tochter
Karls des Kühnen – von Ludwig XI. 1479 in der Schlacht von
Guinegate gefangengenommen und in den Turm von Gisors
geworfen wurde, aus dem er erst nach dem Tod des Königs, vier
Jahre später, wieder herauskam. [93] Von diesem Polham ist
noch etwas anderes bekann: er war Mitglied des Ritterordens,
der 1429 von Herzog Philipp dem Guten von Burgund gestiftet
wurde. Dieser Orden, der, seinem neuesten Historiker zufolge,
»den geheimen Zweck gehabt zu haben scheint, zwischen Okzident
und Orient das Band der Einweihungen neu zu knüpfen,
das durch die Vernichtung des Templerordens abgerissen war« [94],
nannte sich Orden zum Goldenen Vlies [95]. Bekanntlich ist der
Argonaut Alchimist. So hätte der Ritter Polham für Königin
Blanka von Navarra einen würdigen Liebhaber abgegeben. Trotzdem
kann er es nicht gewesen sein, denn die Königin war beinahe
ein Jahrhundert zuvor gestorben.
Es stimmt, daß eine solche Königin für die Sage nie stirbt
und immer Liebhaber finden wird. Sie ist weiß und Witwe, wie
Isis. Sie wird in ihren Liebschaften durch einen eifersüchtigen
König behindert, wie Isolde. Sie zeugt mit einem Ritter eine
Tochter, die im Dunkel bleibt, wie die Yse der Templer. Sie
ist Herrin über alle Geheimnisse, die der Profane stets dort sucht,
wo sie schon nicht mehr ist. Unerwartet wie der Blitz straft sie
jeden, der sich ihrer mit Gewalt bemächtigen will. Der Umgang
mit ihr ist jedoch für den Adepten fruchtbar, dem gegenüber sie
stets hilfreich ist.
Im ursprünglichen Sinn des Wortes aber ist eine Legende
180
etwas, das man lesen soll. Die von Blanka und Poulain übermittelt
uns, ebenso wie die anderen, die sich um die Erbauer der
Burg ranken, eine deutliche Botschaft. Wie Bellême, Heinrich
Beau Clerc und Plantagenet waren auch Molay, Macy und Polham
Adepten. Gisors gehört den Liebhabern der Isis.
Metapher? Jedenfalls ist sie nicht von uns erfunden. Ein Gefangener
hat vielmehr in Gisors deutlich in Stein eingemeißelt,
daß er ein Liebhaber der Isis war. Dieser Gefangene unterzeichnete
mit Poulain. Er hatte die Burg entschlüsselt, dieses unvergleichliche
hermetische Gebäude, dessen Geheimnis und dessen
Schatz sich für eine Nacht, vier Jahrhunderte später, unter dem
Spitzhackenschlag des Schweinehirten Lhomoy einen Spalt weit
öffnen sollten.
DIE BURG DER DREI WAGEN
Wenn wir jetzt erklären, daß die Überlieferung von dem unterirdischen
Schatz, dessen schützende Eisengitter sich nur in der
Christnacht öffnen, kein Altweibermärchen ist, sondern der Wirklichkeit
entspricht – wer wird uns glauben wollen?
Dennoch hat diese Legende nichts mit phantasievollen Träumereien
zu tun: Weise haben sie vielmehr mit großer Sorgfalt
verfaßt, um demjenigen, der zu verstehen weiß, den geheimen
Plan der Burg von Gisors zu offenbaren.
Der defensive Wert der Burg ist mittelmäßig, wie wir bereits
bewiesen haben. Trotzdem darf man nicht meinen, ihre Erbauer
seien Stümper gewesen. Ganz im Gegenteil, der Grad ihrer Klugheit
ist erstaunlich. Die Strategie hat in ihren Plänen nur eine
sekundäre Rolle gespielt. Ihr Hauptanliegen war, astronomischen
Regeln entsprechend mit bemerkenswerter Perfektion zu bauen.
Welchen? So verblüffend es erscheinen mag – das ganze Gebäude
ist nach dem örtlichen Stand des Himmels am 24. Dezember um
Mitternacht entworfen worden.
181
Das ist zwar nicht leicht, aber durchaus möglich zu beweisen.
Wenn auch nur der Glaube an die astrologische Symbolik für
die Erbauer maßgeblich war – und zudem sicher die Verpflichtung,
die Struktur ihres Werkes zu verschleiern –, so genügen
doch die positiven Gegebenheiten der Astronomie, diesen Beweis
zu liefern.
Bevor wir das tun, wollen wir uns klarmachen, daß für die
Menschen des Mittelalters die Sonne sich um die Erde dreht, und
daß die Erde nicht kugelförmig, sondern flach ist. Infolgedessen
basierten ihre Berechnungen lediglich auf der anscheinenden Bewegung
der Gestirne und ließen keine Projektionen auf die
Himmelskugel, sondern nur auf die Ebene zu.
Ferner müssen wir beachten, daß der Teil des sichtbaren Himmels
von einem angenommenen Punkt auf der Erde nach folgenden
Bedingungen variiert: 1. je nachdem, ob dieser Punkt auf der
nördlichen oder auf der südlichen Hemisphäre liegt (das hieß für
unsere Verfahren, oberhalb oder unterhalb der Erdscheibe); 2. je
nach dem anscheinenden Lauf der Sonne, also dem Zeitpunkt des
Jahres; 3. je nach der Erdumdrehung, also dem Augenblick des
Tages.
Die sogenannte Horizontalebene teilt die Himmelskugel von
einem angenommenen Punkt und in einem angenommenen Augenblick
in einen sichtbaren und einen unsichtbaren Sektor. Die Meridianebene
wird von der Sonne während des Tages durchlaufen.
Schließlich ist zu berücksichtigen, daß das Vorrücken der Tagund
Nachtgleichen, das heißt die Verschiebung der Äquinoktialachse,
alle einundsiebzig Jahre annähernd einen Grad ausmacht.
So steht die Sonne am 24. Dezember im Zeichen des Steinbocks.
Aber zwischen den Jahren 1100 und 1170 beispielsweise stand sie
am gleichen Datum 25° im Schützen. Allerdings handelt es sich
hier nicht um den herkömmlichen Tierkreis der Astrologen, in
dem jedes der zwölf Sternbilder einen gleichen Teil der Ekliptik
einnimmt, sondern vielmehr um den astronomischen Tierkreis, in
dem die Sternbilder ungleichmäßig auf die Ekliptik verteilt sind,
wie es auch der Wirklichkeit entspricht. Dieser Tierkreis nun enthält
dreizehn Zeichen und nicht zwölf. Das »astrologische« Stern182
bild des Skorpions besteht nämlich aus zwei verschiedenen, dem
eigentlichen Skorpion und dem Ophiuchus.
Von diesen Gegebenheiten ausgehend, läßt sich leicht auf 1° 2
genau feststellen, welcher Teil des Himmels in Gisors, das heißt
49° 17 nördlicher Breite und 0° 34 östlicher Länge von Greenwich,
am 24. Dezember um Mitternacht zwischen dem Jahre 1090,
in dem der Bau der Burg begonnen, und dem Jahre 1184, in dem
er beendet wurde, sichtbar war. Auf dieselbe Weise läßt sich der
entsprechende Teil des unsichtbaren Himmels bestimmen (Abb. 9).
Wenn man das nun in die Tat umsetzt, stellt sich etwas Sonderbares
heraus: in der fraglichen Zeit standen am 24. Dezember um
Mitternacht der Große und der Kleine Wagen einerseits, das
Schiff oder der Wagen der Meere andererseits von Gisors aus gesehen
in Opposition. Diese reziproke Position der drei Wagen, die
sich nur einmal im Jahr ergab, hat den gesamten Grundriß der
Burg bestimmt.
Das stark vereinfachte Schema auf Abbildung 9 zeigt, wie die
Erbauer vorgingen. Sie legten zunächst die Projektion der Konstellation
des Schiffes auf dem Boden fest. Da dieses Sternbild zur
südlichen Hemisphäre gehört und sich somit für sie »unter der
Erde« befand, ist sein Abbild auf dem Boden naturgemäß die
Umkehrung dessen, das man am Himmel erblickt. Andererseits
entsprach die Konstellation des Schiffes im Mittelalter nicht der
auf unseren jetzigen Himmelskarten. Das Schiff wird heute von
den Astronomen in deutlich unterschiedene Teile aufgegliedert:
Bug, Kiel, Segel usw. Damals jedoch war es ein einziges Sternbild.
In dieser Darstellung besaß nun das Schiff eine Eigenschaft, die
es von allen anderen Sternbildern abhob. Vier seiner Seiten standen
nämlich senkrecht zueinander, wodurch es sich in ein vollkommenes
Quadrat einzeichnen ließ. Ferner durchschnitt zu der
fraglichen Zeit die Verlängerung einer seiner anderen Seiten die
Horizontalebene von Gisors im Winkel von 45° und grenzte so
ein zweites Quadrat ab. In diesen beiden Quadraten wiederum
standen am 24. Dezember um Mitternacht jeweils der Kleine und
der Große Wagen.
War eine derart komplexe Himmelsarchitektur den Erbauern
183
Abbildung 9
wirklich bekannt? Und haben sie diese tatsächlich in Stein verwirklicht?
Es fiele schwer, das zu glauben, wenn es dafür nicht
zwei sehr stichhaltige Gründe gäbe.
Zunächst wissen wir, daß die Erbauer des Schlosses für sämt184
liche beschriebenen Planungen ein ausgezeichnetes Instrument zur
Verfügung hatten, den Astrolab, den die Mauren erfunden hatten
und der ein Jahrhundert zuvor von Papst Gerbert dAurillac aus
Spanien mitgebracht worden war. Auf dieser Art Uhr mit mehreren
Zifferblättern befanden sich ein Tierkreis und eine stereographische
Projektion der Himmelskugel, wie sie von einem angenommenen
Breitengrad aus sichtbar war. Durch in Grade eingeteilte
Zeiger konnte man Norden, die Zeit, die Winkelgrade
und die Position aller Sterne bestimmen. Die Mohammedaner benutzten
den Astrolab seit langem, um die Lage von Mekka und
die Gebetsstunden zu fixieren. [96]
Vor allem aber zeugt die tausendjährige Burg selbst, wie wir
sie heute noch vor Augen haben, unwiderlegbar für das bei ihrer
Erbauung maßgebliche Verfahren (Abb. 10 und 11).
Man braucht tatsächlich nur eine Pause der Konstellation des
Schiffes oder Wagen der Meere auf den Plan der Burg von Gisors
aufzulegen, um folgendes festzustellen:
1. Der äußere Festungsgürtel läßt sich genau in das große Quadrat
und der Hügel des Wehrturms genau in das kleine einzeichnen.
2. Die Verlängerung der dreizehn Seiten des Sternbildes fallen
jeweils mit allen Türmen und Toren des Gebäudes zusammen.
Wir beschränken uns auf diese beiden sofort feststellbaren Tatsachen,
um den Leser nicht mit technischen Einzelheiten zu verwirren,
die sicher interessant, aber auch sehr kompliziert sind.
Dennoch sei darauf hingewiesen, daß manche Hermetiker viel
weitergehen. Sie behaupten, die Erbauer hätten die beiden Himmelsquadrate
als »magische Quadrate« genommen und mit ihrer
Hilfe jeden Bestandteil des Gebäudes verschlüsselt. Die mathematischen
Schlüssel dieser Quadrate ermöglichten eine vollständige
Dechiffrierung. Diese Theorie ist zu gewagt, so daß wir ihren Anhängern
die volle Verantwortung für ihre Folgerungen überlassen
möchten. Wir können sie aber nicht mit Stillschweigen übergehen,
da man sehen wird (Anhang I), daß sie in mehreren Punkten auf
frappierende Weise die positiven Tatsachen bestätigen.
185
Abbildung 10
Wie dern auch sei, der Plan allein macht die Burg von Gisors
zu einem Bauwerk, das zu jener Zeit nicht seinesgleichen hat. Gewiß
haben vom 18. Jahrhundert bis in unsere Tage Montluisant,
Fulcanelli, Maurice Magre usw. die Esoterik bestimmter mittel186
alterlicher Bauten bereits aufgezeigt. Aber einmal beschäftigen sie
sich nur mit sakralen Bauten, bei denen es keineswegs überrascht,
symbolische Elemente zu finden; andererseits und vor allem sind
es bei diesen Bauten allein ornamentale Einzelheiten mit symbolischen
Figuren, die mehr oder minder alchimistische Züge aufweisen.
Im Gegensatz dazu ist nun Gisors kein sakrales, sondern
ein Festungsbauwerk. Sein gesamter Bauplan, und nicht nur die
bloße Ornamentik, wurde jedoch auf Grund von astronomischen
Gegebenheiten entworfen, die für die Erbauer Symbolwert hatten.
Das rüttelt an den feststehenden Grundsätzen mittelalterlicher
Archäologie. Es beweist, daß die Erbauer in Gisors ein Bauwerk
zweifacher Bestimmung errichtet haben, nämlich militärischer und
religiöser – besser sollte man sagen, ein doppelsinniges. Zwar
fehlt es im Mittelalter keineswegs an befestigten Kirchen, doch sie
sind alle als solche erkennbar, während sich in Gisors der sakrale
Charakter des Gebäudes völlig hinter dem profanen Äußeren
einer Festung verbirgt.
So seltsam diese Kaschierung erscheinen mag, läßt sie sich doch
einleuchtend erklären. Das christliche Weihnachten hat nur die
heidnischen Feste der Wintersonnenwende abgelöst, die seit der
Jüngeren Steinzeit gefeiert wurden. Ihr Fortleben in Gallien wird
durch Interdikte der katholischen Kirche bis zum Jahre 789
unserer Zeitrechnung belegt.
Als sie ihren Bauplan auf die Sonnenwende gründeten, taten
die Erbauer der Burg von Gisors dasselbe wie fünfundzwanzig
bis dreißig Jahrhunderte früher jene der großen steinernen Kultbauten,
für die Stonehenge in England das großartigste Beispiel
ist. In Stonehenge hatte man beobachtet, daß die Sonne am Tag
der Sommersonnenwende in der Nähe eines unbehauenen Steines
aufging, der über 600 Meter von dem Gebäude entfernt auf
freiem Feld stand. Nun bildet die gerade Linie zwischen diesem
Stein und dem Opferaltar die Symmetrieachse des Heiligtums.
Manche Archäologen nahmen also an, es handelte sich um eine
absichtliche Orientierung. Von dieser Hypothese ausgehend, die
bereits in den babylonischen Zikkuraten und den ägyptischen
Pyramiden vorweggenommen worden war, berechneten sie, wann
187
Abbildung 11: Auf der Abbildung Seite 185 sieht man die Konstellationen
des Schiffs (in Linien) und (punktiert) die Linien, die man erhält, wenn man
diese Konstellation nach jeder Seite verlängert. Der Pol bezeichnet den
Norden. Wenn man die Abbildungen 10 und 11 übereinanderlegt, so daß
ihre Nord-Süd-Achsen übereinstimmen, und wenn man dann das Ganze
gegen das Licht hält, entdeckt man, daß jeder der zwölf Türme und Tore
der Burg von Gisors mit einer der Linien der Konstellation des Schiffes
zusammenfällt. Gisors befindet sich auf 49° 17 Breite und 0° 34 Länge. Der
astronomische Plan ist gültig von 1100 bis 1170. Die Präzession der Tagesund
Nachtgleichen betrug 1 Grad in 71 a 57 222.
die Sonne direkt über dem Stein aufgegangen war, um den Bau
zeitlich bestimmen zu können. Nach ihren Berechnungen mußte
er um das Jahr 1900 v.Chr. errichtet worden sein. Andere Archäologen
jedoch sahen das lediglich als Spekulation ohne Beweis188
kraft an, die von vernunftwidrigen okkulten Erwägungen ausging.
Ihrer Meinung nach resultierte die Orientierung von
Stonehenge, genau wie bei den Zikkuraten und den Pyramiden,
aus rein zufälligem Zusammentreffen. Nun hat in jüngster Zeit
die Datierung der Steine von Stonehenge ins Karbon 14 auf fünfzig
Jahre genau den Zeitpunkt des Baues, der sich auf den Himmelsstand
gründete, bestätigt. Die absichtliche Orientierung des
Heiligtums nach der Sommersonnenwende wurde dadurch unwiderlegbar
bewiesen.
Die Erbauer der Burg brauchten ihr Vorbild nicht so weit zu
suchen, obwohl sie Stonehenge zweifellos gekannt haben. In
unmittelbarer Umgebung von Gisors bezeugen Megalithen, daß
diese Landschaft in grauer Vorzeit heilig war. Sie konnten die
Haute Borne von Montjavoult sehen sowie die Überreste der
prähistorischen Grabstätte von Flavacourt, den Dolmen von
Trie, den Stein von Petit Marais bei Vaudrancourt, den der
Volksaberglaube für den Wohnsitz von Blaiseau lArdent hält,
dem Mann ohne Kopf, der die Reisenden irreleitet.
Ihre wenig katholische Bauweise paßt zu ihrem Leben, das
zugleich gelehrt, heterodox und ungewöhnlich ist. War der Neffe
von Hugues, Thibaud Payen, nicht empfänglich für abergläubische
Vorstellungen, nach denen sich alle Megalithen im Vexin
in der Nacht der Wintersonnenwende durch Zauber um sich
selbst drehen? Sollte Wilhelm der Rote, der Sohn des Eroberers,
nicht gewußt haben, daß sich hinter der Gestalt von Blaiseau
das Irrlicht [97] verbarg, damals in der Normandie Wilhelmsdocht
« genannt, und daß von seinem Vater das Gesetz zur Einhaltung
des Feierabends [98] stammte? Hatte Heinrich I. nicht
lange über das Abenteuer des Schiffes Argo meditiert, das die
Irrlichter vor dem Untergang [99] retteten? Wußte man nicht,
daß Heidentum, Judentum und Christentum jeweils dem Schiff
einen symbolischen Wert verliehen haben – Schiff der Isis, Arche
Noah, Schiff Petri? Sicherlich wunderten sich diese Männer in
Gisors am 24. Dezember um Mitternacht höchlichst darüber, am
sternenbedeckten Himmel die Leitidee der esoterischen Lehren,
die ihnen so teuer waren, zu entdecken. Selbst wenn er sie ver189
birgt und zu leugnen glaubt, vollendet jeder Kult und jedes neue
Wissen in Wirklichkeit die alten Weisheiten und setzt sie fort.
Genau in dem Augenblick, da das christliche Zeitalter anbricht,
verbirgt sich das Schiri der Antike unter der Erde, bleibt jedoch
auch dort gegenwärtig.
Aber soll man sich nicht weiter vorwagen? Das Vexin war
reich an Traditionen. Drei hermetische Fürsten errichteten hier
die Burg von Gisors. Sie entwarfen den Plan in esoterischem
Geist. Und schließlich bestimmte die Stellung der Gestirne den
Zirkel der Architekten. Trieben sie die Nachbildung des Himmels
und die Perfektion ihres Bilderrätsels in Stein nun nicht
so weit, daß sie in das Gebäude ein Schiff einbauten, unterirdisch
wie das, das es darstellen sollte?
Nicht allein die Logik des hermetischen Symbolismus, der den
Bau bestimmte, spricht für diese Hypothese. Als normannische
Fürsten mochten die Erbauer sich auch an die Schiffe ihrer Vorfahren
erinnern, die Drakkar genannt wurden nach dem Drachen,
der ihren Bug zierte. Die ersten christlichen Kirchen, die im
n. Jahrhundert auf skandinavischem Boden entstanden, haben
die Form von umgekehrten Drakkars. [100] Und das Gegenstück
zu diesen sichtbaren bilden die in die Erde versenkten Drakkars,
die Grabstätten der normannischen Fürsten nach altem heidnischem
Ritual. Manche sind fast völlig erhalten in Skandinavien
aufgefunden worden. Doch die spektakulärste Entdeckung wurde
1939 in Sutton Hoo in England gemacht, wo man unter einer
Aufschüttung das 656 n. Chr. errichtete Grab mit dem Grabschiff
König Aethelhers fand. Von diesem Herrscher wußte man
bis dahin nur aus alten Sagen und einigen spärlichen Hinweisen
in Chroniken. Das Schiff von Sutton Hoo barg sein Geheimnis:
es enthielt einen Schatz im Wert von mehr als 100 000 Pfund
Sterling, das heißt 1 400 000 Francs. [101]
Es ist bekannt, daß der Architekt Leufroy, der Robert de
Bellême beim Bau der Burg von Gisors unterstützte, zwei weitere
Burgen in Frankreich errichtete: die von Bellême und Nogentle-
Rotrou. In Nogent-le-Rotrou wie in Bellême baute er unter
dem Hauptturm unterirdische Kapellen, die heute noch zu be190
sichtigen sind. Es wäre nur logisch, wenn er dasselbe ins Gisors
getan hätte. Sollte das aber der Fall sein, was für ein furchtbares
Geheimnis wurde dann wohl einst der unterirdischen Kapelle
von Gisors anvertraut, daß man sie derart versteckt hat, während
die Kapellen von Bellême und Nogent-le-Rotrou stets zugänglich
waren?
Die offizielle Kirche begann, die stolzen Schiffe der ersten
Kathedralen, die für riesige Menschenmengen bestimmt waren,
gen Himmel wachsen zu lassen. Verbargen nicht zur selben
Stunde die von Schatten umhüllten Erbauer unter der Erde von
Gisors ein Heiligtum, das den Eingeweihten, den Liebhabern der
Isis, den Alchimisten vorbehalten war, die das weiße Schiff der
Argonauten als Emblem erwählt hatten?
Im Britischen Museum wird das älteste Freimaurergedicht in
englischer Sprache aufbewahrt. Ein unbekannter Verfasser schrieb
es im 14. Jahrhundert. Es wird das Königliche Manuskript genannt.
In alter Zeit, so hob ich gelesen,
mußten Adepten von gutem Stamme sein.
Und manchmal übten auch Herren edlen Geblüts
zu ihrem Ruhm die Kunst der Geometrie. [102]
Und den Anhängern der Königlichen Kunst empfahl der unbekannte
Dichter:
Vom Geheimnis der Kammer sprich kein Wort,
auch nicht von dem, was man in der Loge tut.
Was du auch tun, und wo auch sein,
wohin du auch gehen magst, sage nichts.
War nicht auch Jean de Chalon, der dem Papst vom Verschwinden
des Templerschatzes erzählte, ebenso wie Antoine
de Verceil und Hugues du Faure, die in versteckten Worten von
der Liebe der Yse und des Ritters berichteten, an ein Geheimnis
gebunden? Und enthält sein seltsamer Bericht nicht einen versteckten
Hinweis auf die Burg der drei Wagen?
191
ISIS, DU BIST VERBORGEN IM VEXIN...
Jeder Besudier der Burg von Gisors wird in den »Turm des Gefangenen
« geführt. Dieser Turm ist ebenso bemerkenswert durch
seine Lage und seine Proportionen wie durch die überaus geschickte
Anordnung seiner Schlitze, die im 15. Jahrhundert umgebaut
wurden. Der Architekt war allem Anschein nach über die
Absichten seiner Vorgänger genau unterrichtet. Der Tourist
hat jedoch weder Zeit, das festzustellen, noch kann er sich in den
beiden oberen Stockwerken aufhalten. Er wird im Sturmschritt
die Wendeltreppe hinuntergeleitet. Das eigentliche Schauspiel findet
nämlich im Erdgeschoß statt, in dem dunklen Verlies, wo –
wenn man dem Führer glauben darf – »der« Gefangene, eben
jener Poulain, der Geliebte der Blanka von Evreux, die Zeit damit
totschlug, an die Mauern mit einem Nagel die Szenen der Passion
Christi einzuritzen, zu denen ihn sein eigenes Martyrium inspirierte.
Der vage Bericht sowie der spärliche Schein einer Kerze bilden
die einzigen Anhaltspunkte für den Besucher, der schnell wieder
an die frische Luft geführt wird. Dabei hat er, ohne es zu wissen,
vor dem Sesam gestanden, das die hermetisch verschlossenen Eisengitter
öffnet, die der Legende nach den Schatz von Gisors hüten.
Denn die Sgraffiti im »Turm des Gefangenen« verdienen genau
betrachtet zu werden, und zwar nicht nur des künstlerischen Wertes
wegen, den einige von ihnen zweifellos besitzen. Vor über
einem Jahrhundert ließ Charles Kodier durchblicken, er habe ihr
Geheimnis entschlüsselt. Er war ein großer Gelehrter und charmanter
Erzähler, ein Freund von Victor Hugo und Gérard de
Nerval. In seinem Buch »Voyages pittoresques et romantiques
dans lancienne France« (1815–1830) hat er den Sgraffiti einige
interessante Seiten gewidmet. Wir geben sie im folgenden wieder,
wobei auch der Kursivsatz beachtet wurde:
»Welches auch die Herkunft und das Leben dieses unglücklichen
Gefangenen, welches auch die Ursachen und das Ende seines
Mißgeschicks gewesen sein mögen, man muß zugeben, daß er
192
einigermaßen bewandert in den Künsten war. Es besteht zumindest
keinerlei Zweifel über die Epoche seiner langen Gefangenschaft.
Sein Werk enthält zeitlich genaue Angaben. Sie tragen
den Stempel eines bestimmten Zeitalters und vermögen dessen
Geschichte zu erhellen. Zwischen der Regierungszeit Ludwigs XII.
und Heinrichs III. schmückte die christliche Bildhauerei die Kirchen
mit diesen eigentümlichen Arbeiten, die auch der seriöseste
Kunstverständige noch mit Interesse studiert, selbst wenn er sie
nicht mehr verwendet. Ihre Ausführung trägt das Kennzeichen
einer Schule.
Jedenfalls konnte der Gefangene schreiben, denn er hat eine
Anrufung der Jungfrau an das äußere Ende des Durchmessers
seines Turmes eingeritzt, und nur dort hat er vielleicht einen
Teil seines Namens hinterlassen: O Mater Dei miserere mei Pontani.
Er war mehr besorgt um seine ewige Seligkeit im Himmel
als um seinen Ruf in der Geschichte, mehr um die Zukunft als
um die Gegenwart. So suchte er Zuflucht jenseits dieses Lebens
voller Prüfungen und Leiden, das die Welt ihm auferlegt hatte.
Wahrscheinlich hatte er diesen Platz für die Nachtruhe erwählt,
und er erinnerte ihn zu Anfang und zu Ende des Tages an das
Bedürfnis, zu beten. Und wenn ich es richtig beurteilt habe, war
er ihm um so angenehmer, als dort die aufgehende Sonne vor
ihm sein begonnenes Werk beleuchtete.
In unserem aufgeklärten Jahrhundert, in dem es beinahe als
Schande gilt, neue Erkenntnisse auf alte Ansichten zu übertragen,
würde man kaum wagen, andere Harmonien mit diesem Andenken
in Verbindung zu bringen. Wir berichten ohne jegliche
Absicht von dem dreimaligen Zufall, der uns in den verborgensten
Winkeln eines kleinen Flachreliefs von der Auferstehung
und dem Jüngsten Gericht einen lebendigen Schmetterling finden
ließ, Emblem des Wunderbaren dieses Mysteriums – Io, Isis,
Tagpfauenauge. Sie waren ausgeschlüpft an einem Ort, wohin
keine Raupe zu gelangen scheint, und zu einer Jahreszeit, da
das zerbrechliche Gefängnis der Schmetterlinge nicht minder unverletzlich
ist wie das der Ritter.
Allein wegen dieses Andenkens gehört der so häufig bedrohte
Tafel XIII: Das älteste Siegel der Stadt Paris – auf einem Kontrakt
über den Salztransport, unterzeichnet in Gisors im Jahre 1200 (oben). –
Der Brunnen von Vert-Bois in Paris (unten)
Tafel XIV: Gisors, Turm des
Gefangenen. Hinter dem christlichen
Glauben steht die hundertjährige
Barke (links). –
»Ein kleines Flachrelief, auf dem
die Auferstehung dargestellt
ist« . . . (unten)
193
Turm des Gefangenen zu den sonderbarsten Baudenkmälern des
alten Frankreich. Wagen wir zu hoffen, daß er in unseren gedankenlosen
Tagen nicht verfallen möge. Zumindest lassen uns
einige Gründe daran glauben.«
Wirklich ein seltsamer Text, auf den wir bald zurückkommen
werden. Beschränken wir uns im Augenblick auf die Feststellung,
daß diese Zeilen bei all ihrer Zurückhaltung uns auffordern, ein
Rätsel hinter den Sgraffiti des Gefangenen zu erkennen. Über
die Art des Siegels, mit dem diese ihm verkleidet erscheinen,
unterrichtet uns Nodier durch die geschickte Allegorie von dem
Schmetterling »Isis«. Ferner reiht der keineswegs zu Übertreibungen
neigende Autor den Turm unter die sonderbarsten Baudenkmäler
Frankreichs ein. Und konstatieren wir schließlich
Nodiers seltsame Anspielung auf die zwar wohlverpackte, jedoch
echte Sorge, die ihm gilt...
Da Nodier jetzt unsere Neugier angestachelt hat, wollen wir
den Turm der Gefangenen Schritt für Schritt untersuchen, bevor
wir uns der Kirche zuwenden.
Zwar sind die Sgraffiti des Verlieses wohlbekannt. Doch niemand
hat bisher jene in den beiden oberen Stockwerken beachtet.
Obwohl sie von den Nazis beschädigt wurden, die den Turm
während des Krieges besetzt hatten und die Mauern mutwillig
zerkratzten, sind sie noch immer hochinteressant. Zunächst durch
ihre ziemlich primitive Machart, die sie dem Mittelalter zuordnet
und bezeugt, daß sie nicht von berufsmäßigen Steinmetzen stammen.
Noch mehr aber durch ihren Inhalt.
Unter diesen Sgraffiti sind besonders eine große Quadrierung
aus Rauten, fünf-, sechs- und achtzackigen Sternen sowie ein
Emblem, das als dreifacher hermetischer Kreis bekannt ist, hervorzuheben.
Diese Abbildungen offenbaren, daß ihre Hersteller
Hermetiker waren. Tatsächlich ist die in Rauten aufgeteilte
Quadrierung ein Gitter der Geheimschrift, und die Sterne sind
die Schlüssel, die seine Dechiffrierung ermöglichen. Der achtzakkige
Stern (aus dem sich das Alphabet der Templer ableitet, wie
wir gesehen haben) ist überdies eine klassische Darstellung des
alchimistischen Steins der Weisen. [103] Das Emblem des drei194
fachen Kreises hat zahlreiche esoterische Kommentare ausgelöst,
die zu erklären suchen, dank welches Mysteriums es auf den
Menhiren, dem Parthenon, den merowingischen Gräbern sowie
auf Wandteppichen des 16. Jahrhunderts wiederkehrt.
Nun finden sich diese ungewöhnlichen drei Figuren, wiederum
als Sgraffiti, im Turm einer anderen Burg, nämlich im Donjon
von Coudray in Chinon. Und hier wissen wir, von wem sie stammen:
von den Leitern des Templerordens, die im August 1308 in
Chinon eingekerkert waren. Zu ihnen gehörten der Großmeister
Jacques de Molay und der Generalvisitator von Frankreich, Hugues
de Pairaud, der – wie es im Prozeß hieß – »den Geheimriten
am leidenschaftlichsten ergeben war« und der den Schatz
in drei Heuwagen in Sicherheit bringen ließ.
Die verblüffende Identität dieser beiden Serien von Sgraffiti
bestätigt also die Behauptung des Historikers Depoin, wonach die
Würdenträger des Ordens von Chinon nach Gisors verbracht
wurden. Professor Probst-Biraben schrieb mit vollem Recht: »Es
war nicht das Ziel dieser Männer, sich die Langeweile zu vertreiben.
Sie wollten vielmehr ihre Nachfolger durch Wappen und
bestimmte seltene Zeichen wissen lassen, daß Templer dieses oder
jenes Amtes, möglicherweise auch gewisse Brüder in diesen Gefängnissen
eingekerkert gewesen waren.« Zudem haben die Leiter
des Templerordens in Gisors auf einer Fensterbrüstung im Turm
des Gefangenen eine unzweideutige Unterschrift hinterlassen: das
Templerkreuz, Emblem des Ordens.
Das Hauptstück der Sgraffiti in den oberen Stockwerken des
Turms ist ein Schiff (Tafel XIV oben). Man braucht es nur mit
dem auf dem Stadtsiegel von Paris zu vergleichen (wie erinnerlich,
wurde es 1200 auf einer in Gisors unterzeichneten Urkunde angebracht),
um sich zu überzeugen, daß der Urheber das Schiff der
Nauten darstellen wollte. Außerdem drängt sich ein Vergleich mit
dem Schiff auf dem Brunnen Vert-Bois auf, der den Hermetikern
so teuer war. [104] Dieses Schiff weist nun ein gemeinsames Merkmal
mit dem von Gisors auf, das man sofort bemerkt: das Quadrat,
das auf dem Brunnen durch die Taue gebildet wird, steht in
Gisors neben dem Schiff wie das Gitter eines Kreuzworträtsels.
195
Schließlich hat das Schiff von Gisors ein einzigartiges Charakteristikum:
die Bugfigur ist ein Fisch. Bekanntlich wählten die ersten
verfolgten Christen den Fisch als Geheimschriftzeichen für Christus.
[105] So erinnert das Schiff im Turm des Gefangenen mit
dem Quadrat und dem Fisch nicht nur an das allgemeine symbolische
Thema, das die Baumeister anscheinend in Stein verwirklichen
wollten: hinter dem Christentum das jahrhundertealte
Schiff – sondern weist mit großer Bestimmtheit auf die astronomischen,
graphischen und chronologischen Elemente hin, die sich
in dem Plan vereinen: Sternbild des Schiffes, Quadrate, Christnacht.
Es liefert uns also den Beweis dafür, daß zumindest die
hohen Würdenträger des Templerordens sämtliche Geheimnisse
des Burgbaues kannten.
Man mag so viel Erfindungsgabe bewundern. Dennoch teilen
uns die Sgraffiti in den oberen Stockwerken nichts mit, was wir
nicht schon selber entdeckt hätten – Anwesenheit der Templer in
Gisors, symbolische Architektur der Festung. Die Sgraffiti des
Verlieses, deren Bedeutung zu erraten Nodier uns überlassen hat,
geben uns von einem Hinweis zum nächsten viel weitergehenden
Aufschluß.
Sie verteilen sich auf drei große Wandfächer rechts, links und
gegenüber der Eingangstür des Verlieses. Ein Blick genügt, um die
Einheitlichkeit des Stils, die Geschicklichkeit der Komposition zu
erkennen. Es sind keine einfachen Sgraffiti, sondern vielmehr halb
erhabene echte Flachreliefs. Offensichtlich stammen sie von einer
Hand, und zwar der eines Bildhauers.
Durchaus nicht alle entsprechen den Beschreibungen, die viele
Verfasser von ihnen gegeben haben. Manche angeblich religiöse
Themen enthüllen sich dem aufmerksamen Betrachter als alchimistisches
Gedankengut. Wir wollen dafür nur ein Beispiel zitieren:
das Flachrelief, das jedermann für Sankt Georg hielt, der den
Drachen tötet. Unseres Wissens wurde das von Sankt Georg erlegte
Ungeheuer nicht von einer Dame gezügelt wie das auf dem
Flachrelief. Der einzige Drache, der jemals erst unschädlich gemacht
und dann seinem Besieger ausgeliefert wurde, war jener der
Argonautensage. Dort geschah es mit Hilfe des Steines, den Me196
dea besaß und den sie Jason gab. Das Bild bezieht sich also auf
die Argonautensage, was sein Vorhandensein in Gisors weit besser
erklärt. Ein Sankt Christophorus und ein Sankt Nikolaus in der
Nähe dieser Abbildung ließen sich entsprechend interpretieren.
Noch vor Nodier hat uns der Bildhauer selber aufgefordert, die
Schlüssel für sein Werk zu suchen: am Anfang und am Ende seiner
Reliefs. Er hat nämlich Beschläge ausgehauen, als wolle er
dadurch auf die hermetische Bedeutung seiner Arbeit hinweisen.
Dieser Gedanke wird auch durch die Legende nahegelegt, der Gefangene
habe mit einem Nagel gearbeitet, denn auf lateinisch bietet
sich der Nagel (clavus) zu einem Wortspiel mit dem Schlüssel
(clavis) an.
Die Flachreliefs, die der Führer großzügig dem sagenhaften
Geliebten der Blanka von Evreux zuschreibt, werden von Charles
Nodier mit Recht zwischen die Regierungszeiten von Ludwig XII.
und Heinrich III. eingeordnet. Die Gewänder und die Rüstungen
der Figuren bewiesen eindeutig, daß sie nicht vor Ende des
15. Jahrhunderts entstanden sein können. Grundsätzlich würde
also der Annahme, der hermetische Bildhauer sei Wolfgang de
Polham gewesen, nichts entgegenstehen, wenn nicht eine entscheidende
Beobachtung diese Hypothese zunichte machte. Die Themen
mancher Flachreliefs finden sich nämlich in der Kirche von
Gisors wieder, wo sie erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts angebracht
wurden.
Nach dieser Feststellung wollen wir den Kommentar von Nodier
noch einmal lesen. Er lenkt unsere Aufmerksamkeit auf eine
der Heiligen Jungfrau gewidmete Inschrift. Die dafür gewählte
Stelle – so sagt der Autor – »erinnerte ihn an das Bedürfnis zu
beten«, da der Gefangene von dort aus »die aufgehende Sonne
vor ihm sein begonnenes Werk beleuchten sah«. Man möchte glauben,
dieser Satz sei von einem Blatt aus dem Liber Mutm inspiriert
worden, das den Alchimisten im Gebet vor seinem Athanor
zeigt. Dieser wird durch einen Turm dargestellt. Durch vier Luken
fallen die ersten Strahlen der Morgensonne auf das Werk.
Das Liber Mutm enthält zwei Wahlsprüche; zu Anfang: Ora,
lege, lege, relege et invenies – Bete, lies, lies, lies nochmals, und du
197
wirst finden. Und am Sdiluß: Oculatus abis – Du gehst von hier
und siehst klar.
Die Anrufung der Jungfrau findet sich in dem Relief gegenüber
der Tür. Wenn man sich frühmorgens mit dem Rücken zur
Wand vor die Inschrift stellt, erkennt man, daß die Sonnenstrahlen
tatsächlich durch eine der vier Schießscharten des Verlieses fallen,
und zwar genau auf eines der Flachreliefs in der gegenüberliegenden
Füllung. Auf welches? Auf das der Auferstehung, von
dem Nodier der Allegorie halber behauptet, er habe dort den Isis
genannten Schmetterling gefunden. Betrachtet man nun dieses
Flachrelief aus der Nähe, so bemerkt man, daß das Kreuz, das
der römische Soldat trägt, das Kreuz des Templerordens ist.
Es geht jedoch noch weiter. Der Plan der Burg (Abb. 11) zeigt,
daß die Ost-West-Achse, die zum Zeitpunkt der Erbauung mit
der Achse Jungfrau – Fische zusammenfiel, einen der Durchmesser
des Turms des Gefangenen bildet. Genau am äußersten östlichen
Ende dieses Durchmessers hat der Gefangene die Anrufung der
Jungfrau eingeritzt, während er am äußersten westlichen Punkt
das Tierkreiszeichen der Fische ausgehauen hat.
Sofort wird der rätselhafte Text von Nodier klar und desgleichen
die Legende. Sie berichtet, der Gefangene sei, als er in
das obere Stockwerk gebracht wurde, durch das Übermaß an Luft
und Licht zu Boden geworfen worden. Die Sgraffiti der Templer,
deren Kryptogramme er, erfahrener als wir, bis ins letzte entschlüsseln
konnte, hatten ihm das Geheimnis der Burg offenbart.
An dieser Entdeckung ließ er uns teilhaben. Er benutzte dabei die
Bahn der Gestirne mit einer Erfindungsgabe, die jener der Erbauer
würdig war, seiner Brüder in Hermes. Nodiers Auge mußte
fehlerlos sein, um ein derart subtiles Verfahren zu erfassen. Wie
konnte er dann in der Anrufung der Jungfrau nur lesen:
O MATER DEI MISERERE MEI - PONTANI .
wo doch deutlich geschrieben steht (Tafel XVI):
O MATER DEI MEMENTO MEI - POULAIN.
Ein so grober Irrtum seinerseits ist unbegreiflich. Nodier kann
ihn nur absichtlich begangen haben, um die Aufmerksamkeit auf
den Text der Inschrift zu lenken.
198
Die Renaissance hat zwei Jahrhunderte lang Anagramme in
Mode gebracht. Oft war es nur ein Gesellschaftsspiel, aber manchmal
bediente man sich ihrer, um bedeutsame Entdeckungen zu
verschleiern. Das war bei Galilei der Fall. Als er 1610 zu entdecken
glaubte, die Venus zeige ebensolche Phasen wie der Mond,
sprach er nicht öffentlich darüber, solange er seiner Sache nicht
sicher war, sondern publizierte einen lateinischen Satz mit fünfunddreißig
Buchstaben: HA E C IMMA T U R A A M E I AM
F R U S T R A L EGUNT U R . O. Y . (Diese noch unreifen
Dinge wurden bereits vergeblich von mir gelesen. O. Y.) Der Satz
war das exakte Anagramm eines anderen mit viel klarerem Sinn:
CYNTHIAE FIGURAS AEMULATUR MATER
AMOR UM, das heißt: »Die Mutter der Liebenden (Venus)
eifert den Gestalten der Cynthia nach (Diana, Mond).« Mit diesem
Verfahren sicherte sich Galilei, den seine Zwistigkeiten mit
der Inquisition Vorsicht gelehrt hatten, die Urheberschaft der
Entdeckung.
Nun beruht die Inschrift im Turm des Gefangenen auf einem
identischen Vorgehen.
O MATER DEI MEMENTO MEI
(O Mutter Gottes, gedenke meiner)
ist das genaue Anagramm von
AMO DEMETER E N I M T IMEO
(Ich liebe Demeter, weil ich sie fürchte)
Bekanntlich ist Demeter der griechische Name der Isis. Der geheime
Sinn der Inschrift paßt völlig zu der Unterschrift: Poulain
ist der Liebhaber der Königin Blanka, der Isis, der Ritter vom
Goldenen Vlies, der Argonaut. Dadurch, daß er diesen legendären
Namen verwandte, hat der Gefangene (falls er wirklich, und
nicht nur im allegorischen Sinn, ein Gefangener war; da durch
nichts bewiesen ist, daß er sich nicht durchaus freiwillig [106] im
Turm aufhielt) sich lediglich als Hermetiker zu erkennen gegeben,
und auch das hatte Nodier begriffen. [107]
Doch das hieße, viel Geheimnis um eine sehr geringfügige Angelegenheit
zu machen. Müssen wir nicht weiter suchen?
199
Neben der Inschrift hat der Gefangene eine liegende Grabfigur
ausgehauen, die auch in der Kirche zu sehen ist. Und in der Kirche
wie im Turm befindet sich neben der Grabfigur die doppelsinnige
Inschrift (Tafel IV oben).
Im 17. Jahrhundert machte der intelligente Töpfer Antoine
Dorival in seinem »Tableau poétique de lEglise de Gisors« durch
rätselhafte Verse auf diesen Marmorleichnam aufmerksam:
Ein Skelett sehr schauderbar oder vollkommener Meister gar
und über dessen Lage an einem Ort,
wo Säulen, eckig und kanneliert,
dem Betrachter Sorge schaffen und Neugierd.
Tatsächlich wirkt vom Schiff aus gesehen die Anordnung des
Ganzen einzigartig. Sie wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf
Kosten der Gilden und Bruderschaften errichtet [108] und entspricht
genau der einer Freimaurerloge bei der Aufnahme in den
Grad des Meisters: rechts eine gerade, links eine Rumpfsäule, die
beiden Säulen der Loge, Jachin und Boas, denen des Salomonischen
Tempels nachgebildet. [109] Im Hintergrund zwischen den
beiden Säulen (oder, wie die Freimaurer sagen, in der »Kammer
der Mitte«) »das schauderbare Skelett«, vor dem der Aufzunehmende
zur Meditation aufgefordert wird. Es symbolisiert den
Leichnam des Hiram–Erbauer des Tempels, »der vollkommenste
Maurer, den es je gab«, [110] der »vollkommene Meister«.
Die Bedeutung des Ganzen ist Nodier nicht entgangen. Zwar
ist der Text, den er ihm widmet, gewollt dunkel. Der Stich dagegen,
der ihn illustriert, beweist, daß er dieses Stück Architektur
nicht anders gedeutet hat als wir. Auf dem Stich sieht man zwischen
zwei Säulen einen Schweizer in Galauniform. Er trägt einen
Stockdegen. Seine Füße sind rechtwinklig gespreizt. Die traditionellen
Riten schreiben den Mitgliedern der Gesellenverbindungen
dergestalt Kleidung, Bewaffnung und Schritt vor. In derselben
Haltung und zwischen zwei Säulen der Loge stellt sich auch der
Freimaurer auf, wenn er vom Lehrling zum Gesellen befördert
wird. Schließlich soll die Prozession zu Mariä Lichtmeß, die der
Schweizer anführt, den hermetischen Charakter dieses Gebäude200
teils hervorheben und den Besucher sicher darauf bringen. Sie
weist auf eine der ersten Unternehmungen hin, die zur Entdeckung
des Steines der Weisen führen. [111] Der Leser könnte sich fragen,
ob wir Nodier nicht willkürlich Absichten unterschieben, die
er niemals gehabt hat. Dazu sei gesagt, daß er der Sohn eines Freimaurers
der Strikten Observanz war und daß eines seiner Werke
(»La fée aux miettes«) mit Recht als »Brevier der Gesellenverbindungen
« qualifiziert wurde.
Nach Nodier entdeckte ein Geschichtsschreiber von Gisors, Victor
Patte, ebenfalls »eine dritte sechskantige Säule. Ihr oberer Teil
ist mit Flachreliefs und Inschriften verziert, deren Bedeutung und
Sinn man nicht begreifen kann, ohne mehrmals um sie herum zu
gehen« (Tafel X rechts). [112]
Hierbei handelt es sich um die sogenannte Säule der Lohgerber.
Sie wurde auf Kosten dieser Zunft errichtet, und die Bilder gelten
als Darstellungen der Gerberarbeit. Doch wieder einmal halten
die Beschreibungen in den Büchern einer Prüfung nicht stand.
Zum Beispiel zeigt das Flachrelief, auf dem Sankt Claudius, der
Schutzpatron der Lohgerber, zu sehen sein soll, in Wirklichkeit
Sankt Nikolaus. Sein Name CLAVS ist voll ausgeschrieben.
Das dürfte uns genug darüber sagen, welche Art von Fell die
Gedanken der »Gerber« beschäftigte, um die es sich hier handelt.
Denn Sankt Nikolaus, der Wundertäter, der gute Geist der Erzminen,
der Hüter der Schätze, der Weihnachtsmann, ist der
Schutzpatron der Gelehrten, der Argonauten und der Gefangenen.
[113] Die Inschrift, die das Datum der Aufstellung bezeichnet:
I E F V S ICI A C I S L AN I S Z σ
zeigt mehrere Unstimmigkeiten. Zunächst ist »acis« für »assis« (gesetzt)
ein so deutlicher Rechtschreibfehler, daß er auf Absicht zu
beruhen scheint, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Dann
ist die Jahreszahl 1526 sehr eigentümlich gebildet aus einem normalen
I, einem S, einem Z, das ebenso das griechische N sein
könnte und sich dann I aussprechen würde, und schließlich einem
griechischen σ. Durch diesen Kunstgriff ergibt sich, wenn man das
201
Datum phonetisch liest, das Wort Isis. Da es auf derselben Seite
der Säule steht, auf der auch »Maria« zu lesen ist (Tafel X rechts),
wird ein diskreter, aber deutlicher Hinweis auf den Doppelsinn
der Inschrift im Turm gegeben.
Nun zu dem Toten. Die Kapelle, in der er liegt, ist dem heiligen
Clarus geweiht. Neben dem heiligen Hermes, der den Teufel
bezwang wie Medea den Drachen [114], galt Clarus einst als der
verehrungswürdigste Heilige des Vexin. In Gisors machte ihn die
1514 gegründete Bruderschaft der Maurer und Steinmetze zu
ihrem Schutzpatron. Der Eremit von den Ufern der Epte [115]
und des Réveillon »gab den Toten Leben und den Blinden das
Augenlicht«, wie im 12. Jahrhundert Robert Denyau, Pfarrer und
Historiker von Gisors, schrieb. Der heilige Clarus hat wirklich
die Gabe, das Augenlicht wiederzuschenken. Deshalb wird er auf
den Bannern der Bruderschaften mit einer dreieckigen Mitra dargestellt,
in deren Mitte sich ein Auge befindet. Denyau versichert,
er sei selber blind gewesen, habe sich zum Grab des Heiligen begeben
und sei von dort sehend zurückgekehrt. Doch nicht jeder
muß an Wunder glauben, und Metaphern sind anspruchsvoll.
[116]
Die Grabfigur ist das in jeder Hinsicht beachtliche Werk eines
unbekannten Bildhauers, Schüler von Jean Goujon. Entgegen dem
Brauch ist sie nicht bekleidet, sondern halb nackt. Das ist um so
erstaunlicher, als sie keine Phantasiegestalt darstellt, sondern –
wenn man der Grabinschrift glaubt – einen gewissen Geoffroy
le Barbier, »Kaplan der Sainte-Chapelle«. Über ebendieser Grabinschrift
steht nun: O MATER DEI MEMENTO MEI. Das
Rechteck, das die Figur einrahmt, trägt noch drei weitere Inschriften.
Die erste ist beinahe identisch mit jener an der Gerbersäule.
Sie lautet:
IE FUS EN CE LIEV MIS LAN ISZ σ
Das hier wiederholte ISZσ ist um so bemerkenswerter, als das
Datum wahrscheinlich falsch ist. Auf der Grabinschrift wird als
Todesjahr 1507 angegeben.
202
Die zweite ist eine lateinische Inschrift:
QVISQVIS ADES TU MORTE CADES
STA, RESPICE, FLORA.
SUM QVOD ERIS, MODICVM CINERIS
PRO ME, PRECOR, ORA.
(Wer du auch seist, Wanderer, du wirst sterben. Bleibe stehen,
blicke zurück, weine. Ich bin, was du sein wirst – ein Häuflein
Asche. Bitte, bete für mich.)
Die dritte schließlich gibt dem Besucher auf französisch einen
an diesem Ort seltsam anmutenden Rat:
FAY MAINTENANT CE QVE VOVLDRAS
AVOIR FAIT QVAND TV TE MOVRRAS
(Tue jetzt, was du wünschen wirst,
getan zu haben, wenn du stirbst.)
Und auch hier stellt man wieder Rechtschreibfehler fest.
Durch einen Hinweis Nodiers haben wir den Namen Demeter-
Isis in der Anrufung der Jungfrau entdeckt. Auf der Säule der
Lohgerber wurden von einem geschickten Kalligraphen ebenfalls
Isis und Maria in nahe Beziehung zueinander gesetzt. Und schließlich
hat, wenn nicht er, so doch sein Bruder dieselbe Hieroglyphe
bei der Grabfigur angebracht. Somit ist es sehr wahrscheinlich,
daß die Inschriften in diesem merkwürdigen Winkel der Kirche
von Gisors ebenso wie die im Turm, die uns zu ihnen geführt hat,
verschlüsselt sind.
Sie sind es tatsächlich. Durch Umstellung der Buchstaben ist
es gelungen, sie zu entschlüsseln. Die Technik des Entschlüsselns
ist ziemlich vielfältig. Der Leser kann jedoch die Dechiffrierung
auf ihre Exaktheit schnell überprüfen, wenn er nacheinander
jeden Buchstaben des gegebenen und den entsprechenden des verschlüsselten
Textes durchstreicht. [117] Die Länge der entschlüsselten
Texte schaltet jeden möglichen Irrtum aus. Die Ergebnisse
sind erstaunlich.
203
Die beiden Inschriften:
IE FVSICIACIS LAN ISIS
IE FVS EN CE LIEV MIS LAN ISIS
ergeben
ISIS IACES IN VVLCANI SINV
FELICE EMISSA ES FILIIS
das heißt:
Isis, du liegst verborgen im Vexin,
glücklicherweise von deinen Söhnen entsandt.
Die lateinische Inschrift
QVISQVIS ADES, TV MORTE CADES: STA, RESPICE,
FLORA; SVM QVOD ERIS, MODICVM CINERIS: PRO
ME, PRECOR, ORA.
ergibt
QVO SIDERE TEMPLVM ORTVM ESSE, QVAM ROSAM
SPIRARE, QVA DOCTE PROCEDIS IN CORPORE
ISIDIS. S. C.
das heißt:
Welches Gestirn den Tempel gebar, an welcher Rose man
riecht; wenn du darüber nachdenkst, wirst du wissend in den
Leib der Isis gelangen. S. C. [118]
Noch genauer ist schließlich die Inschrift
FAY MAINTENANT CE QVE VOVLDRAS
AVOIR FAIT QVANT TV TE MOVRRAS,
da sie ergibt
VIDIT ARAM NAVEMQVE ANNO VLTRA QVO
TER VI EFFRACTA SVNT OSTIA
das heißt:
Er sah den Altar und das Schiff ein Jahr, nachdem die Türen
dreimal gewaltsam aufgebrochen wurden.
Der Sinn dieses letzten Satzes ist fraglos dunkel. Zumindest
ergibt sich aber eine Gewißheit: der Altar und das Schiff, von
dem er mit einem solchen Aufwand an kryptographischen Vorsichtsmaßnahmen
spricht, können keinesfalls die der Kirche sein.
Jeder kann sie sehen, ohne irgendeine Tür zu zertrümmern. Die
Geschichte dieser Isis, die von ihren Adepten im Vexin verborgen
wird und zu der man nur mit Hilfe astronomischer Anhaltspunkte
eines geheimen Plans vordringen kann, läßt vielmehr vermuten,
daß ein unterirdisches Heiligtum gemeint ist. Dessen sorgfältig
verriegelte Zugänge wurden wohl eines Tages von Geoffroy
le Barbier, »Kaplan der Sainte-Chapelle«, entdeckt, der sein Geheimnis
nur wenigen Eingeweihten anvertraute.
Zunächst ist das natürlich nicht mehr als eine Hypothese. Doch
ein eigenartiges Dokument hindert uns, sie einfach abzutun. Es
ist eine Tafel mit Stichen, die aus einem Werk des 18. Jahrhunderts
stammen. Dieses Werk ist allerdings nicht in öffentlichen
Bibliotheken zu finden. Wir haben ein Exemplar bei einem Sammler,
Herrn Roüet, entdeckt. Dank seinem freundlichen Entgegenkommen
können wir die fragliche Tafel veröffentlichen (Tafel
III). Als dieses Exemplar erworben wurde, fehlten wie durch
Zufall die ersten Seiten, so daß es unmöglich zu identifizieren ist.
Dadurch, daß er seine Figuren numeriert, scheint uns der Illustrator
den Weg anzugeben, der zu verfolgen ist: 1. das alchimistische
Portal der Kirche; 2. die Grabfigur mit den Hieroglyphen;
mit 3. bezeichnet er genau den Wehrturm, an dessen Fuß Roger
Lhomoy den Brunnen ausgrub, der ihn bis zu der Kapelle führen
sollte – der unterirdischen Kapelle mit den dreizehn Statuen, den
neunzehn Sarkophagen und den dreißig Truhen.
205
UND JETZT DIE BEWEISE
Hat etwa Lhomoy geträumt in jener phantastischen Nacht, für
die es nur ihn als Zeugen gibt? Ein Gewebe aus Geschichte und
Legende, ein unentwirrbares Netz von Indizien mag wohl bestechend
wirken. Um zu überzeugen, reicht es nicht aus. Und so
bleibt der Leser am Schluß gewiß unbefriedigt, selbst wenn er an
dem Zauber, der die Geheimnisse von Gisors umhüllt, Gefallen
gefunden haben sollte. Bisher haben wir ihn nur mit Vermutungen
abgespeist. Deshalb verabschieden wir uns jetzt von der Königin
Blanka und ihrem Liebhaber, von den Alchimisten mit ihren
magischen Büchern. Am Ende des Weges, den sie uns eröffnet
haben, liegen die Beweise dafür, daß sie die Wahrheit sprachen.
Der Stallknecht Lhomoy ist nicht der einzige, der die Kapelle, die
Sarkophage, die Truhen kennt. Wir können ihr Geheimnis mit
Händen greifen. In Gisors, keine Stunde von Paris entfernt, sind
die Templer unter uns.
Hier sind die Tatsachen, die Dokumente:
1. Es gibt einen unterirdischen Bau unter dem Wehrturm.
Beim ersten Blick auf die Lage und das Mauerwerk des Wehrturms
von Gisors ergibt sich eine wichtige Frage. Wie kann eine
einfache Aufschüttung einen derart gewichtigen Bau tragen? Die
Fachleute beschäftigen sich schon seit langem mit diesem Problem,
sind jedoch zu verschiedenen Lösungen gekommen.
Im Jahre 1868 schrieb A. de Dion: »Es ist nicht anzunehmen,
daß die Ringmauer zum ursprünglichen Bau gehört, da eine Aufschüttung
eine so schwere Mauer nicht sofort, sondern erst viel
später tragen könnte.« E. de Clérambault ging dreißig Jahre danach
von derselben Feststellung aus, kam jedoch zu einer anderen
Hypothese. »Am Wehrturm ist keinerlei Anzeichen für eine Senkung
noch irgendein Riß vorhanden«, schrieb er. »Daraus läßt
sich vermuten, daß der Bau nicht zur selben Zeit entstanden ist
wie die Aufschüttung, es sei denn, daß die Fundamente bis zum
206
Hof herunterreichen, was unwahrscheinlich ist.« Die letzte Annähme
mochte ihm gewagt vorkommen. Falls sie zutreffen sollte,
schließt sie allerdings eine Schlußfolgerung ein, die er auch sofort
zog: Wenn die Grundmauern bis zum Hof herabreichen, dürfte
vermutlich ein unterirdisches Stockwerk vorhanden sein.« [119]
Dieses architektonische Problem ist nun inzwischen durch die
Grabungen von Roger Lhomoy gelöst worden. Wir haben uns
selber davon überzeugt, als wir in Lhomoys Stollen heruntergestiegen
sind. Lhomoy hat in der Aufschüttung Mauerstücke
freigelegt, die bis unter die Erdoberfläche reichen.
2. In diesem unterirdischen Gebäudeteil befindet sich eine
Kapelle.
In den Staatsarchiven existiert das Original eines Berichtes,
den der Burgvogt von Gisors im Jahre 1375 über die Flucht
eines unbekannten Häftlings aus dem Turm des Gefangenen
abgegeben hat. Darin steht, daß der Mann »ein Stück Holz brach
und gewaltsam ein Loch machte, durch das er kletterte, und
abermals brach und ein weiteres Loch machte und einen Raum
neben dem Käfig betrat, von dort eine Mauer emporkletterte,
die Decke durchbrach und einen Raum neben der Kapelle der
heiligen Katharina betrat« [120] (Tafel V unten).
Von diesem Text haben wir erst nach unserer Entschlüsselungsarbeit
Kenntnis bekommen. Er beweist, daß man vom Verlies
des Turmes aus zumindest in vier angrenzende Gebäudeteile
gelangen konnte: einen »Käfig«, zwei Räume und eine Kapelle
der heiligen Katharina. Bei dieser Kapelle konnte es sich nicht um
die des heiligen Thomas handeln, die sich oben auf der Aufschüttung
in der Ringmauer des Wehrturms befand. Das Verlies liegt
nun zwölf Meter unterhalb des Hofes. Demnach können der
Käfig, die beiden Räume und die Kapelle nur unterirdisch sein.
3. Diese Kapelle entspricht genau Lhomoys Beschreibung von
den Statuen und den Truhen.
Ein sorgfältig geheimgehaltenes Dokument zeigt sie uns. Es
ist ein Manuskript von rund hundert Seiten, aus dem Jahre 1696
207
datiert und betitelt »Anmerkungen über die Geschichte von
Gisors«. Der Verfasser heißt Alexandre Bourdet. Er war Priester,
wurde im Februar 1660 in den Basses-Pyrénées geboren und
starb im September 1728 in Gisors. Von dem Manuskript existieren
mindestens zwei Exemplare. Sie werden in Privatarchiven
aufbewahrt. Das erste Exemplar fiel einem Abbe Lefebvre in
die Hände, Vikar von Gisors im Jahre 1873, der die Seiten 82
bis 91 herausgerissen hat. [121] Diese Seiten sind jedoch im
zweiten Exemplar vorhanden (es gehört der Gräfin de la Tour
du Pin). Ein Sammler hat uns liebenswürdigerweise Einblick
nehmen lassen. Auf den fraglichen Seiten wird nun das Vorhandensein
von unterirdischen Gebäudeteilen unter dem Wehrturm
erwähnt. Der Verfasser erklärt, ein Manuskript aus dem 14. Jahrhundert
habe ihm den Weg zu deren Entdeckung gewiesen. Es
war geschrieben und unterzeichnet von einem unserer alten Bekannten:
Nicole de Rueil, Schloßkaplan der Königin Blanka
von Evreux. Auf Seite 86 hat Alexandre Bourdet sogar den Plan
der berühmten Kapelle abgebildet, mitsamt den Statuen und
den Truhen. Wir zeigen dieses aufsehenerregende Dokument auf
Tafel VI oben.
Bei Betrachtung des Planes stellt man fest:
– daß darauf die »unterirdische Kapelle Sainte-Catherine«
erwähnt wird. Es handelt sich also genau um die Kapelle,
zu welcher der Gefangene Zugang hatte;
– daß neben der Tür ein abgebrochenes Mauerstück zu sehen
ist. Es handelt sich also genau um die Kapelle, deren »Türen
dreimal gewaltsam aufgebrochen wurden«, wie es in dem
Kryptogramm der Kirche heißt;
– daß diese Kapelle unter dem Wehrturm und in der Nähe
des Brunnens liegt. Es handelt sich also genau um die von
Roger Lhomoy entdeckte Kapelle.
4. Ein Dokument beweist die Existenz der dreißig Schatztruhen.
Im Jahre 1938 schrieb Abbe Vaillant, damals Dekan von
Gisors, an einen Pariser Architekten, dem er Papiere aus den
alten Kirchenarchiven zur Inventarisierung übergeben hatte. Wir
haben diesen Brief gesehen. Der Abbe bittet darin seinen Freund,
ihm »ein lateinisches Manuskript aus dem Jahre 1500, in dem
von dreißig eisernen Truhen die Rede ist, zurückzuschicken, da
dieses Dokument baldigst den Archiven des Departements Eure
übergeben werden soll«.
Wir sind nach Evreux gefahren, wo die Archive vom Krieg
verschont wurden. Das fragliche Manuskript ist nicht dort und
scheint auch niemals dort gewesen zu sein.
5. Es gibt eine unterirdische Verbindung zwischen der Kirche
und der Burg.
Die Kirche von Gisors wird von der Burg durch die Hauptstraße
getrennt, die rue de Vienne, die in Ost-West-Richtung
verläuft. Nun sind die Keller mehrerer Häuser in dieser
Straße Überreste von unterirdischen Gewölben aus dem 12. und
13. Jahrhundert. Sie liegen in Süd-Nord-Richtung, das heißt von
der Kirche zur Burg, oder genauer, von der Kapelle des Toten
zum Hügel des Wehrturms. Im März 1947 – zehn Monate nach
der Entdeckung Lhomoys – war eine Gruppe von Erdarbeitern
damit beschäftigt, die Gasse, die das Nordportal der Kirche mit
der rue de Vienne verbindet, zu verbreitern. Dabei stießen sie
in sechs Meter Tiefe auf den Kreuzgang eines unterirdischen
Rundgewölbes. Die von diesem ausgehenden Gänge waren infolge
von Bombenschäden blockiert. Daraus läßt sich vermuten,
daß dies vor dem Krieg nicht der Fall war. Die Arbeiter stießen
auf vier Sarkophage mit Skeletten. In unbegreiflicher Nachlässigkeit
wurden die Knochen weggeworfen, ohne daß man sich die
Mühe machte, die zuständige regionale Stelle der »Monuments
Historiques« zu informieren. Die Särge waren bereits leer, aber
noch nicht zerstört, als sie der Archäologe Eugene Anne untersuchte.
Er nahm die Maße, die genau denen der Sarkophage in
der unterirdischen Kapelle entsprachen, Lhomoys Entdeckung
zehn Monate zuvor. [122]
Tafel XV: Die acht Steine des bedeutendsten der symbolischen Sgraffitti der
Templer im Wehrturm von Coudray in Chinon
Tafel XVI: Gisors, Turm des Gefangenen. »O Mater Dei memento mei.
Poulain«
209
Dies sind die Gewißheiten, die sich auf Dokumente und Tatsachen
gründen. Wir übergeben sie kommentarlos den berufsmäßigen
Archäologen, der Gemeinde von Gisors, dem Staatssekretariat
der Schönen Künste, dem Kultusminister Andre
Malraux, jenem Konquistador der Archäologie, der einst im
Glauben an eine Legende das Flugzeug bestieg und die Stadt
der »Schwarzen Königin« entdeckte – Geliebte des Erbauers
des Tempels.
Vielleicht dürfen wir den Gewißheiten noch einige Wahrscheinlichkeiten
hinzufügen:
1. Bekanntlich wurde die Burg von Gisors auf der Stelle der
ursprünglichen Kirche erbaut. Es wäre keineswegs erstaunlich,
wenn sich dort zuvor ein heidnisches Heiligtum befunden hätte,
seinerseits wiederum Nachfolger einer megalithischen Kultstätte.
Dergleichen geschah häufig. Isis-Statuen, die in alten Krypten
standen, wurden in Schwarze Madonna umgetauft, beispielsweise
in Chartres, Le Puy, Saint-Germain-des-Prés. [123]
2. Sollte das zutreffen, so kann man annehmen, daß dieses
Heiligtum entweder von den Erbauern der Kirche bewahrt oder
von den Erbauern der Burg entdeckt, identifiziert und ihrem
hermetischen Bauplan eingefügt worden ist. Seine Existenz wurde
zweifellos deshalb geheimgehalten, weil sich hier irgendwelche
Gruppen mit Geheimriten versammelten, für die es sich seiner
Herkunft nach besonders eignete.
3. In dieser Eigenschaft können es viele für ihre okkulten
Praktiken benutzt und dort ihre Adepten begraben haben. Jedenfalls
wurde anscheinend hier ein wichtiger Schatz verborgen,
vielleicht Geld, bestimmt Archive, nachdem man zuvor alle Zugänge
zugemauert und getarnt hatte.
4. Das Geheimnis der unterirdischen Kapelle war esoterischen
Legenden anvertraut und offenbar an gewisse Korporationen
weitergegeben worden. Im 16. Jahrhundert wurde es aufgedeckt.
Man sieht, wie sich zu jener Zeit die Hinweise auf seine Existenz
in der Architektur wie in der Epigraphik vervielfachen. Von da
ab bis zu einem unbekannten, vielleicht gar nicht weit zurück210
liegenden Zeitpunkt kann die Kapelle von bestimmten Geheimgesellschaften
für die Aufnahme in die hohen Grade benutzt und
dementsprechend symbolisch eingerichtet worden sein. Es wäre
durchaus möglich, daß sich hier manche aus der Kirche stammende
Bilder wiederfinden, die seit der Revolution verschwunden sind.
Feststehende Tatsachen und Wahrscheinlichkeiten rechtfertigen
es vollauf, offizielle Ausgrabungen einzuleiten. Dadurch könnte
eines der erregendsten Geheimnisse aus Frankreichs Geschichte
erhellt werden. Unserer Meinung nach verursacht das nur geringe
Kosten. Nach den Angaben Lhomoys ist die Kapelle dreißig
Meter lang. Ihre Lage, vom Brunnen aus, ist bekannt, ebenso
der innere Durchmesser der Aufschüttung (70 Meter). Die dem
Altar gegenüberliegende Seite muß sich in einer Tiefe zwischen
4 Meter 50 und 9 Meter befinden. Auch hier bestätigt der Plan
Bourdets die Angaben von Lhomoy. Zwei Erdarbeiter würden
also achtundvierzig Stunden brauchen, bis sie die Kapelle erreichen.
Außerdem ist es durch die modernen Schallmessungen
möglich, einwandfrei zu bestimmen, wo gegraben werden muß.
Es nimmt wirklich wunder, daß dies bisher noch nicht geschehen
ist.
Doch in dieser Angelegenheit ist alles verwunderlich. Daß für
die verfolgten Templer und danach für bestimmte heterodoxe
Gruppen zwingende Gründe bestanden, die Kapelle geheimzuhalten,
als draußen noch Scheiterhaufen brannten, begreift
man sofort. Wie aber lassen sich die anspielungsreiche Vorsicht
Nodiers, das Verschwinden von Dokumenten aus öffentlichen
Bibliotheken, die aus einem Exemplar des Manuskripts von
Bourdet herausgerissenen zwölf wichtigsten Seiten, die Hast,
mit der man den von Lhomoy freigelegten Brunnen wieder zuschüttete,
die Erpressungen und Drohungen, denen er ausgesetzt
war, erklären?
Zum Schluß sei berichtet, daß zwei uns sehr gut bekannte
Journalisten eines Abends nach Gisors fuhren, um Nachforschungen
in dieser Sache anzustellen. Sie hatten über ihre Absicht
vorher in der Öffentlichkeit gesprochen. Unterwegs erlebten sie
die Überraschung, daß ihnen eine Kugel in den Wagen geschossen
wurde. Woher sie kam, ist unbekannt. Das geschah im Frühjahr
1960. Die beiden sind keineswegs abergläubisch und glauben
auch nicht an Gespenster. Deshalb beschlossen sie, das Begebnis
dem Zufall zuzuschreiben und darüber zu lächeln.
Sollte der Leser argwöhnischer sein, so könnte er daraus schließen,
daß der Schatz von Gisors recht beträchtlich sein muß, wenn
ihn heute noch derart rachsüchtige Drachen bewachen.
Paris, Oktober 1960 –November 1961
ANHANG, BIBLIOGRAPHIE
UND ANMERKUNGEN
215
Anhang I
ANSICHT EINES HERMETIKERS
Einige wenige Archäologen üben heute noch eine besondere Kunst
aus – sie entschlüsseln hermetische Baudenkmäler, öfter, als man
denkt, wenden sich zivile oder kirchliche Stellen, sogar Geheimdienste
an sie. Wir haben einem von ihnen, Pierre Plantard, acht
Fragen über Gisors vorgelegt. Hier sind seine Antworten, für die
wir ihm selbstverständlich die volle Verantwortung überlassen.
ERSTE FRAGE: Bietet die Stadt Gisors für einen Hermetiker [124]
irgendwelche Besonderheiten?
ANTWORT: Frankreich bildet mit seinen natürlichen Grenzen einen
sechseckigen Kristall, bei dem fünf von sechs Eckpunkten geographischer
Natur sind (Abb. 12). Schon in der Antike schrieb Strabon
über Gallien: »Wenn er dieses Werk der Vorsehung betrachtet,
vermag niemand daran zu zweifeln, daß sie dieses Land absichtlich
und nicht zufällig so geschaffen hat.«
Bourges, dessen nordischer Name »Gipfel« bedeutet, war die
Heimat berühmter Hermetiker und einst auch die Hauptstadt
Frankreichs. Erinnern wir uns, daß Johanna den König von Bourges
zum König von Frankreich machte.
Nimmt man Bourges als Zentrum eines Tierkreises für den
Westen, so läßt sich eine merkwürdige Ausstreuung der dreizehn
symbolischen Rosen des Rosenkranzes beobachten. Man stellt
fest, daß drei Punkte in gleicher Entfernung von Bourges liegen
und das hermetische Dreieck der »drei Köpfe« bilden: Jarnac,
das Tor des heiligen Jakob (lateinisch Jacobus); Montrevel, die
Höhle des Todes, bei Ars; schließlich Gisors, das Tor zum Reich
216
der Königin Blanka (Abb. 12). Diese drei Türen zu »bezwingen«,
bedeutet, daß man den silbernen Doppelschlüssel der Arche erlangt
hat.
Manche werden die Burg von Gisors baulich weniger attraktiv
finden als unsere majestätischen Kathedralen. Doch vielleicht birgt
sie in ihrer abstrakten Konstruktion ein in Frankreich einzigartiges
Kunstwerk. Sie hat durch die Jahrhunderte hindurch eine seltsame
Atmosphäre von Geheimnis verbreitet, ähnlich wie die
rätselhafte Kassiopeia, die Königin von Äthiopien, die Päpstin
des Tarot. Wer die Wendeltreppe des Wehrturms hinaufsteigt
und von oben über die Landschaft blickt, beginnt zweifellos über
das Rätsel, das zu seinen Füßen liegt, nachzudenken. Die alte
Hauptstadt des Vexin, das seinen Namen dem Stamm der Veliocasses
verdankt, war eines der sieben großen Lehen der Normandie
und ein auserwählter Ort. Der Name Gisors setzt sich zusammen
aus Gi (Zuflucht) und Sor (Strom), was etymologisch am
einleuchtendsten zu sein scheint. Um den Besitz der Festung entbrannte
zwischen Ludwig VI. und Heinrich I. ein Krieg, der die
lange Fehde Frankreichs mit England einleitete. Die bedauerliche
Abstumpfung von Zeit und . . . Menschen, ferner eine relative,
sogar gewollte Gleichgültigkeit haben diese erstaunliche Vergangenheit
zu Unrecht in Vergessenheit geraten lassen.
ZWEITE FRAGE: Falls die Burg von Gisors ein Rätsel verbirgt, in
welcher Form wäre es wohl verhüllt?
ANTWORT: Die Eingeweihten des Mittelalters drückten sich in
einer komplexen Sprache aus, die in verschiedene Symbole gekleidet
wurde. Wie nun die Struktur eines Gebäudes die Eigenschaften
einer prima materia offenbart, so ist der Stein in einem Kunstwerk
niemals unbehauen. Er nimmt seinen bestimmten Platz ein,
äußert sich stumm und doch beredt. Betrachten wir den behauencn
Stein, um zu entdecken, wie er sich im Bau übersetzt; darin wird
das Geheimnis der Architekten bewahrt.
DRITTE FRAGE: Also wäre die Festung von Gisors auf geheimen
Fundamenten errichtet worden? Von wem?
217
Abbildung 12: Das in dreizehn symbolische Zonen aufgeteilte »hermetische«
Frankreich, mit Bourges als Hauptstadt.
218
ANTWORT: Man mag gläubig sein oder nicht, jedenfalls muß man
die philosophischen und religiösen Auffassungen in Betracht
ziehen, die das Mittelalter zutiefst prägten. Außerdem muß man
durch graphische Darstellungen (bei einigen Gesellschaften bekannt)
die verschiedenen Proportionen der Baukunst zusammenfügen,
die ein Vordringen bis zum symbolischen Schatz des Gebäudes
ermöglichen. Nur mit Hilfe entsprechender Arbeitsinstrumente
vermag man das sublime Werk der Bruderschaften der
Steinmetze und Baumeister zu begreifen. Vergegenwärtigen wir
uns, daß ursprünglich die kleineren Geheimnisse der »Alten«
durch mündliche Überlieferung weitergegeben, die größeren Geheimnisse
der »Meister« unter dem Bildnis des »Goldenen Vlieses«
aufbewahrt wurden. Die Mitglieder richteten sich nach alten Bräuchen
und praktizierten Einweihungsriten, welche die Legenden
der Korporationen bis in die früheste Antike zurückverlegten.
Die Baumeister reisten häufig zu Schiff über Meer und Flüsse.
Einer ihrer bekanntesten Sitze in Frankreich war Paris, die am
meisten befahrenen Flüsse waren die Seine und die Rhone. Die
Nauten führten zu ihrer Kunst gehörende Instrumente mit sich,
unter anderem einen »Kopf mit doppeltem oder dreifachem Gesicht
«, die mathematische Regel der Proportionen. Das Bild wurde
unter Einhaltung strikter Vorschriften in einem Würfel aus »Mars-
Holz« geschnitzt, oft in Form eines Widderkopfes. Der bedeutende
Einfluß ihrer Kunst zeigte sich in allen großen Bauwerken.
Vom 8. Jahrhundert ab erfuhren die Lehren der Korporationen
durch verschiedenartige Strömungen Veränderungen. Allmählich
setzten sie sich in sämtlichen Ländern durch, wurden den nationalen
Überlieferungen einverleibt und brachten zahlreiche Sekten
hervor, die der Staatskirche häufig als ketzerisch galten. Dennoch
waren auch die Mönche ursprünglich oft Baumeister im Ordenskleid.
Die ersten Benediktiner verstanden sich hervorragend auf Entschlüsselung
und waren zudem große Baumeister. Im Jahre 529
gründete Benedikt von Nursia auf dem Monte Cassino den Benediktinerorden.
Das erste französische Kloster, das dieser Regel
unterstand, wurde zwischen 620 und 630 bei Albi errichtet, an
219
einem Ort namens Al-Taripa. Robert de Molesme stellte eine
neue Regel auf, die von Cîteaux in Burgund, die später Sankt
Bernhard berühmt machen sollte. Als 1128 der Templerorden
gegründet wurde, rekrutierten sich viele seiner Mitglieder aus den
Laiengilden sowie aus dem regulären Klerus. Von seinem Kreuzzug
hatte Ludwig VII. mehrere im Orient geweihte Mönche, Mitglieder
der Abtei von Notre-Dame von Jerusalem, mitgebracht.
Manche blieben in der Priorei Saint-Samson von Orléans, andere
traten dem Templerorden bei. Um 1161 zeigten sich Unstimmigkeiten
innerhalb des Ordens. Die Souveränität des Großmeisters
wurde nicht mehr einhellig anerkannt. Eine Spaltung bereitete
sich vor. Die englischen Templer spürten die Zersplitterung des
Ordens herannahen. Es gibt auch heutzutage noch Geheimarchive,
Eigentum bestimmter Gesellschaften. Aus ihnen geht hervor, daß
1188 »die Ulme gefällt wurde« und daß eine ihrer Wurzeln, der
»Ormus«, dessen Emblem ein rotes Kreuz und eine weiße Rose
war, der Ursprung des Rosenkreuzes sei. [125] Im Jahre 1188
ließen sich die Mitglieder des »Ormus« in Saint-Jean Le Blanc
nieder, in der Priorei des Berges Zion, unter der Schutzherrschaft
der Priorei von Saint-Samson von Orleans. Sie trieben einen besonderen
Madonnenkult. Ein Klosterleben gab es dort nie. Die
Tätigkeit dieser zweifelhaften, auf Einweihung basierenden geistlichen
Organisation entglitt der Kontrolle der Äbte von Saint-
Samson. Der letzte von ihnen wurde 1291 verfolgt und verdankte
seine Rettung nur der Flucht nach Sizilien. Dasselbe Schicksal
ereilte bald darauf auch den Templerorden. Im Jahre 1314 wurde
er aufgehoben.
Nach der Auflösung des Templerordens behauptet eine Überlieferung,
daß sich die Arche, das Schiff der Nauten, an einem
geheimen Ort – vielleicht in Gisors – verborgen hielte. Jedenfalls
wäre Gisors nicht der einzige Ort. Bei Dreux gibt es die
Ruinen der Burg La Roberlière (oder La Robardière). Sie wurde
von Robert I. erbaut. Pierre de Dreux (Johann III.) habe sie als
Zufluchtstätte vorgesehen.Dreimal im Jahr, nämlich am 25. April,
am 25. August und am 25. Dezember, begibt sich im Wald von
Dreux, der früher Wald von Crothais (Croth, keltisch: Grotte)
220
hieß, jeweils einer der »Dreizehn« an eine bestimmte Stelle, legt
ein Gewand aus Leinen und eine Mönchskappe an, »bewacht den
Schatz und teilt das Manna mit dem Unsichtbaren...« Daraus
ist die Legende vom Weißen Mann entstanden. Diese Wallfahrt
ist nicht abgeschafft. Ein anderer bekannter Ort ist Vernouillet,
wo man geheimnisvolle, im Wald »Clos du Seigneur« verborgene
Fässer fand, vergessene Vorräte aus dem Königshaus. Die Leute
glaubten, es handelte sich um Fässer voll Diamanten und Goldschmuck.
Die Phantasie des Volkes neigt zum Wunderbaren. In
Wirklichkeit scheint der Schatz eine hermetische Tradition zu
verbergen...
VIERTE FRAGE: Die Festung von Gisors wäre also nach einem
hermetischen Plan errichtet worden?
ANTWORT: Die Kunst des Großen Werkes, die das Mittelalter
beseelte, bestand darin, über die Beziehungen zwischen Himmel
und Erde, jener alchimistischen, chaotischen Erde, aus welcher
der philosophische Himmel erwachsen kann, zu meditieren.
Bereits Strabon schildert in seinem Meisterwerk – es besteht
aus siebzehn Büchern und war die erste große geographische
Enzyklopädie – einen Teil der Erdkugel, der sich vom äußersten
Norden (Bretagne und Gallien) bis zum äußersten Süden (Nilquellen)
und vom Heiligen Kap (Gibraltar) bis zur kaspischen
Meerenge erstreckte. Das Studium des Himmels durch die Priester-
Astronomen war noch weiter fortgeschritten. Es steht fest,
daß die Astronomie die älteste Naturwissenschaft ist und daß
»sich die Konzeption vom Mond um das Jahr 1000 vor unserer
Zeitrechnung in sämtlichen großen Reichen ungefähr gleicht«
(Paul Couderc, »Les Etapes de lastronomie«, Paris, 1955). In
der Abhandlung des Eudoxos aus Knidos, die im 4. vorchristlichen
Jahrhundert von Aratos von Soloi in Verse gesetzt wurde,
werden erstmalig 360 nördliche, 349 zodiakale und 317 südliche
Sterne aufgezählt, das sind insgesamt 1026 Sterne, die sich in
achtundvierzig Sternbilder gliedern. Sämtliche Kunstbauten wurden
nach dem Studium des Himmels errichtet, verbunden mit
mathematischen (Verwendung der Zahlenquadrate, der sogenann221
ten »magischen«) sowie hermetischen (symbolische Interpretation
von biblischen und mythologischen Erzählungen) Gegebenheiten.
Da wichtige Bauten nicht das Werk von einzelnen Personen sein
konnten und da die Praxis der Baukunst eine berufliche Einweihung
erforderte, arbeiteten die Meister im geheimen. Schon
das römische Gesetz hatte Baumeisterkollegien, die Bauhütten,
geschaffen. Sie waren damit beauftragt, sämtliche öffentlichen
Arbeiten auszuführen, und »die Architekten sämtlicher religiöser
Bauten der römisch-katholischen Kirche bezogen ihre Kenntnisse
aus einer gleichen Schule, gehorchten den Gesetzen einer gleichen
Hierarchie« (M. Hope, »Histoire de larchitecture«).
Zu Anfang war alles religiös geprägt. Die Baumeister übten
ein heiliges Amt aus, wenn sie die Steine behauten und zu sakralen
Monumenten zusammenfügten. Bald versuchten sie, mit
Hilfe ihrer Kunst eine Lehre zum Schutz gegen Zerstörung zu
schaffen. Sie betrachteten das Universum als gewaltigen Bauplatz.
Die zu Konstellationen gruppierten Sterne waren nicht mehr
einfache Anhaltspunkte, nach denen ihre Vorfahren Menhire
errichtet hatten, sondern vielmehr ein Band, durch das sie Gott
mit dem Werk der Menschen »vereinen« konnten. Den idealen
Tempel mit der Himmelsleiter zu verwirklichen, hieß, die Sternbilder
untereinander im geometrischen Verhältnis zu verbinden,
und zwar mit Hilfe von Lineal, Zirkel und Winkelmaß. Wunderbarer
Traum Jakobs auf dem Stein: »Hier ist nichts anderes
denn Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels«, oder
auch die Inschrift auf dem Sockel des Standbilds von Sankt
Petrus in der Abtei von Solesmes:
Denkt nach über das Gotteswort
Der Stein
Auf ihm erbaut
Bin ich unerschütterlich.
Nach dem alten heidnischen Glauben kreisten die Sternengötter
in Wagen unter dem Himmelsgewölbe. Drei Wagen wurden als
heilig angesehen:
1. Der Große Wagen, von den Christen Wagen Davids, von
222
den Galliern Artos (Bär) genannt, der Große Bär, der aus sieben
Hauptsternen bestand. Die Römer erblickten darin sieben Ochsen,
deren Hüter der Bootes war. Septem triones, daher der Name
Septentrion, Norden, auch unter dem Namen Helix [126] bekannt.
Das ist das Brett, auf dem die Bauteile aufzuzeichnen
sind, das Quadrat von drei, auf dem die Toskana sitzt.
2. Der Kleine Wagen, an den sich ebenfalls eine reiche Symbolik
knüpft. Er war der Karren des Bauern, dessen »Arbeit die
Räder dreht«, der Phönix, der sich selbst verbrennt und aus der
Asche wiederaufsteigt; der flache Stein oder Quadrat von fünf;
der Kleine Bär der Neuzeit; die Aloe, die das Leben schenken
kann, wenn man sie zum Opfer darbringt; der »Triumphwagen
des Antimons« des Alchimisten Basilius Valentinus. Der Rumpf
dieses Wagens war unsichtbare Stütze für das, was auf dem
Schild Vulcans sichtbar war, wie ihn die »Ilias« beschreibt
(Gesang XVIII).
3. Der Wagen der Meere war das Weiße Schiff der Juno mit
dreiundsechzig Lichtern, von denen Canopus, das erhabene Auge
des Architekten, sich alle siebzig Jahre öffnet, um das Universum
zu betrachten; das Schiff Argo, auf dem sich das Goldene Vlies
befindet; im Christentum der bescheidene Nachen Petri. Es ist
die symbolische Arche, in die kein Profaner ungestraft gelangen
kann: »Dem Heiligtumsschänder die Erniedrigung, dem Dieb
der Tod in einem Jahr.« Gefahrlos kann hier nur derjenige eintreten,
der zu arbeiten und den Würfel aus Mars-Holz zu vollenden
vermag, diesen magischen »Würfel«, welcher der Obhut
von zwei Kindern anvertraut ist: Castor und Pollux.
Das Rätsel von Gisors ist also sehr wohl dieser »dreimal erneuerte
Zufall«, diese Dreieinigkeit, die das Wunder des Nikolaus
ermöglicht. Zwei Kinder sind bereits da, ein drittes wird
einmal im Jahr wiedergeboren, am 25. Dezember ...
FÜNFTE FRAGE: Den Alchimisten zufolge war das Große Werk
nur zu bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten, unter Berücksichtigung
eines bestimmten Himmelsstandes zu verwirklichen.
Wenn man annimmt, daß alchimistische Theorien den Bau der
223
Burg von Gisors beeinflußt haben, was läßt sich daraus
schließen?
ANTWORT: Einst war der 25. Dezember der Tag, an dem die
Adepten des Mithras das »Sol Invictis«, die Wiedergeburt der
unbesiegten Sonne, feierten, der Augenblick, da die Druiden die
Mistel pflückten, den goldenen Zweig. Vom 4. Jahrhundert ab
führte die christliche Kirche allgemein den Brauch ein, die Rückkehr
des Königskindes zu verherrlichen, wenn die Sonne nach
ihrer größten Entfernung vom Äquator wieder höher zu steigen
scheint: zur Wintersonnenwende.
Das Vorrücken der Tagundnachtgleichen oder das Große Jahr
des Platon ist seit der Antike bekannt. Hundertachtundzwanzig
Jahre vor unserer Zeitrechnung hatte bereits Hipparch den Punkt
auf der Ekliptik mit 174° von der Spitze der Jungfrau festgelegt.
1862 fand ihn Maskelyne bei 201° 4 wieder. Hierzu
schrieb Virgil in einem IV. Hirtengedicht: »Nun da die Jungfrau
wiederkehrt, wird die große Ordnung der Jahrhunderte Wiederbeginnen,
und die großen Monde werden ihre Bahn wiederaufnehmen.
« Durch das Vorrücken der Tagundnachtgleichen fallen
die Sternbilder und die entsprechenden Tierkreiszeichen seit langem
nicht mehr zusammen. Wir treten heute am 20./21. März nicht
mehr in das Zeichen des Widders, wie die Astrologen behaupten,
auch nicht in das der Fische, sondern in das des Wassermanns.
Für einen Beobachter des Himmels, der sich an einem 24. Dezember
um Mitternacht zwischen den Jahren 1100 und 1170 in
Gisors befand, war Norden im Schützen, Süden in den Zwillingen,
Westen 0° vom Widder und Osten in der Jungfrau, die
Fische also 347° westlich und die Jungfrau östlich. Es ergibt sich
also ein verblüffendes Resultat, wenn man den Himmelsstand
auf die Burg von Gisors überträgt. Ein zufälliges Zusammentreffen
ist höchst unwahrscheinlich.
SECHSTE FRAGE: Gibt es eine hermetische »Signatur« in dem Bau?
ANTWORT: Eine Signatur ist individuellen Arbeiten vorbehalten.
Gisors war aber das Werk einer Schule. Das Gebäude trägt keine
Signatur, sondern vielmehr ein Siegel – das »Siegel der Arche« –
224
und erscheint als seltsame Karavelle, die sich aus der graphischen
Darstellung des Kleinen und des Großen Wagens zusammensetzt.
Bereits die Chaldäer wußten mit Zahlen viele Operationen
durchzuführen. Sie lösten algebraische Aufgaben ersten und zweiten
Grades (vgl. H. G. Leuthen, »Histoire des Mathématiques«).
Seit Ende des 8. Jahrhunderts befaßten sich die Araber mit »magischen
Quadraten«, bei denen die Summen der waagerechten und
senkrechten Reihen sowie der Diagonalen gleich sind. In Gisors
finden wir diese Quadrate in der Himmelsgeometrie wieder.
Darüber hinaus aber kann man auch den unsichtbaren Teil entdecken,
das heißt »den Augen der Profanen verborgen«, und zwar
dank dem »magischen Würfel« aus 7. Er besteht aus 343 Zahlen,
147 Seiten und 46 Diagonalen, davon 4 kubische. Die Lösung dieses
Würfels ergibt in sämtlichen Richtungen stets 1204. Die Meister
(Alchimisten oder Baumeister) des Mittelalters kannten das
Geheimnis dieses »Sonnenwürfeis« – wahrhaft ein mathematischer
Stein der Weisen.
Das Zahlenspiel der Quadrate erlaubt, diesen Würfel aus 7
genau zu placieren. Nur in einer einzigen Position läßt sich der
geheime Eingang wiederfinden, das unterirdische Ganze wiederherstellen.
Eine einzige Position erlaubt, den Weg zu verfolgen,
der dann »den Auserwählten nach Westen« führt, jenseits von
Gisors, zu einem weiteren Geheimnis... Ja, der dreimal erneuerte
Zufall verwandelt die Raupe in einen Schmetterling.
Unter der Aufschüttung läßt sich mit Sicherheit das Vorhandensein
eines Heiligtums und verschiedener Bauten errechnen. Übrigens
wies Basilius Valentinus, Benediktiner und Alchimist, wenn
er vom »Pilger« oder »Reisenden« spricht, darauf hin: »Er muß
sechs himmlische Städte durchwandern, ehe er in der siebenten
seinen Wohnsitz nimmt.« Wer zu meditieren weiß, für den ist
diese Formel deutlich.
SIEBENTE FRAGE: Gibt es in der Kirche von Gisors, in der Burg, in
der Umgebung keine Hinweise, welche die Schritte des »Pilgers«
lenken könnten? Ist der Weg niemals offen gewesen?
ANTWORT: Die Lösung findet sich in der Lehre, hinter dem Schleier,
225
neben der Toskana, die den Verlust ihrer Tochter und des geliebten
Wesens beklagt. Jede wichtige Gestalt der Bibel, die zum
Stammbaum Christi gehört, stellt keinen Menschen dar, sondern
von Abraham bis David einen religiösen Zeitabschnitt. Und von
David ab – dem Meister des Wagens – eine kurze Periode der
Teilung. Abram, Sohn des Widders, wird Abraham der Jude, der
über die Menge erhobene Stammvater; Isaak, das Sühneopfer,
symbolisiert den Stier; Jakob und Esau die Zwillinge. Erinnern
wir uns, daß Rahel (hebräisch: Weibchen des Widders) auf Lea
folgte (hebräisch: Weibchen des Stiers). Jakob sollte sich später
Israel nennen. Das Emblem seines Volkes war das Hexagramm.
Esau sollte Ismael werden, legendärer Stammvater der Mohammedaner,
die als Emblem das Pentagramm nahmen.
So tut sich das Tor zum Haus Gottes auf. Wir bemerken bereits
auf der Fassade der Kirche Saint-Gervais et Saint-Protais von
Gisors die Jakobsleiter, dann zwei Türme, auf jeder Seite einen.
Im ersten, den Dorival als »vollkommen und ohne Tadel« bezeichnet,
befanden sich 1536 »zwölf Bilder in Gestalt der Apostel,
dazu ein Bild Unseres Herrn« (Rechnungsbücher der Kirche für
das Jahr 1536) – also dreizehn Statuen. Der andere Turm, genannt
»Tour du Rosaire, de la Rose« – Turm des Rosenkranzes,
der Rose – (der Ausdruck ist für den Eingeweihten klar) »ist unvollendet
geblieben«, sagt ebenfalls Dorival.
Um die Schritte besser zu lenken, schrieb Dorival folgende Zeilen
zu dem Quadrat von 3 (dem »Brett«):
»... ist überall geschmückt
von einem End zum ändern mit feinem Schlangenzierat.
Auf der viereckigen Säulenplatte sitzt Toskana,
die, dem Bauherrn zufolge, sich in neun Teile teilt.«
Selbstverständlich entspricht das nicht einer Beschreibung des
Turmes, denn das würde unerklärliche Irrtümer geben. Der
Widerspruch zur Wirklichkeit ist vielmehr gewollt und beweist
die Absicht des Verfassers, den Reisenden zu führen. Der esoterische
Sinn mancher Verse ist sogar bestechend:
226
»... vom Rosenkranz, woher sein Name stammt,
von Mittag her der lichtbringende Wagen
zieht geflügelten Schrittes seine gewohnte Bahn,
läßt das Innere leuchten, daß ich jetzt schweigen will.«
Im Innern des Gebäudes hütet eine in die Mauern eingelassene
Kapelle einen Marmorleichnam. Er stellt den esoterischen Verzicht
dar, Symbol der philosophischen Einweihung dritten Grades.
Das eine Bein des Toten bildet mit einem Schleier ein liegendes
IS (die verborgene Mutter), die Arme bilden das Andreaskreuz,
den griechischen Buchstaben χ, Symbol der Taube, die stets
im Flug mit ausgebreiteten Flügeln dargestellt wird. Geist, Atem,
Alchimist, Aus- und Einatmen, die beiden Augen des Octopus...
So spricht der Tote, den Kopf zu Boden gesenkt, zu dem Eingeweihten,
vertraut ihm das Geheimnis des heiligen Ortes an.
Eine Inschrift und ein Datum vervollständigen die Hinweise.
Der Reisende kann einen Augenblick vor dem Nordportal der
Kirche verweilen, wo einst eine Madonna stand. »Tue, was du
wünschen wirst«, wurde ihm geraten. Doch er weiß, daß dort
nicht der richtige Weg liegt. Der Anblick von Jesus, dem Gefangenen
des Kreuzes, unweit von dem Toten ruft ihm ins
Gedächtnis, daß die 40 des Stammbaums Christi Mem ist, der
dreizehnte Buchstabe des hebräischen Alphabets. Er wird sich
zum Turm des Gefangenen begeben. An den Wänden des Verlieses
wird er die Darstellung des Toten mit derselben Inschrift
finden, dazu noch drei weitere Steine: der Weg ist bereits offen
gewesen.
Neuerlich auf sich selbst gestellt, hat der Reisende die Wahl:
entweder in dieses Mysterium einzudringen oder eine letzte
Reise neben dem Wehrturm zu unternehmen. Zweifellos wird
der Pilger an einem 24. Dezember um Mitternacht im Innern
des Wehrturms nachdenken. Vielleicht sitzt er dabei im Schnee,
der mit seinem königlich weißen Mantel Gisors bedeckt. Durch
die Schießscharten wird er die Teile des Sternenhimmels deutend
zu erforschen suchen, und seine Augen werden am Sternbild der
Zwillinge stehenbleiben ...
227
Nun erfüllt sich vielleicht das Wunder. Wie Jakob wird der
Reisende einen sonderbaren Traum haben: »Zweifach wird ihm
Johannes erscheinen, der eine Menschensohn – Cernunnos; der
andere Gottessohn – Smertullos. Beide erwarten die Ankunft
des dritten. Denn während er das Innere leuchten läßt, sieht
er wieder Johannes mit der Muschel, der Jesus tauft. Die Taube
ist dabei, und dann noch Johannes, der Evangelist des Kreuzes,
der Lieblingsjünger Jesu.« [127] Nun ist der Pilger sicher, daß
»hier die Himmelspforte, das Haus Gottes ist«.
ACHTE FRAGE: Kann man aus allen zuvor erwähnten Faktoren mit
Sicherheit schließen, daß Gisors einen seit Jahrhunderten verlorenen
Schatz besitzt?
ANTWORT: Oben vom Wachturm des Wehrturms hat der Besucher
Aussicht auf ein Panorama, das die Vergangenheit besonders
lebhaft heraufbeschwört: Im Norden der Mont de lAigle (Adler
des Himmels), im Süden die Kirche Saint-Gervais et Saint-Protais,
hinter ihren beiden Türmen Montjavoult (Berg des Jupiter)
und in der Ferne, immer in Verlängerung der Kirchtürme, Montmartre,
darüber die weiße Kuppel von Sacré-Coeur. Im Westen
Neaufles, und in einer Wiese, in die Erde gerammt wie ein Mahnmal,
ein Kreuz aus durchbrochenem Stein: das Templerkreuz.
Im Osten das historische Feld der 1188 gefällten Ulme ... Der
Reisende begreift nun, welch seltsame Transfiguration der Pläne
diese einmalige Situation gestattet. Er bemerkt die den Templern
teure Form des Wehrturms sowie seiner Innenwand. Der Weg
zur Nachforschung steht offen. Man spürt das Verlangen, die
merkwürdigen Gitter zu entschlüsseln, die durch die Schießscharten
gebildet werden.
Da er seinen Besuch bei den heiligen Stätten begonnen hat,
ruft er sich den Spruch »O MATER DEI MEMENTO MEI«
ins Gedächtnis: 19 Buchstaben. Für den Herrnetiker ist nun 19
die Zahl, die von jeher der Sonne zugeordnet wird.
Von den vielen Lösungen des Quadrates aus fünf Zahlenreihen
ist nur eine als hermetisch zu bezeichnen, nämlich diejenige, in
der die Zahl 19 nicht den Platz wechselt.
228
Die erste Arbeit der Kunst besteht in folgendem: man muß
es verstehen, den Faden so in 25 Felder abrollen zu lassen, ohne
jemals an die Sonne zu rühren, daß man in allen Reihen die
Summe 65 erhält, und dann das Doppelkreuz als Gitter zur
Entschlüsselung benutzen.
Darauf ist eine Arbeit der Vervollkommnung vorgeschrieben:
man muß das entsprechende Quadrat ROTAS richtig anpassen,
das bei einem Besuch in Jarnac entdeckt wurde und dessen griechische
Übersetzung (bibliothèque nationale, griechisches Manuskript
2511) lautet: »Der Sämann ist auf dem Karren; die
Arbeit beschäftigt die Räder.«
In den Ausschnitten des Kreuzes erscheinen nun:
– die Zahlen 13, 14, 16 und 19,
– die Buchstaben N, E, A und P.
Wenn man drei Pentagramme zeichnet (wobei die Zahl 3 in
der Mitte steht und das Quadrat aus 5 gebildet wird), kann man
in dem Doppelkreuz die Worte lesen: TAROT, ARTOS, PORTA
und die Unterschrift des Templerordens: O.T.
Es ist festzuhalten, daß dieser Doppelschlüssel in allen hermetischen
Bauwerken verwandt wurde.
229
Sämtliche Bauten erfordern außerdem die Anwendung des »Brettes
«, des Quadrats aus 3, und der Reisende weiß das ebenfalls.
So bestimmt man die Lage der »Türen« (PORTA).
Man entdeckt nun:
230
Drei bildet den Winkel und P (oder 19) den Punkt. Damit
vermag man das königliche Stück, »das die Bohne enthält«, zu
lesen, nämlich
die Buchstaben A (Abraham), E (Esrom), N (Noasson) und
P (Phares) führen zu J (Jesus), das heißt vier astronomische
Anhaltspunkte von ARTOS, dem Wagen Davids oder Hauptstammbaum
Christi, der arn 24. Dezember in der Mitternachtsmette
verlesen wird. (Man beachte die Übereinstimmung mit
der auf den Schatz bezüglichen Legende.) Die Zahlen 16, 14,
13 und 19 sind nach dem Symbolismus des TAROT zu verwenden.
(Man beachte das Zusammentreffen von 16 + 14 = 30
Truhen, 13 Statuen und 19 Sarkophage.)
Die Templer (O. T.) haben in Gisors ihr Siegel hinterlassen.
Und da ARTOS den Reisenden auffordert, den Himmel zu
betrachten, dessen PORTA durch den Anhaltspunkt des Stammbaums
Christi das Datum auf den 24. Dezember um Mitternacht
festlegt, braucht er nur noch den Himmelsstand zu diesem Zeitpunkt
während der Bauperiode des Schlosses zu rekonstruieren.
Man kann feststellen, daß dessen astronomische Orientierung
vollkommen ist, sogar einschließlich der Einsetzung des Orients.
Somit bestätigt sich im nachhinein die Exaktheit der Entschlüsselungsmethode,
mochte diese auch seltsam erscheinen.
Man sieht, daß zwei Quadrate, eines aus 5 und das andere
aus 3 (die Gitter), jeweils dem Großen und dem Kleinen Bären
entsprechen. Der Wagen der Meere oder das Schiff, das unter
der Erde verborgen ist, korrespondiert mit keinem Quadrat, sondern
mit einem Würfel aus 7, da er den Goldenen Kopf enthält
(Abb. 13).
Die Zahl 7 des Quadrats aus 5 stimmt genau mit der Innenwand
des Wehrturms überein und legt die Stellung des Würfels
fest, dessen Seiten 7 mal 3,20 messen = 22 Meter 40.
Dieser Würfel ergibt in allen Richtungen die Lösung 1204.
Seltsamerweise muß man nun feststellen, daß die dritte senkrechte
Reihe auf der Südseite (Abb. 13) folgendes ergibt:
231
51 (das heißt zerlegt) 5+1= 6 oder N
312 „ „ „ 3+1+2= 6 „ N
100 „ „ „ 1+0+0= 1 „ A
130 „ „ „ 1+3+0= 4 „ L
263 „ „ „ 2+6+3= 11 „ U
304 „ „ „ 3+0+4= 7 ,, O
44 „ „ „ 4+4= 8 „ P ––––
1204 POULANN [128]
Nun befindet sich im Turm des Gefangenen ein N. POULAIN.
Der hinzugefügte Buchstabe I entspricht der Zahl 9.
Jemand, der im Verlies des Turmes eingeschlossen war, wußte
von der Existenz des Geheimnisses und vielleicht noch von einem
anderen, außerhalb von Gisors. Wie dem auch sei, der Buchstabe I
hat seine Bedeutung. Das ist der Weg, die Säule, die Leiter, der
letzte Schlüssel, um den Gefangenen zu befreien. »Nur Mut! Noch
ein paar Stöße, und der Schatz, mit so viel Tränen und Blut erkauft,
gehört dir.« [129]
Der Reisende findet beim Besuch im Turm des Gefangenen
ebenfalls in Stein gehauen einen Sankt Nikolaus und ein Datum
(andere Seite des Würfels): 1575. Nikolaus heißt auf griechisch
Sucher des Steines. Er ist es, der die drei Kinder wieder erweckt.
Wo sind die drei Kinder? Am 24. Dezember halten Kastor und
Pollux pünktlich die Verabredung mit dem Dritten ein. Sie stehen
oben an der Würfelreihe, die POULANN ergibt. Dort befand
sich einst der Burgbrunnen.
Wie läßt sich der Bau einer Kapelle unter dem Wehrturm erklären?
Die Wahrheit ist schnell gefunden – die Kapelle war vor
dem Wehrturm vorhanden. Sie hatte einen normalen Eingang
nach Westen und einen im Süden, neben dem Chor. Der Wehrturm
ist später entstanden, ebenso die Aufschüttung.
Der Westeingang ist zugemauert worden, und der südliche
führt in unterirdische Gewölbe, die einmal in Richtung auf den
Turm des Gefangenen und einmal in Richtung auf die Kirche von
Gisors und auf Neaufles verlaufen.
Der Reisende kann nun das Geheimnis sehr christlich in folgenAbbildung
13
der einfacher Legende zusammenfassen: »Der Schatz gehört demjenigen,
der ihn in den wenigen Augenblicken entdeckt, die das
Verlesen des Stammbaumes Jesu während der Christmette dauert.
Er fürchtet sich nicht vor dem Drachen, der die Gitter und die
Eisentür bewacht.«
Hier ist die Zahl der 3 mal 14 Generationen, aus denen der
Stammbaum Christi besteht.
Hauptlinie: 13
Nebenlinie: 13
13
39
––––
Jesus: 1
––––
40
Man kann sich fragen, welche Bedeutung der Schatz haben mag,
wenn er einem derart furchtbaren Geheimnis anvertraut wurde,
das den Jahrhunderten und den Menschen getrotzt hat.
*
Der rätselhafte Charakter dieser acht Antworten fügt sich gut
in die seltsamen Texte ein, die das jahrhundertealte Mysterium
von Gisors dem Pfarrer Denyau, dem Töpfer Dorival, dem Akademiker
Nodier eingegeben hat. Wie jene werden sie manchen
zum Träumen, andere zum Nachdenken anregen. Und schon aus
diesem Grund erscheinen sie uns wert, dem Leser vorgelegt worden
zu sein.
234
Anhang II
ZEITTAFEL
1066 Roger Montgomery, Großmeister der englisdien Freimaurer.
1090 Thibaud Payen, Herr von Gisors, entwirft die Befestigung
der Stadt.
1096 Erster Kreuzzug.
1097 Robert de Bellême, Sohn von Roger Montgomery, beginnt
mit dem Bau der Burg von Gisors.
1099 Die Kreuzfahrer erobern Jerusalem.
1100 Heinrich I., Beau Clerc, wird König von England. Er wird
zum Großmeister der englischen Freimaurer gewählt.
1106 Heinrich I. setzt den Bau der Burg von Gisors fort.
1110 Krieg zwischen Frankreich und England um den Besitz von
Gisors.
1113 Kurzer englisch-französischer Friede in Gisors.
1118 Hugues de Payen und Bisol de Saint-Omer gründen in Jerusalem
den Tempelritterorden.
1135 Heinrich I. stirbt auf der Jagd bei Gisors.
1144 Gisors wird König Ludwig VII. von Frankreich abgetreten.
1154 Heinrich II. Plantagenet König von England.
1155 Bertrand de Blanquefort, Großmeister der Templer, wird
zum Großmeister der englischen Freimaurer gewählt.
1158 Drei hohen Würdenträgern des Templerordens wird die
Obhut über die Burg von Gisors übergeben.
1161 Die Templer von Gisors werden in effigie gehenkt.
1169 Jean de Gisors trifft Thomas Becket in Gisors.
235
1180 Beginn des Kreuzzuges gegen die albigensischen Katharer.
Graf Raymond V. von Toulouse leistet Heinrich Plantagenet
den Lehnseid.
1184 Heinrich II. Plantagenet vollendet den Bau der Burg von
Gisors.
1187 Saladin erobert Jerusalem von den Kreuzfahrern zurück.
1188 Der Dritte Kreuzzug wird in Gisors gepredigt. Heinrich II.
Plantagenet und Philipp II. August treffen sich hier. Die
»Eiserne Ulme« wird gefällt. Errichtung eines Kreuzes.
1189 Tod Heinrichs II. Plantagenet. Richard Löwenherz König
von England.
1193 Philipp II. August erobert Gisors zurück.
1198 Schlacht von Gisors zwischen Richard Löwenherz und Philipp
II. August. Die Stadt wird wieder englisch. Innozenz
III. Papst.
1199 Richard Löwenherz wird in Chalus getötet. Heinrich III.
wurde 1216 König von England.
1200 Johann ohne Land überläßt Gisors dem König von Frankreich.
1204 Die Kreuzfahrer erobern Konstantinopel.
1239 183 Katharer bei lebendigem Leib in Montwimer in der
Champagne verbrannt.
1244 Fall von Montségur. 200 Katharer lebendig verbrannt.
1247 Guillaume de Sonnac, Großmeister der Templer, schickt
unter starker Eskorte eine geheimnisvolle Fracht an den
König von England.
1272 Tod Heinrichs III. von England.
1285 Philipp der Schöne König von Frankreich.
1291 Katastrophe von Akkon. Die Kreuzfahrer verlieren ihre
sämtlichen eroberten Gebiete an den Sultan von Ägypten.
Die Templer ziehen sich nach Zypern und nach Europa
zurück.
1305 Bertrand de Got wird als Clemens V. zum Papst gewählt.
1307 13. Oktober: Philipp der Schöne läßt alle Templer in Frankreich
verhaften. Am Vorabend haben sich zwölf Templer
aus Paris mit einem Teil des Ordensschatzes in Richtung
auf die Küste geflüchtet. Die Templer von Gisors entgehen
der Verhaftung.
27. Oktober: Protest Clemens V.
30. Oktober: Protest des Königs von England.
17. November: Clemens V. schwenkt um und ordnet die
Verhaftung aller Templer in Europa an.
21. Dezember: Philipp der Schöne sequestriert das Eigentum
der französischen Templer.
1308 Der König von Frankreich und der Papst streiten sich um
die Führung des Prozesses gegen die Templer.
27. November: Philipp der Schöne befiehlt die Verhaftung
der Templer von Gisors. Der Ausgang dieses Unternehmens
ist unbekannt.
1311 Die Bulle »Vox in excelso« hebt den Templerorden auf.
1314 18. März: der Großmeister Jacques de Molay wird lebendig
verbrannt.
April: Der Templer Simon de Macy, der einzige, der nicht
vor Gericht stand, wird durch Philipp den Schönen in der
Burg von Gisors gefangengesetzt.
20. April: Tod Clemens V.
29. November: Tod Philipps des Schönen.
1318 54 Templer lebendig in Vincennes verbrannt.
1359 Blanka von Evreux, Burgherrin von Gisors.
1419 Der Herzog von Clarence nimmt Gisors, das wieder englisch
wird.
1449 Gisors wird endgültig französisch.
1946 Roger Lhomoy erklärt, er habe unter dem Wehrturm von
Gisors eine Krypta entdeckt, die 30 Truhen, 19 Sarkophage
und 30 Statuen enthielte.
237
BIBLIOGRAFIE
Allgemeine Werke
Chevallier, Ulysse: ›Répertoire des sources historiques du moyen âge« —
Register der historischen Quellen des Mittelalters — Paris, 1910,
5 Bände.
Dom Félibien und Dom Lobineau: »Histoire de Paris« — Geschichte von
Paris — Paris, 1714, 5 Bände.
Ghyka, Matila: »Le Nombre dor: rites et rythmes pythagoriciens dans le
développement de la civilisation occidentale« — Die Goldene Zahl:
pythagoreische Riten und Verse in der Entwicklung der abendländischen
Zivilisation — Paris, 1952, 2 Bände. (Hervorragendes Werk mit
reichhaltiger Dokumentation.)
Grousset, Rene: »Histoire des croisades«, Paris, 1935 — Geschichte der
Kreuzzüge.
Michelet, Jules: »Documents pour servir â lhistoire de France: le procès des
Templiers« — Dokumente zur Geschichte Frankreichs: der Prozeß
der Templer — Paris, 1841—1851, 2 Bände.
Migne: »Encyclopédie théologique« — Theologische Enzyklopädie.
Templer
Bolle, J. H.: »Le Temple, ordre initiatique du Moyen Age« — Der Temple,
mittelalterlicher Orden mit Einweihungsriten — Genf, 1931.
Carrière, V.: »Les Templiers de Provins et les débuts de lOrdre du Temple
en France« — Die Templer von Provins und die Anfänge des
Templerordens in Frankreich — Paris, 1919.
Guery, Abbe Charles: »Les commanderies des Templiers dans le département
de lEure« — Die Komtureien der Templer im Departement Eure —
Evreux, 1903.
Heckethorn: »The Secret Societies of All Ages« — Die Geheimgesellschaften
aller Zeiten — London, 1875, 2 Bände.
Lambert, Elie: »Larchitecture des Templiers« — Die Architektur der
Templer — Paris, 1955.
238
Lizerand, G.: »Clément V et Philippe le Bei« — Clemens V. und Philipp
der Schöne — Paris, 1910.
»Le dossier de laffaire des Templiers« — Das Dossier des Templerfalles
— Paris, 1923.
Maillard de Chambure, Gh.: »Regle et Statuts secrets des Templiers« — Regel
und Geheimstatuten der Templer — Dijon, 1840.
Melville, Marion: »La vie des Templiers« — Das Leben der Templer —
Paris, 1951. (Vollständige, objektive Arbeit, angenehm zu lesen, Dokumentation
nach dem neuesten Stand.)
Naudon, Paul: »Les origines religieuses et corporatives de la francmaçonnerie
« — Die religiösen und korporativen Ursprünge der Freimaurerei
— Paris, 1953. (Eine der seltenen seriösen Arbeiten über dieses
sehr umstrittene Thema.)
Ollivier, Albert: »Les Templiers«, Paris, 1958.
Piquet, Jules: »Des banquiers au Moyen Age: les Templiers« — Bankiers im
Mittelalter: die Templer — Paris, 1939.
Gisors
Es ist keinerlei Bibliographie über die Werke vorhanden, die sich mit der
Stadt Gisors beschäftigen. Wir hoffen, manchem Leser des vorliegenden
Buches einen Gefallen zu erweisen, wenn wir diese Lücke schließen. Die
Werke oder Dokumente, die verschwunden oder in den Bibliotheken oder
öffentlichen Archiven verstümmelt worden sind, haben wir mit folgendem
Zeichen (O) versehen.
Anne, Eugene: »Gisors, son histoire, ses monuments« — Gisors, seine Geschichte
und seine Baudenkmäler — Gisors, 1938.
Bernard, F. C.: »Notice sur le château de Gisors« — Beschreibung der Burg
von Gisors — Paris, 1884
Blangis, L. N.: »Le prisonnier de la tour de Gisors« — Der Gefangene im
Turm von Gisors — Elbeuf, 1873.
Bosquet, Amélie: »La Normandie romanesque et merveilleuse« — Die wunderbare
Normandie — Rouen, 1845.
Bourdet, Alexandre: »Remarques sur lhistoire de Gisors« — Anmerkungen
zur Geschichte von Gisors — aus dem Jahre 1696 datiertes Manuskript,
Privatarchive (O).
Canel, Andre: »Armorial des villes de Normandie« — Wappenbuch der
Städte der Normandie — Caen, 1885.
Caresme und Charpillon: »Itinéraire de Gisors â Pont-de-1Ardie« — Weg
von Gisors nach Pont-de-1Arche — Gisors, 1869.
Charpillon: »Gisors et son canton: statistique, histoire« — Gisors und sein
Landkreis, Statistik, Geschichte — Les Andelys, 1867.
Chapotin, Le R. P.: »Etudes historiques sur la province dominicaine de
France: un eure dominicain de Gisors« — Historische Studie über das
Gebiet der Dominikaner in Frankreich: ein Dominikaner-Pfarrer von
Gisors — Paris, 1890.
239
Clérambault, E. de: »Les enceintes fortifiées: le donjon de Gisors« — Die
Festungsgürtel: der Wehrturm von Gisors — Beauvais, 1900.
Delisle, L.: »Le testament de Blandie dEvreux« — Das Testament der
Blanka von Evreux, Paris.
Denyau, Robert: »Histoire polytique de Gisors« — Politische Geschichte
von Gisors — Aus dem Jahre 1629 datiertes Manuskript, Archives
de la Seine-Maritime (O).
Deville, Achille: »Notice historique sur le château des Gisors pendant la
domination normande«, Mémoires de la société des antiquaires —
Historischer Bericht über die Burg von Gisors während der normannischen
Herrschaft. Abhandlung der Gesellschaft der Altertumsforscher
— Band IX, Caen, 1835.
Dion, A. de: »Notice sur le château de Gisors« — Bericht über die Burg
von Gisors — Pontoise, 1868.
Dorival, Antoine: »Tableau poétique de léglise de Gisors« — Poetisches
Bild der Kirche von Gisors — aus dem Jahre 1629 datiertes Manuskript,
Archives de lEure (O).
Dubreuil, Gédéon: »Gisors et ses environs: histoire, legendes« — Gisors und
seine Umgebung: Geschichte, Legenden — Paris, 1857 (O).
Goineau, Françoise: »Gisors: la ville et le baillage jusquâ la fin du
15e siecle« — Gisors, Stadt und Regentschaft bis zum Ende des
15. Jahrhunderts — Pontoise, 1939.
Hersan: »Histoire de Gisors«, Gisors, 1857 (O).
»Journal dun bourgeois de Gisoros: La Ligue dans le Vexin normand« —
Tagebuch eines Bürgers von Gisors: die Liga im normannischen Vexin
— Herausgegeben von H. Le Charpentier und A. Fitan, Paris, 1878.
Laborde, Leon de: »Gisors: documents inédits tirés des archives de léglise
Saint-Gervais« — Gisors: unveröffentlichte Dokumente aus den Archiven
der Kirche Saint-Gervais — Archäologische Jahrbücher,
Band IX, 1845.
Lasteyrie, R. de: »Quelques notes sur le château de Gisors« — Einige Anmerkungen
über die Burg von Gisors — Caen, 1901.
»Mémoire adressé par larchitecte de Gisors aux membres du corps législatif
pour justifier sa gestion« — Denkschrift des Architekten von Gisors
an die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft, um seine Amtsführung
zu rechtfertigen — Paris, Jahr X.
Motey, Vicomte du: »Robert II de Bellesme«, Alençon, 1923.
Nodier, Charles, Taylor H. und De Cailleux, A.: »Voyages pittoresques et
romantiques dans lancienne France« — Malerische und romantische
Reisen durch das alte Frankreich — Normandie, Band II, Paris,
1815—1830 (O).
Patte, Victor: »Histoire de Gisors«, Gisors, 1896.
Pepin, Eugene: »Gisors et la vallée de PEpte« — Gisors und das Tal der
Epte — Paris, 1939.
Regnier, Louis: »Les historiens de Gisors«, Pontoise, 1912. »Quelques notes
sur les monuments de Gisors« — Einige Anmerkungen über die Baudenkmäler
von Gisors — Gisors, 1909.
240
Einige klassische Werke über den Okkultismus
(Der Leser, der sich eine allgemeine Vorstellung über die Denkweise der
alten Okkultisten bilden möchte, um darin gemeinsame Züge zu finden,
kann leicht auf überaus phantasievolle Werke stoßen, die ihn von weiteren
Studien abhalten könnten. Um ihm die Arbeit zu erleichtern, führen wir
nachstehend eine sehr kurze Liste derjenigen Werke auf, die eine wertvolle
Einführung in die Sprache, die Symbole und die Verfahren der klassischen
Okkultisten geben.)
Abellio, Raymond: »La Bible, document chiffré« — Die Bibel, verschlüsseltes
Dokument — Paris, 1952, 2 Bände (sehr wichtiges Werk).
Boudier, Jules: »Symbolique maçonnique« — Symbolik der Freimaurer —
Paris, 1949.
Cadet de Gassicourt und Du Roure de Paulin: »Lhermétisme dans lart
héraldique« — Die Hermetik in der heraldischen Kunst — Paris,
1929.
Fulcanelli: »Demeures philosophales« — Alchimistische Stätten — Paris,
1959. »Le mystère des cathédrales« — Das Mysterium der Kathedralen,
Paris, 1930.
Marques-Rivière, Jean: »Histoire des doctrines ésotériques« — Geschichte
der esoterischen Lehren — Paris, 1940. (Allgemein verständliches
Werk.)
Piobb, P.: »Clef universelle des sciences secrètes« — Allgemeiner Schlüssel
der Geheimwissenschaften — Paris, 1951. (Wesentliches Lexikon,
kurz, bündig und wissenschaftlich, unentbehrlich zum Verständnis der
alten Texte.)
Wirth, Oswald: »Le tarot des ymagiers du Moyen Age« — Das Tarot der
Maler und Bildhauer des Mittelalters — Paris, 1927.
Dokumente
Archives Nationales: Manuskript JJ 106, Blatt 402.
Archives départementales de lEure: Manuskript G 701.
Archives départementales de la Seine-Maritime: Manuskript Y 14 (2).
Archives privées.
Geheimarchive des Vatikans: Regist. Aven. N° 48. Benedicti XX, Band I,
Blätter 448—451.
Bibliothèque Nationale: Griechische Manuskripte 1505 und 2511. Lateinisches
Manuskript 10 919, Blatt 84 und Rückseite.
Britisches Museum: Manuskript M. 33. Caligula, D. 111, Blatt 4.
Public Record Office »Exchequers Accounts« — Rechnungslegung des
Schatzamtes — (E 101). Rechnungsbericht von William Allington,
Oberschatzmeister der Normandie (1419 und 1422).
Norman Rolls (Aktenzeichen C 64). (Zahlreiche Unterlagen über die Organisation
der englischen Herrschaft in Gisors.)
Additional Charters (sechzig Urkunden, die Geschichte von Gisors betreffend).
Thory: Acta latomorum (Chronologie der Freimaurerei).
241
ANMERKUNGEN
Erster Teil
1a Exorzismus ist die Austreibung des Teufels oder bösen Geistes unter Anrufung
Gottes. In der katholischen Kirche empfängt jeder Geistliche die
Weihe als Exorzist.
Zweiter Teil
1b Hiermit ist der dritte der großen geistlichen und militärischen Orden
gemeint: die Deutschen Ordensritter, die auch in Polen saßen.
2. Der heilige Hieronymus verlegt die Verklärung Christi auf den Berg
Tabor. Wie Jakob in Bethel, sahen dort die auserwählten Apostel den
Himmel sich öffnen und Christus mit Moses und Elias sprechen.
3. Der heilige Cyrill verlegt die Bergpredigt auf den Hattin: »Ich bin
nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn ich sage euch
wahrlich: Bis daß Himmel und Erde vergehe, wird nicht vergehen der
kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis daß es alles geschehe.
« (Matthäus 5, 17—18)
4. In Sepphoris war der Stuhl erhalten, auf dem die Jungfrau Maria bei
der Verkündigung gesessen haben soll.
5. Die Sprüche Salomos, 11, 1.
6. Es gab auch die Schreibweise Gout oder Goth.
7. In Saint-Bertrand-de-Comminges kann man heute noch diesen seltsamen
Gegenstand sehen. Es ist der drei Meter lange Stoßzahn des Narwals,
auch Meereseinhorn genannt.
8. Manche behaupten, es habe sich um Guy, den Bruder des Dauphins der
Auvergne, gehandelt.
9. Masini, Il Sacro Arsenale, Overo pratico de Santo Officto. Wohlgemerkt
stellt dieses Werk keine Ausnahme dar. Sämtliche Handbücher der
Inquisition sind in der gleichen Tonart gehalten.
10. »Die Mißgeschicke, die das Auge des Horus erlitten hat, beschäftigten
die alten Ägypter sehr. Seine Wiedereinsetzung ist Gegenstand des Rituals
auf Grund zahlreicher Kommentare: bald wird er unter dem Namen
,Oudjat (,der Geheilte) zum eigentlichen Symbol des Opfers. Deshalb
übernimmt der Priester ganz natürlich die Rolle des jungen Horus.«
Jean Sainte-Fare Garnot, »La vie religieuse dans lancienne Egypte«.
Paris, 1948.
242
11. Osiris wird von seinem Bruder Seth angegriffen und fällt sterbend zu
Boden. Seth schließt den Leichnam in eine Kiste ein und wirft sie in
den Nil. Die Kiste wird von der Strömung fortgetragen und in Byblos
neben einem Tamariskenbaum an Land geschwemmt, in dessen Wurzeln
sie sich verfängt. Zusammen mit dem Baum, der um ihn herumgewachsen
ist, wird der Sarg in den königlichen Palast gebracht und fällt in
die Hände der Isis, die ihn in den Nilsümpfen birgt. Doch Seth entdeckt
bei einer nächtlichen Jagd den Leichnam des Osiris, zerstückelt
ihn und zerstreut seine Teile überallhin. Isis zieht nun aus, um sie zu
suchen, und findet sie auch. Sie läßt sich auf übernatürliche Weise von
ihrem toten Gatten befruchten und beerdigt diesen, unterstützt von
ihrer Schwägerin Nephtys. Die thebanischen Grabmäler zeigen die zwei
Frauen wehklagend zu beiden Seiten des Sarges. Isis bringt einen Gottessohn,
Horus, zur Welt, den sie mit liebevoller Sorge umgibt. Doch die
Witwe und der Waisenknabe werden getröstet, denn Osiris ersteht wieder
auf. Er wird zum Gott des Totenreiches und im weiteren Sinne des
Maßes: die Waage der Rechtschaffenheit wiegt die Herzen der Toten.
Isis wird dargestellt in weiße Schleier gekleidet, denn sie hat die Menschen
den Anbau von Flachs gelehrt und ihnen zugleich die Segel der
Schiffahrt gebracht. Auf dem Kopf trägt sie den Halbmond. Man stellt
sie auf einem Stuhl mit hoher Lehne sitzend dar (Katheder), denn das
Wort »Isis« bedeutet zugleich »Stuhl«. (J. Sainte-Fare Garnot, »La vie
religieuse dans lancienne Egypte«. Paris, 1948.)
Es ist festzuhalten, daß der Begriff des Stuhles sich für uns mit religiösen
Vorstellungen verbindet. Er gehört in die Begriffswelt der
Kirche, vom Heiligen Stuhl angefangen, auf dem der Papst »ex cathedra
« spricht, über die Kathedralen bis zu den primitivsten Kultstätten,
die man auf altfranzösisch »Stühle« nannte (Beispiel: die »Chaise-
Dieu«, Haute-Loire, bemerkenswerter Totentanz).
12. »Der Tempel ist nicht, wie die mohammedanische Moschee, ein Versammlungsort
zum allgemeinen Gebet, sondern wirklich das Haus Gottes,
um den Ausdruck der Heiligen Schrift zu gebrauchen ... Ursprünglich
existierte zwischen den Kultstätten und den Wohnsitzen der
Großen kein baulicher Unterschied. Doch bald wird die Anordnung der
Kultbauten komplizierter und unterschiedlicher... Man braucht weitgehend
unzerstörbare Gebäude. Große Bedeutung wird den Himmelsrichtungen
beigemessen. Im Bauplan zeigt sich das Bestreben, die
strenge Symmetrie der Mittellinie zu wahren. Die priesterliche Interpretation
des Bauplans verleiht den Tempeln kosmischen Charakter ...
Ein von zwei hohen Türmen flankiertes Portal führt auf einen offenen
Vorhof, der von Säulengängen umgeben ist. Daran schließen sich die
Säulenhallen an. Man betritt nun das Heiligtum der Barke, angestammtes
Fahrzeug des Gottes oder der Göttin — in Ägypten, wo
Transporte auf dem Wasserweg stattfinden, nicht anders zu erwarten.
Häufig enthält ein zweites Heiligtum den Schrein (naos), in dem das
Bild des Gottes oder der Göttin eingeschlossen ist.« (J. Sainte-Fare
Garnot, »La vie religieuse dans lancienne Egypte«. Paris, 1948.)
13. Schadius, De Dictls Germanis.
243
14. In sämtlichen alten Sprachen werden tatsächlich die Zahlen durch Buchstaben
bezeichnet (Beispiel: die römischen Ziffern); die eigentlichen Ziffern,
mit denen Dezimalstellen auszudrücken sind, wurden von den
Arabern eingeführt, sind also relativ neuen Datums. Die eigentliche
Algebra, das heißt das Wort wie der Begriff, stammt von dem arabischen
Mathematiker AI Chwarasmi, der im 10. Jahrhundert die Abhandlung
»AI Djebr za Mukabbala« schrieb.
15. Zum Beispiel bedeutet der 13. Buchstabe Mem die Zahl 40 und den
Begriff »Schuld«.
16. Die mittelalterlichen Kabbalisten waren sehr beeindruckt, als sie feststellten,
daß dies auf sämtliche zu ihrer Zeit bekannten Sprachen zutraf
(Griechisch: th-é-o-s, lateinisch: d-e-u-s, arabisch: A-l-l-ah, französisch:
d-i-e-u, deutsch: G-o-t-t. spanisch: d-i-o-s usw.).
17. Der ägyptische Ursprung der kabbalistischen Zahlenmystik unterliegt
keinem Zweifel. Die Inschrift von Padamion, während der XXII. Dynastie
(10. Jahrhundert v. Chr.), ist so zu verstehen: »Ich bin 1, die 2
wird, 2, die 4 wird, 4, die 8 wird, und 1 danach.« Auch Pythagoras hat
diesen Denkprozeß vollzogen.
18. Beispiel: der geheime Wert GW von 5 ist 5 + (1 + 2 + 3 + 4) = 15
das heißt, verallgemeinert: GW = n (n + 1)
2
Über die Gesamtheit dieser Methode vgl. Raymond Abellio: La Bible,
document chiftré, Paris 1950, 2 Bände.
19. Die Kabbalisten behaupten, daß sich allein durch ihre Methode gewisse
Merkwürdigkeiten der Bibel erklären lassen, wie die Irrtümer bei
Namen und Zahlen. Zum Beispiel heißt im »Exodus« (2. Buch Moses, 3)
der Schwiegervater von Moses einmal Jethros, einmal Reguel. Im Evangelium
des Matthäus (1, 1—18) liest man, daß der Stammbaum Christi
3 mal 14 Glieder umfaßt, das heißt 42 Generationen seit Abraham. Der
aufmerksame Leser jedoch stellt bei Zusammenzählung nur 40 ohne
Jesus und 41 mit ihm fest. Man könnte noch zahlreiche weitere Beispiele
anführen.
20. »Nun sind die Stimme und der Name Sonne und Mond«, heißt es in
der »Genesis« des Simon Magus. Vgl. Hippolytos: Elenchos, édition
Wendland, VI, 13.
21. Serge Hutin, Les Gnostiques, Paris, Presses Universitaires de France.
22. Zwischen die vollkommene Welt der Gedanken und die sichtbare Welt
der Materie, die den Makel des Bösen und der Sünde trägt, schalten die
Gnostiker eine Reihe von ineinandergeschachtelten Zwischenwelten ein.
Diesen steht eine ganze Hierarchie von höheren geistigen Wesen vor:
Erzengel, Archonten, Gottheiten, unsichtbare Kräfte, Erzväter usw., die
eine Art Brücke zwischen dem Demiurg und dem Menschen bilden.
23. Ägypten wurde AI Chemia genannt: die schwarze Erde. Das ist der
Ursprung des Wortes Alchimie, später kurz Chemie. Man stellte Ägypten
in Gestalt eines flammenden Herzens dar.
24. Matila Ghyka, Le Nombre dOr. Paris, Gallimard, 1950, Band II.
25. Assas, Wächter, Plural Assacine. Es ist festzuhalten, daß die Nach244
kommen der Ismaeliten, die Wahhabiten, noch heute die Wächter für
die heilige Stadt Mekka stellen.
26. Die Papyri in den Museen von Leyden und Stockholm. Amon Re, der
Hauptgott von Theben, wurde in Gestalt eines Widders oder eines blau
bemalten Menschen dargestellt. Als Herzog Philipp der Gute von Burgund
im Jahre 1429 den Orden vom Goldenen Vlies stiftete, -wurde ein
lebendiger, blau bemalter Widder mit vergoldeten Hörnern vor ihm
her getragen (vgl. Baron de Reiffenberg, »Histoire de lOrdre de la
Toison dOr« — Geschichte des Ordens vom Goldenen Vlies — Brüssel,
1830).
27. Siehe 1.Buch Moses, 6, 4: »Es waren auch zu den Zeiten Tyrannen auf
Erden; denn da die Kinder Gottes zu den Töchtern der Menschen eingingen,
und sie ihnen Kinder gebaren, wurden daraus Gewaltige in der
Welt und berühmte Männer.«
28. Zum Beispiel die Herstellung von Purpurfarbe aus Muscheln, die den
Phöniziern bekannt war, oder in neuerer Zeit die Kunst der Glasmalerei
(Bourges).
29. Schwefel, Salz und Quecksilber bezeichnen hier nicht einfache chemische
Stoffe, sondern vielmehr die »der Weisen« oder »der Philosophen«. Sie
stellen Seele, Körper und Geist dar.
30. Dieser Auffassung ist noch Leibniz im 18. Jahrhundert.
31. Griechisch: Bapheus mete.
32. Buch Daniel, 6, 11—14.
33. Von dem griechischen argos, das heißt weiß.
34. Vgl. hierzu die zwei Werke von Fulcanelli »Le mystère des cathédrales
« — Das Mysterium der Kathedralen — und »Demeures philosophales
« — Alchimistische Stätten.
35. Nicolas Flamel, geboren 1345 in Pontoise, heiratete 1368 Dame Perenella.
Er starb am 22. März 1417 in Paris und wurde in der Kirche
Saint-Jacques-la-Boucherie beigesetzt. Sein Grabstein steht jetzt im
Cluny-Museum. Zwei Pariser Straßen sind nach Nicolas und Perenella
Flamel benannt.
36. Aus dem Arabischen: AI Tannur.
37. Vgl. Dom Antoine Joseph Pernety »Dictionnaire mytho-hermétique« —
Mythisch-hermetisches Wörterbuch — Paris, 1787. Durch eines der bei
den Okkultisten beliebten Wortspiele wird diese Jagd manchmal auch
zur Jagd auf den fliehenden Leibeigenen, den Menschen (französisch
»cerf« = Hirsch, »serf« = Leibeigener). Ein »La chasse du cerf des
cerfs« — Die Jagd auf den Hirsch der Hirsche — betitelter mittelalterlicher
Text war eine durchsichtige Schmähschrift gegen den Papst, den
»Diener der Diener Gottes« (servus servorum).
38. Der berühmte Wandteppich »Die Dame mit dem Einhorn« (Cluny-
Museum) war Gegenstand ausführlicher alchimistischer Kommentare,
besonders von Fulcanelli.
39. Gran, altes Gewichtsmaß. 72 Gran = 4,32 Gramm.
40. Saint Vincent de Paul hat in einem Brief berichtet, wie er während
seiner Gefangenschaft die Öfen eines Alchimisten in Tunis heizte.
41. Das Halsband des Ordens zum Goldenen Vlies war aus »Feuerstahl und
245
Feuerstein« gemacht. Bereits bei Hesekiel, 28, steht: »Du bist ein reinliches
Siegel, voller Weisheit und aus der Maßen schön. Du bist im Lustgarten
Gottes .. . Du bist wie ein Cherub, der sich weit ausbreitet und
decket; und ich habe dich auf den heiligen Berg Gottes gesetzt, daß du
unter den feurigen Steinen wandelst.« (Gemeint ist der König von
Tyrus, der Nachfolger Hirams, des Verbündeten Salomons, der beim
Bau des Tempels von Jerusalem mitwirkte.)
42. »Dein Vater, König Nebukadnezar, setzte ihn über die Sternseher,
Weisen, Chaldäer und Wahrsager ...: nämlich Daniel, den der König
ließ Beltsazar nennen.« (Daniel, 5, 11 —12).
43. Der Berg Nebo trägt den Namen eines chaldäischen Gottes, Erfinder der
Wissenschaften und der Schrift, Schutzherr der Schriftgelehrten, analog
dem ägyptischen Thot-Hermes, dem »Götterboten«.
44. Beth-El, das heißt Gotteshaus. Nach dem 1. Buch Moses (28, 10—22)
hat hier der Traum Jakobs von der Himmelsleiter stattgefunden. Nach
der Spaltung zwischen Israel und Juda wurde Beth-El zum Sitz des
»Götzendienstes« um das »Goldene Kalb« (1. Buch der Könige, 13,
11—32). Darauf wurde es von den Propheten verflucht (Hosea, 10, 5 ff.).
Sie nennen es mitunter zum Hohn Beth-Aven, das heißt Haus des Nichts.
45. In Les Baux in der Provence findet am Heiligabend die Zeremonie der
sogenannten »pastrage« statt. Die Hirten gehen in die Mitternachtsmette
hinter einem Wagen, der von einem bebänderten Widder gezogen
wird. Darin ruht das neugeborene Lamm auf einem Teppich. Die
Herren von Les Baux behaupteten, von König Balthasar, einem der drei
Weisen aus dem Morgenland, abzustammen. Das Bauxit erhielt seinen
Namen nach den Steinbrüchen von Les Baux.
46. Entgegen der Behauptung mehrerer Historiker, er stamme aus Payns in
der Champagne, wurde Hugues de Payen (oder Pagan = Heide) am
9. Februar 1070 im Schloß von Mahun, Gemeinde Saint-Symphorien de
Mahun, Ardèche, geboren. Die Urkunde wurde 1897 wiederaufgefunden
(vgl. Esquieu, »Les Templiers de Cahors«, in Bulletin de la Société littéralre,
sclentifiqiie et artistique du Lot, 1898). Sein Vater trug den Beinamen
»der Maure« und stammte aus dem Quellgebiet des Allier.
47. Postume Werke des Grafen de Pagan: »Vie dHugues de Pagan, fondateur
de lOrdre du Temple« — Das Leben von Hugues de Pagan, Begründer
des Templerordens — Paris, 1691.
48. Etwas steht jedenfalls außer Zweifel: bis zur Renaissance hat die
katholische Kirche niemals die Wahrheit dieser Episode in Frage gestellt.
Ein Zeitgenosse der Päpstin, Anastasius, Bibliothekar im Vatikan,
trug sie als erster im »Liber pontificalis« ein. Vom 11. bis 13. Jahrhundert
wird sie in allen kirchlichen Chroniken erwähnt, so in Metz,
Erfurt, bei Martin von Polen usw. Im 14. und 15. Jahrhundert berichteten
zwei Historiker, die auf Anweisung des Papstes schrieben —
Amaury dAugier, Hauskaplan Urbans V., und Barthélémy Sacchi,
Bibliothekar von Sixtus IV. — die Geschichte der Päpstin in allen
Einzelheiten. Der heilige Antonius von Florenz, die Päpste Pius II. und
Hadrian IV., der Inquisitor Torquemada usw. bestätigen sie ebenfalls.
Alle hatten in Rom ein Standbild der Päpstin gesehen, die ihre Tochter
246
auf dem Arm trug. Es hatte die Inschrift: PPPPPP. Sixtus V. ließ es abreißen
und in den Tiber werfen. Launoi und der berühmte Mönch
Mabillon haben im Dom von Siena die Büste der Päpstin mit der
Inschrift »Johannes VIII., femina« gesehen. Clemens VIII. ließ sie durch
ein Porträt des Papstes Zacharias ersetzen. Schließlich wird die Päpstin
in den offiziellen Urkunden des Konzils von Konstanz erwähnt.
Johanna sei eine in Mainz geborene Engländerin gewesen. Sie soll in
Griechenland studiert und dann in Rom im Kloster des heiligen Martin
unterrichtet haben, wo der heilige Augustinus persönlich die sieben
freien Künste gelehrt hatte.
49. Etymologisch: derjenige, der vorneweg tanzt.
50. Dupuy »Histoire de la condemnation des Templiers« — Geschichte der
Verurteilung der Templer — Brüssel, 1713, S. 361.
51. Jules Michelet »Documents pour servir à lhistoire de France: le procès
des Templiers« — Dokumente zur Geschichte Frankreichs: der Prozeß
der Templer — Paris, 1841—1851, 2 Bände, Aussage vom 11. April 1208.
52. »Les Templiers«, Paris, éditions du Seuil, 1958, S. 57.
53. Michelet, s. Anm. 51, Aussage von Guido Delphini. Siehe auch die auf
Roncelin du Fos bezüglichen Urkunden in Abbe Galabert, »Les coutumes
de Lacapelle«, Bulletin historique et philologique du Lot, 1897.
54. Merkwürdigerweise muß man feststellen, daß die von den Historikern
aufgestellten Listen der Großmeister des Templerordens nicht miteinander
übereinstimmen und daß manche darauf vorkommende Namen
fiktiv wirken.
55. »Histoire générale de lArt« — Allgemeine Kunstgeschichte —Band I,
S. 308.
56. Matila Ghyka »Le Nombre dor: rites et rhythmes pythagoriciens dans
le développement de la civilisation occidentale« — Die Goldene Zahl:
pythagoreische Riten und Verse in der Entwicklung der abendländischen
Zivilisation — Paris, 1952, 2 Bände.
57. »Lésotérisme de quelques symboles géométriques« — Die Esoterik
einiger geometrischer Symbole — Paris, 1960.
58. »Dictionnaire darchitecture« — Lexikon der Architektur.
59. »Les origines religieuses et coopératives de la franc-maçonnerie« — Die
religiösen und kooperativen Ursprünge der Freimaurerei — Paris, 1953.
60. Diese Mitteilung gab Guillaume de Jerphanion am 19. März 1937 an
die »Académie des inscriptions et belles-lettres«.
61. Griechisches Manuskript 2511.
62. Siehe Anhang I. Ein magisches Zahlenquadrat befindet sich auch auf
dem berühmten Kupferstich von Albrecht Dürer »Melancholie«.
63. Teil CXXXIX.
64. »Le Courrier français«, 15. Januar 1833.
65. »Cest-â-dire«, Dezember 1960.
66. De Cabilone (Châlons-sur-Marne). Nicht zu verwechseln mit dem
Namen des Zeugen: Cathalaunensis (Chalons-sur-Saône).
67. Bibliothèque nationale, lateinisches Manuskript 10 919, Blatt 84 und
Rückseite.
247
Dritter Teil
68. Die korrekte Schreibweise ist MAXIMO und POSVERVNT.
69. Aus dem Gallischen Bei, Widder, und dem Lateinischen sinus, das
Innere einer Sache, das Geheimnis. Abelio soll ein gallischer Gott gewesen
sein. In seiner 1760 erschienenen »Description historique et
géographique de la Haute Normandie« — Historische und geographische
Beschreibung der Haute Normandie — schrieb der Benediktiner Dom
Du Plessis über das Wort Vexin: »In der Sprache der alten Gallier bedeutete
das Wort Bei Widder. Es ist bekannt, daß die Alten oft den
Gott Bei mit Jupiter Amnon verwechselten, den sie mit Widderhörnern
darstellten.« Bereits ein Jahrhundert zuvor hatte der Pfarrer Denyau in
seiner »Histoire polytique de Gisors« auf die Namen der benachbarten
Städte Montagny (Mons Agni, Lämmerberg), Mont Ouen (Mons
Ovium — Berg der Mutterschafe) usw. hingewiesen.
70. Und auch durch Wortspiel mit vexillum — Fahne.
71. Das gälische Wort Ullw — Feuer — ist die einzige bekannte Wurzel
sämtlicher Namen für Ulme, die auf Lateinisch ulmus, auf Skandinavisch
ulmr, auf Angelsächsisch und Altdeutsch elm, auf Irisch ailm
heißt usw.
72. Colin du Plessy »Legendes de lHistoire de France. La Journée de
Gisors« — Legenden aus der Geschichte Frankreichs.
73. Er heißt übrigens heute noch Place Baudoyer, abgeleitet von dem alten
Verb baudoyer, baudroyer, d. h. Leder bearbeiten, gerben (Domherr
Brochard »Saint-Gervais, Histoire de la paroisse dapres des documents
inédits« — Saint-Gervais, Geschichte der Gemeinde nach unveröffentlichten
Dokumenten — Paris, 1954).
74. Die Kapelle Saint-Eutrope. Bei aufmerksamer Beobachtung der Dachtraufenrohre
stellt man fest, daß eines umgekehrt angebracht ist und
dadurch die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es weist genau auf den
Eingang zu diesem unterirdischen Gewölbe hin. Im 17. Jahrhundert
bildete die Lage dieser Kapelle Gegenstand eines Prozesses zwischen
dem Klerus von Saint-Gervais und »dem Großprior des Temple«
(Urteilsbeschluß des Parlaments vom 6. und 24. Februar 1618, Archives
Nationales, 5070). Nun war aber der Templerorden offiziell seit über
dreihundert Jahren aufgehoben ...
75. Diese Liste erscheint in den »Acta Latomorum« von Thory, Paris, 1814.
76. Ulysse Robert »Vie du pape Calixtell.«, S. 197.
77. La ferme de Brémule, Gemeinde Gaillardbois (Eure) bei Ecouis.
78. Brochard, s. Anm. 73.
79. Im »Rolandslied« ist dieser Gottfried von Anjou Bannerträger Karls
des Großen.
80. Ober die Geschichte der Burg von Woodstock vgl. E. Marshall »Early
History of Woodstock Manor«, Oxford 1876.
81. Hie iacet in terra — Rosu Mundi non rosa munda —
non redolet sed ölet — quod redolere solet.
248
Der Geschichtsschreiber der Burg von Woodstock, E. Marshall, vermutet,
diese Inschrift beziehe sich auf alle Frauen namens Rosamond. Warum
findet sie sich dann ebenfalls auf dem Grab eines Domherrn im Kloster
Saint-Bertrand-de-Comminges, im Bistum des Einhorns, das Clemens V.
unterstand?
82. Siehe unter anderem den Panther auf der Grabsäule Tut-ench-Amuns
im Louvre, Paris.
83. Robert Viel »Les origines normandes du Blason« — Die normannischen
Ursprünge der Heraldik — 1958.
84. Siehe deren Abbildung in Fr. Sandford »Genealogical History of Kings
of England« — Genealogische Geschichte der Könige von England —
London 1677.
85. Michelet, siehe Anm. 51, Aussage vom 27. November 1309.
86. Michelet, s. o.
87. G. Lizerand »Le dossier de Paffaire des Templiers« — Das Dossier des
Templerfalles — Paris, 1923.
88. »Etüde sur les historiens du Vexin«, Mémoires de la Société historique
de Pontoise et du Vexin, Band VII, Jahrgang 1885, Seite 79.
89. Der Befehl ist im Britischen Museum in London unter der Bezeichnung
M 33, Caligula D 111, Blatt 4, zu besichtigen.
90. Catherine Bearle »Times and Lives of the Early Valois Queens« — Zeit
und Leben der ersten Königinnen aus dem Haus Valois— London, 1899.
91. Blanka von Navarra wurde im August 1350 Witwe. Sie hatte tatsächlich
eine Tochter — Johanna, genannt Blanka, die im Mai 1351 geboren
wurde und im September 1371 starb.
92. »Les douze clefs de la philosophie« — Die zwölf Schlüssel der Philosophie
— édition de E. Canseliet, Paris, 1960. Basilius Valentinus, Benediktinermönch
der Abtei St. Peter zu Erfurt, Erzbistum und Kurfürstentum
Mainz, lebte noch 1413. Es wird erzählt, man habe seine Manuskripte
ein Jahrhundert später in einer vom Blitz getroffenen Säule der
Abtei wiedergefunden.
93. L. N. Blangis »Le prisonnier de la tour de Gisors« — Der Gefangene im
Turm von Gisors — Elbeuf, 1873.
94. Rene Alleau »De la nature des symboles« — Über die Natur der Symbole
— Paris, 1958, S. 103.
95. Vgl. Baron de Reinffenberg »Histoire de lOrdre de la Toison dOr« —
Geschichte des Ordens vom Goldenen Vlies — Brüssel, 1840. Am Tag
der Ordensgründung in Brügge wurde unter den Gästen »ein völlig
lebendiger, blau bemalter Widder mit fein vergoldeten Hörnern« verteilt.
Der Orden berief 22 Generalkapitel ein und beendete dann seine
offizielle Existenz.
96. Ein englisches Manuskript aus dem 12. Jahrhundert, das in Oxford aufbewahrt
wird, zeigt Baumeister, die einen Astrolab benutzen. Im
Museum für Geschichte der Wissenschaften in Oxford ist ein Astrolab zu
besichtigen.
In dem Werk von A. C. Crombie »Medieval and Early Modern Science«
— Wissenschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit — Band I.,
5. bis 13. Jahrhundert (New York, 1959) finden sich sämtliche tech249
nische Daten über den Mechanismus des Astrolabs sowie über die Angaben,
die man mit ihm ermitteln konnte.
97. Blaiseau ist durch seinen Namen lArdent (der Feurige) als Feuer gekennzeichnet
und als verrückt, da er keinen Kopf hat. Ebenso wie er
tanzen die Irrlichter im Moor, um die Reisenden irrezuführen. Früher
wurden sie auch »Ardents« oder Gobelins genannt. Doch die Bezeichnung
Blaiseau für das Irrlicht konnten nur sehr gute Lateiner ersinnen,
denn Blaiseau bedeutet Feuer (blaserius — Brand) und zugleich verrückt
(blesus, von blatere — Dummheiten sagen). Es handelte sich also
ursprünglich nicht um eine Volkssage, sondern um eine von Gelehrten
in Umlauf gesetzte »Schlüssellegende«.
König Karl VI. verlor den Verstand beim sogenannten »Bal des Ardents
«, der — wie bekannt ist — im Schloß der Königin Blanka stattfand.
Es liegt in der Ebene »des Gobelins«, die an die Bièvre angrenzte.
Nach dieser Ebene hatte sich die berühmte Färberfamilie Gobelin genannt,
die dort wohnte.
Im Mittelalter gab es in Italien, in Neapel und Viterbo, eine Gelehrtengesellschaft
namens »Académie des Ardents«. Sie stand unter der
Schutzherrschaft der heiligen Rosa und hatte als Emblem einen roten
Schmelztiegel auf glühenden Kohlen.
98. Pierre Larousse »Grand dictionnaire universel«.
99. Diodoros von Sizilien berichtet, nachdem das Schiff Argo in einen
Sturm geraten war, sah man in den Haaren von Castor und Pollux
Flammen erscheinen, ein Zeichen für den Schutz der Götter. Danach
legte sich der Sturm.
Tatsächlich tauchen bei Gewitter häufig Irrlichter, Produkte der Reibungselektrizität,
auf Schiffsmasten auf. Die Seeleute nennen sie Castor
und Pollux.
Das »castor« genannte Tier, der Biber, hieß im Altfranzösischen
»bièvre« (skandinavisch bifr, englisch bever) aus dem Sanskrit bohbru
— der Rote. Aus dem Namen des Flusses Bièvre leitet sich die alte gallische
Stadt Bibracte ab, heute Mont-Beuvray, Morvan. Bibracte war
der Sitz des bedeutendsten Druidenkollegiums. Ausgrabungen haben
hier einen Schwan aus Bronze zutage gefördert, der aus der Zeit vor
dem Römereinfall stammt.
100. Das ist bei den Kirchen von Torpo und AI in Norwegen der Fall, über
die A. de Pennendreff schreibt: »Ihr Äußeres ist von den Schiffsbauten
inspiriert worden. Sie tauchen in den Ländern der Wikinger nach der
wundersamen Bekehrung des Piratenkönigs Olaf im 11. Jahrhundert
auf. Ihre reiche Ornamentik bringt uns das Wesen beinahe unbekannter
Glaubensformen nahe. Die Christianisierung der nordischen Stämme
ging so zögernd vor sich, daß diese christlichen Kirchen noch lange Zeit
mit den heidnischsten Skulpturen Europas verziert wurden.« (»Peintures
murales de Norvège« — Wandmalereien Norwegens — Jardin
des Arts, Oktober 1959).
101. »Sur le navire de Sutton Hoo« — Über das Schiff von Sutton Hoo —
vgl. Lady Wheeler »Les grandes aventures de larchéologie« — Die
großen Abenteuer der Archäologie — Paris, Laffont, 1960.
250
102. Als Geometrie wurde damals die Architektur bezeichnet. Der Ausdruck
findet sich in dem Skizzenbuch des Baumeisters Villard de Honnecourt
(13. Jahrhundert).
103. In der Heraldik heißt dieser Stern Strahl des Karfunkels. Nun ist Karfunkel
(von carbunculus — glühende Kohle) der alte Name für Granat.
Er erinnert durch seine rote Farbe an den Stein der Weisen. Ferner bezeichnet
der Strahl des Karfunkels einen Teil des Wappens, gironné genannt,
das heißt geheim, eine weitere Analogie zum Stein der Weisen.
Aus diesem Grund wird er auch hermetischer Stern genannt.
104. »Sur la fontaine de Vert-Bois« — Ober den Brunnen Vert-Bois — vgl.
Fulcanelli »Demeures philosophales«.
105. Auf griechischsinddie Initialen Jesu Christi I und X auch die Anfangsbuchstaben
des Wortes ίχδύς Fisch. Außerdem trat die Frühlingsnachtgleiche
ungefähr bei Christi Geburt vom Zeichen des Widders, in das
sie zur Zeit Abrahams getreten war, in das der Fische. In den römischen
Katakomben wird auf einem symbolischen Sgraffito ein Widderkopf
dargestellt, den eine Fischgräte verlängert.
106. Der Turm des Gefangenen, der Kerker Poulains, ist das genaue Äquivalent
des alchimistischen Ofens, des Turms, der das »Gefängnis des
Kükens« enthält. Die beiden französischen Worte »poulain« (Füllen)
und »poulet« (Küken) gehen auf das lateinische pullus (Junges) zurück,
ebenso puellus, das Knäblein, das Neugeborene.
107. Deshalb unterschiebt Nodier dem Gefangenen die Unterschrift Pontani.
Pontanus bedeutet nämlich Seemann. In seinem »Lettre dun philosophe
sur le secret du Grand OEuvre« — Brief eines Philosophen über das Geheimnis
des Großen Werkes — (La Haye, 1686) zitiert Rene Pierret
einen Pontanus neben Nicolas Flamel und Arnold von Villanova. Der
Verfasser der Inschrift in Gisors hat übrigens seine Buchstaben so gezeichnet,
daß man sowohl Poulain als auch Pontani lesen kann, um dadurch
seine Eigenschaft deutlicher kenntlich zu machen. Man sieht, daß
die U und die N mit demselben Zeichen || und die I und die T mit demselben
| gebildet sind.
108. Vor der Revolution gab es nicht weniger als einunddreißig Bruderschaften
in Gisors. Die älteste, Notre-Dame de la mi-août, stammt aus
dem Jahre 1360. In die Bruderschaft der Pèlerins de saint Jacques — sie
wurde im 15. Jahrhundert gegründet und ließ eine der Säulen errichten
— wurde man erst aufgenommen, wenn man die Pilgerfahrt nach
Santiago de Compostela gemacht hatte.
109. Siehe II. Buch der Chronik, 3, 15—17.
110. Verfassung von Anderson »Die alten Pflichten«. Zur Legende der Freimaurer
von Hiram sowie zum Ritual bei der Aufnahme in den Grad
des Meisters siehe J. Boucher »Le symbolisme maçonnique« — Der
Symbolismus der Freimaurerei — Paris, 1959.
111. Maria Lichtmeß, auch Reinigung der Jungfrau genannt. In seinem »Dictionnaire
mytho-hermétique« (Paris 1787) belehrt uns der Benediktiner
und Alchimist Dom Antoine-Joseph Pernety, »daß die Jungfrau der
Mond oder quecksilberhaltiges Wasser der Philosophen ist, nachdem es
von unreinem und arsenhaltigem Schwefel gereinigt wurde«.
251
112. »Histoire de Gisors«, 1896, Seite 203. Heute ist es unmöglich, die Runde
um diese interessante Säule auch nur einmal, geschweige denn mehrmals
zu machen, da eine Mauer errichtet wurde, die sie in ganzer Länge teilt.
113. Der heilige Nikolaus wird »Wundertäter« genannt, in England, Rußland
und Deutschland ebenfalls. In Deutschland gab man seinen Namen
(Nickel) dem Schutzpatron der Erzminen, daher auch die Bezeichnung
Nickel. Im Mittelalter griff der Minnesänger Jehan Bodel dArras in
seinem »Spiel von Sankt Nikolaus« auf die Überlieferung zurück, wonach
er die ihm anvertrauten Schätze hütet. Der Heilige wird auch
häufig mit drei goldenen Geldbeuteln (oder drei goldenen Äpfeln), die
auf einem Buch liegen, dargestellt, zur Erinnerung an die drei Geldbörsen,
die er einer jungen Prostituierten schenkte, um ihr die Hochzeit
zu ermöglichen. Sankt Nikolaus ist der Schutzpatron der Studenten und
Schüler, da er drei junge Studenten, die ein Fleischer mit dem Küchenmesser
zerstückelt und eingepökelt hatte, wieder auferweckte. Hierbei
handelt es sich um eine normannische Legende aus dem 13. Jahrhundert.
Ursprünglich waren es jedoch drei zu Unrecht verurteilte Offiziere, die
der Heilige dem Henker entriß, daher ist er auch Schutzpatron der
Gefangenen. Nach L. Réau (»Iconographie de lArt chrétien«) wurde
die ursprüngliche Legende aus folgendem Grund abgewandelt: »Im
Mittelalter werden die Gefangenen immer in einem in der Mitte geteilten
Turm dargestellt. Die drei gefangenen Offiziere, deren Kopf aus
einem kleinen Turm hervorsah, wurden für die drei in einen Zuber getauchten
Jungen gehalten, woraus dann die Phantasie des Volkes ein
Pökelfaß machte.« Schließlich ist Sankt Nikolaus Schutzpatron der
Seefahrer. Er schaffte auf wunderbare Weise eine Fracht von ägyptischem
Getreide, welche die Seeleute bei einem Schiffbruch verloren hatten,
wieder herbei (Glasfenster in Saint-Merri, Paris). Im Mittelalter
gab es einen Orden der Argonauten von Sankt Nikolaus. Andererseits
wird er häufig dargestellt, wie er einen Baum fällt (Museum in Wien,
Kirchen in Bulgarien und in der Bukowina, Kathedrale von Manresa in
Spanien).
Der heilige Claudius, Schutzpatron der Gerber, wurde im 7. Jahrhundert
in Salins geboren. Er hat etwas mit Sankt Nikolaus gemeinsam —
auch er erweckte drei Kinder wieder.
Man sieht, wie gelehrt der Bildhauer war, der die Säule der Lohgerber
geschaffen hat. Er hieß Nicolas Coulle.
114. Der heilige Hermes ist auch der Schutzpatron von Salzburg. Er ist dort
auf einer Hausorgel zu sehen, die der Komponist der »Zauberflöte«
betrachten konnte.
115. In mehreren alten Texten findet sich die Schreibweise Ethe.
116. Robert Denyau schrieb im Jahre 1629 eine »Histoire polytique de Gisors
«, die unveröffentlicht blieb. Nach seinem Tode wurde sie auf seinen
Wunsch dem Kloster der heiligen Dreieinigkeit der Stadt übergeben.
Es ist unbekannt, durch welche mysteriösen Umstände die Arbeit
zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts bei einem Orientalisten in
Hamburg landete, der sie den Archiven von Rouen hinterließ. Ebensowenig
weiß man, wieso der zweite Band, der sich mit der Kirche be252
faßte, aus diesen Archiven verschwunden ist. Ein Resümee dieses Bandes,
das sich »Histoire de la ville et de lantiquité de Gisors« betitelte,
wurde 1912 von dem Archäologen und Historiker Louis Passy gefunden.
Zur Zeit gehört er Privatleuten in Gisors, deren reichhaltige Bibliothek
jedoch den Forschern hartnäckig verschlossen bleibt. Das Wappen des
Pfarrers Denyau ist auf einem Glasfenster der Kirche abgebildet.
117. So wird beispielsweise durch Umstellung
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 II 12 13 14 15 16 17 18 19
O M A T E R D E I M E M E N T O M E I
zu
3 2 1 7 8 10 11 4 5 6 13 14 19 17 15 9 12 18 16
A M O D E M E T E R E N I M T I M E O
118. S. C. — Wahrscheinlich Sanctus Clarus (Heiliger Clarus).
119. E. de Clérambault »Les enceintes fortifiées: le donjon de Gisors« — Die
Festungsgürtel: der Wehrturm von Gisors — Beauvais, 1900.
120. Manuskript J. J. 106, Seite 406 und folgende.
121. Der Abt hat den Titel dieses Exemplars folgendermaßen bezeichnet:
»Anciennes remarques faites sur lhistoire de Gisors par le Sr. Denyau,
eure en lan 1660« — Alte Anmerkungen zur Geschichte von Gisors von
Herrn Denyau, Pfarrer im Jahre 1660. Das beweist, daß er die verschwundene
Arbeit Denyaus in Händen hatte und daß Alexandre Bourdet
bestimmte Auskünfte daraus bezog.
122. Hierzu vgl. »Paris-Normandie«, 25. März 1947.
123. Im Wald von Tronçais (Allier) wurde eine dieser Schwarzen Madonnen
in einer hohlen Eiche gefunden. Eine »Madonna zur Eiche« gibt es auch
in Dangu bei Gisors.
124. Hermetik. Von Hermes Trismegistos abgeleiteter Name der Alchimie.
Diese entstand auf dem Boden der Gnosis in Ägypten. Nach dem Verfall
Alexandriens wurde sie von den Arabern übernommen und weiter
entwickelt. Aus arabischen Quellen lernte sie das Abendland im 11. bis
12. Jahrhundert kennen. Ihre Hochblüte erlebte die Alchimie am Ausgang
des Mittelalters, wobei ihr ursprüngliches Wesen bereits vielfach
zugunsten einer magischen Ausdeutung zurücktrat. In dieser Zeit des
Niedergangs entstanden Hermetische Gesellschaften und Geheimbünde.
125. Sein Emblem war ein Rotes Kreuz, in dessen Mitte sich eine weiße
Rose befand. Seit dem Jahre 1188 soll der Orden dreizehn Mitglieder
gehabt haben, entsprechend der Zahl der Tierkreiszeichen. Der oberste
Meister, Nautonier genannt, nahm stets den Namen Johannes an. Der
erste habe sich Johannes II. genannt. Heute würden wir uns in der
XXI. Regierung des Johannes befinden.
126. Helix, Helis (aus dem Indogermanischen Wel), griechisch: Spirale,
Wendeltreppe.
127. Vorschriften für die Geistlichen, Grad des Komturs. Priorei von Zion.
128. Die Buchstaben wurden durch Benutzung des Quadrats aus drei erhalten.
129. Gédéon Dubreuil »Essai historique sur Gisors et ses environs« — Historischer
Essay über Gisors und seine Umgebung — Gisors, 1856.
INHALTSVERZEICHNIS
Erster Teil
DER ALTE MANN UND DIE ERDE
Ein Exorzist im Stall ……………………………… 11
Ein ruhiger Gärtner ……………………………….. 14
Die sagenhafte Krypta …………………………….. 18
Wehe den Siegern! ………………………………… 21
Zwei Mäzene und ein Maulwurf …………………… 24
Eine »Ariadne«, ein Labyrinth — und ein
Ariadnefaden ……………………………………. 28
Zweiter Teil
DAS DOPPELLEBEN DER TEMPLER
Neun Ritter bewachten ein Feld ………………….. 40
Das Schwert und der Schild ………………………. 44
Der Bruch ………………………………………… 48
Das Füllhorn ……………………………………… 54
Der Sturz ………………………………………….. 57
Der Prozeß ………………………………………... 65
Der Schatten eines Zweifels ……………………….. 76
Geologie der Götter ……………………………….. 80
Und auf diesen Felsen ……………………………... 91
Die wunderbaren Geheimnisse von Meister Roncelin 102
Der Baphomet …………………………………….. 113
Das Erbe ………………………………………….. 120
Der Schwank ……………………………………… 124
Und der Schatz? …………………………………… 132
Dritter Teil
DAS RÄTSEL VON GISORS
Verwandtschaft in Bild und Stein …………………. 146
Die Baumeister ……………………………………. 158
Die Liebhaber der Königin Blanka ………………… 175
Die Burg der drei Wagen …………………………... 180
Isis, du bist verborgen im Vexin …………………… 191
Und jetzt die Beweise ……………………………… 205
ANHANG,
BIBLIOGRAPHIE UND ANMERKUNGEN
Anhang I • Ansicht eines Hermetikers …………….. 215
Anhang II • Zeittafel ……………………………… 234
Bibliographie ……………………………………… 237
Anmerkungen …………………………………….. 241
TAFELVERZEICHNIS
Tafel I gegenüber Seite 32
Tafel II 33
Tafel III 48
Tafel IV 49
Tafel V 96
Tafel VI 97
Tafel VII 112
Tafel VIII 113
Tafel IX 148
Tafel X 149
Tafel XI 156
Tafel XII 157
Tafel XIII 192
Tafel XIV 193
Tafel XV 208
Tafel XVI 209votre commentaire
Suivre le flux RSS des articles de cette rubrique
Suivre le flux RSS des commentaires de cette rubrique